
Josua 3,5-11.17
Over Jordan | 1. Sonntag nach Epiphanias | 12.1.2025 | Jos 3, 5-11.17 | Nadja Papis |
Da stehen wir mitten in den Bergen, vor uns ein reissender Bach – Schutthügel, Steine, Baumstämme kreuz und quer. Von der Brücke auf dem Wander-App ist nur noch ein einsamer Pfosten vorhanden. Und jetzt? Umkehren und den ganzen Weg zurückgehen? Oder es wagen und einen Weg hinüber suchen?
Wir wagen es ein Stück weiter unten, wo grosse Felsblöcke den Wasserstrom verlangsamen. Vorsichtig hangeln wir uns Schritt für Schritt, Sprung für Sprung über das kaum mehr erkennbare Bachbett. Auf der anderen Seite angelangt, lassen wir uns in die Blumenwiese fallen und atmen durch. Die Anspannung löst sich, die Erleichterung lässt uns lachen. Von diesem Abenteuer werden wir im Ferienbericht sicher erzählen.
Das Volk Israel stand ebenfalls da – am Ufer des Jordans. Ein Zurück gab´s für sie nicht, sie waren, anders als wir Wanderleute, nicht zum Vergnügen unterwegs. Der beschwerliche Weg aus der Unterdrückung in Ägypten, die Jahre in der Wüste und nun das verheissene Land in Sichtweite. Aber da ist noch dieser Fluss, der Jordan. Ein breiter, gefährlicher Fluss, ein Hindernis, ja, eigentlich eine klare Grenze. Scheitern sie auf dem letzten Stück?
Nein, denn – so der Bibeltext – sie haben Gott auf ihrer Seite, symbolisiert in der Bundeslade, diesem Zeichen der göttlichen Präsenz inmitten des Volkes. Eine sichere Überquerung gelingt dank dieser Präsenz sogar trockenen Fusses.
Ich lese den Text in Josua 3, spüre diesem Gefühl nach: sicher drüben angekommen zu sein, ein unüberwindbares Hindernis zu überleben. Solche Erfahrungen bewegen. Und sie stärken. «Das kannst du nicht, du bist noch zu klein» und dann habe ich es doch geschafft! «Das geht nicht, schau doch» und dann ist es doch gegangen. «Vergiss es, das steht dir nicht zu» und dann habe ich es trotzdem genommen. Ja, da steckt Kraft drin, etwas Unbeugsames. Und Vertrauen. Ich habe keine Bundeslade mehr heute, aber die göttliche Präsenz, die spüre ich in meinem Leben. Die macht vieles möglich, was unmöglich scheint. Daran glaube ich. Und du?
Beim Lesen des Textes muss ich aber auch einiges ausblenden, zum Beispiel das Versprechen Gottes, die anderen Völker aus dem Weg zu räumen, mit denen sich das Volk Israel ums Land streiten muss. Das verheissene Land ist bereits bewohnt. In der aktuellen Situation verstört mich diese Zusage. Denn auch die Kanaanäer, die Hetiterinnen, all diese anderen Völker sind Menschen, die hier zuhause sind, ihre Kinder grossziehen und ihre Verstorbenen begraben. Schwierig. Ist Gott auf der Seite der Sieger? Auch heute? Und wer gewinnt denn überhaupt in einem Krieg? Mir scheint, es verlieren alle. Wenn ich an die vielen zivilen Opfer denke, an die von Bomben zerstörten Städte, an die überquellenden Flüchtlingslager… Meine Fragezeichen werden lauter und lauter.
Zurück zum Fluss. Der Jordan – das ist nicht nur ein Fluss, sondern auch ein Symbol. In vielen Spirituals und Gospelsongs kommt der Jordan als Symbol der Hoffnung vor. Wer den Jordan überquert, überschreitet eine Grenze. Die, welche es wagt, dieses Hindernis zu überwinden, wird belohnt mit dem, was uns verheissen ist. Sklaven und Sklavinnen lebten und leben auch heute noch in der schlimmstmöglichen Unterdrückung. Wer versklavt ist, gehört sich nicht selber. Kein Recht auf den eigenen Körper, kein Recht auf eine eigene Meinung, auf das Leben. Unvorstellbar und doch auch heute noch eine Realität. Der Tod – über dem Jordan – verspricht Befreiung aus einem solch unfreien Leben. Im Tod gewinnen versklavte Menschen alles, was die Sklaverei ihnen genommen hat: Freiheit, Ganzheit, Heimat, Heil. Wer würde sich nicht sehnen nach dem, was «over jordan» wartet?
Der Jordan wurde aber auch zur verschlüsselten Botschaft für den Fluchtweg aus der Sklaverei hier auf Erden. Nach dem Bürgerkrieg wagten viele Sklaven und Sklavinnen die gefährliche Überquerung des Mississippi, um in den Norden zu fliehen, wo die Sklaverei bereits abgeschafft war. Ein Wagnis, das sie alles kosten konnte.
Heute sind es Flüchtlinge, welche übers Mittelmeer alles riskieren, um bei uns anzukommen. Sie wissen nicht, dass sie den meisten unerwünscht sind, sie wissen nur, dass es hier besser ist, sicher, voller Wohlstand. Dafür brechen sie auf, nehmen die ungewisse Flucht in Kauf, meist bezahlt von allem, was die Familie hergeben konnte, in der Hoffnung, neu anfangen zu können.
Der Jordan steht also für das Hindernis, das es zu überwinden gibt, die Grenze, die von der Zusage trennt, von Freiheit, von Geborgenheit. Die Geschichte macht klar: Gott ist mit dir beim Überqueren des Jordans, auf dem Weg ins verheissene Land, in deinem Kampf für die Freiheit und für Gerechtigkeit. Kein Hindernis ist zu gefährlich, kein Fluss zu tief, wenn wir für Freiheit und Gerechtigkeit einstehen. Für mich kann es heute nicht mehr um Landeroberungen und Krieg gehen, sondern um eine gerechtere Welt für alle Menschen. Und so hoffnungslos mir das mit dem Blick auf diese Welt manchmal scheint, höre ich die Zusage: Over Jordan… Gesungen von all denen, die sich nach einer gerechteren Welt sehnen und dafür kämpfen, im Kleinen und im Grossen. «Over jordan» – da wartet, was uns verheissen ist. Und das Göttliche ist mit uns auf dem Weg dorthin.
Amen
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Pfrn. Nadja Papis
Langnau am Albis
Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.