
Lukas 10,38-42
Geschwisteraufstellungen | Estomihi | 02.03.2025| Predigt zu Lk 10,38-42| verfasst von Wolfgang Vögele|
Segensgruß
Der Predigttext für den Sonntag Estomihi steht Lk 10,38-42:
„Als sie aber weiterzogen, kam [Jesus] in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“
Liebe Gemeinde,
zur Vorbereitung der Predigt kamen mein Chatbot und ich schnell ins Gespräch. Ich fragte das digitale Gegenüber nach berühmten Geschwisterpaaren. Nach ein paar Sekunden tippte der Cursor die Antworten:
Gigi und Bella Hadid, berühmte Models.
Nie gehört.
Liam und Chris Hemsworth, berühmte Schauspieler.
Nie gehört.
Ashley und Elizabeth Olsen, berühmtes Zwillingspaar.
Nie gehört.
Zuletzt waren Serena und Venus Williams notiert.
Erleichtert seufzte ich auf, denn wenigstens wußte ich, daß beide als Tennisspielerinnen viele Grand Slam Siege errungen haben.
Liebe Konfirmanden, über die anderen drei Geschwisterpaare müßt ihr mich bitte nachher am Ausgang aufklären. Ich fragte meinen Chatbot weiter: Kannst Du mir Beispiele aus Literatur und Geschichte nennen?
Als nächstes erschienen die Stadtgründer-Zwillinge Romulus und Remus. Rom kroch aus dem Ei, die säugende Wölfin, das kannte ich aus dem Latein-Unterricht.
Dann Kain und Abel. Das biblische Brüderpaar hätte mir auch selbst einfallen können.
Dann Hänsel und Gretel aus Märchenwald und Knusperhäuschen.
Dann das doppelte Lottchen
Zuletzt Hanni und Nanni. Mit den beiden frechen Internatsmädchen kommen wir Maria und Marta schon näher. „Nanni ist eine ruhige Natur und die Vernünftigere“, sagt der Lexikonartikel über die beiden Schwestern, „Hanni dagegen ist wild, unbefangen und kann nie still sitzen. Zusammen mit ihren Mitschülerinnen und dem Internatspersonal erleben sie viele turbulente Abenteuer. (…) Trotz ständiger Rivalitäten und Probleme geht am Ende immer alles gut aus.“
Ich habe den Eindruck, auch die Beziehung zwischen Maria und Martha war von ständigen Rivalitäten belastet, auch dann, wenn Jesus nicht gerade zu Besuch kam. Beziehungen zwischen Geschwistern, egal ob Schwestern oder Brüder, sind häufig von Familienähnlichkeiten und kleinen Unterschieden geprägt.
Geschwister sehen nicht nur ähnlich aus, sie ticken auch ähnlich. Aber das ist nur die eine Seite. Gerade wegen der großen Ähnlichkeiten entstehen oft Rivalitäten, die über die Jahre hinweg in große Streitigkeiten ausarten können, aber nicht müssen. Aus kleinen Unterschieden erwachsen große Streitigkeiten – zumal wenn andere Frauen oder Männer mitspielen.
Entsprechend haben die Theologen diese kurze Geschichte ausgelegt. Es geht nicht um jugendliche Nickligkeiten, über die ältere Mädchen Jahrzehnte später beim Damenabend lächeln. Maria und Marta stehen in vielen Auslegungen für Frauen-Typen. Schon halb nonnenhaft meditiert diese Maria über Lehren Jesu und führt ein kontemplatives Leben ohne Hausarbeitsbelastung. Marta dagegen ist aktiv, kann nicht still sitzen und muß stets ihre Hände beschäftigen. Sie diente Jesus, sagt der Evangelist Lukas. Im griechischen Wort für Dienen steckt das, was wir heute Diakonie nennen. Heute meint das meist riesige Sozialkonzerne, die aber keinesfalls mit den pflegenden und dienenden Martas aus Jesu Lebenszeit zu verwechseln sind. Sie ist eher so ein Marta-Typ, sagte ein wenig herablassend der Pfarrer, mit dem ich über eine gemeinsame Bekannte, eine Frau aus der Gemeinde sprach.
Darin steckt ein Problem: Theologie und Auslegung haben in Jahrhunderten aus diesen beiden Frauen Muster, Typen und Klischees gemacht: die nachdenklich-fromme Maria und die praktisch-veranlagte Marta, in der protestantischen Version wöchentlich im Frauenkreis und im Alt des Kirchenchores sowie sonntags im Gottesdienst anwesend. Das zugehörige Milieu der evangelischen Kerngemeinde aber bröckelt schon seit langem.
In dieser Perspektive erscheinen Maria und Marta nicht als Menschen, sondern als Typen, eingeordnet ins fromme Milieu. Marta ist die untergeordnete Dienerin, die von selbst macht, was ihr in der Regel andere (Männer) sagen. Diejenigen, die typisieren, merken gar nicht, was sie ihr damit antun. Maria dagegen ist die fromme Frau, die lieber zuhört als tätig zu werden, weswegen sie häufig nicht so stark beachtet wird wie ihr nachhaltige herrschaftsfromme Schwester. Daß aus dem frommen Nachdenken auch Aufruhr und Engagement entstehen kann, wird häufig unterschlagen, gerade von denjenigen Auslegern, die ein Interesse an stabilen und gefestigten Verhältnissen haben, in denen Glaubenswachstum die Gemeindeverhältnisse nicht mehr zum Tanzen bringt. Kurzum: Glauben und Theologie kommen nicht mehr mit nur zwei Rollenbeschreibungen für Frauen zurecht. Und ähnliches gilt im übrigen auch für Männer. Die Frauenwelt läßt sich nicht mehr in Maria und Marta, die Mädchenwelt nicht mehr in Hanni und Nanni, die Männerwelt nicht mehr in Kain und Abel einteilen. Es ist viel komplizierter geworden. Menschen, Männer wie Frauen und Menschen, die sich dazwischen anordnen, erwarten keine Typisierungen und Schubladisierungen mehr, sondern Respekt für ihre Eigenheit, Würde und Individualität. Bei den Marias fängt es an: Um nur die ganz berühmten zu nennen, es gab die Kaiserin und Politikerin Maria Theresia, die Pädagogin Maria Montessori, die Sängerin Maria Callas und die Chemikerin Marie Curie. Alle Menschen, alle Christen haben ein Recht auf Respekt vor ihrem authentischen Auftreten, vor ihrer Persönlichkeit.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir alle, Männer wie Frauen, benutzen in unserem Denken und Reden bestimmte Typisierungen, Klischees, eingeschliffene Formulierungen, weil sie das Selbstverständliche abdecken. Typen und Klischees machen das Denken einfacher und es geht schneller. Aber es tut gut, gelegentlich auch das Selbstverständliche in Frage zu stellen. Deswegen meine theologische Werbung für den Respekt vor jeglicher menschlicher Individualität. Auch diese hat im übrigen ihren sozialen Preis. Denn je mehr sich Individualität verzweigt, desto schwieriger wird es, sich auf gemeinsame Positionen, Meinungen und Werte zu einigen. Die Wahlergebnisse zeigen das, aber noch mehr werden es die kommenden Koalitionsverhandlungen zeigen. Wir brauchen aber, in der Politik und gerade auch in den Gemeinden, die Einigung auf Werte und Identität, auf das, was die Menschen, die in ihr leben, miteinander trägt und verbindet.
Und darum lohnt es sich, nun doch einen genaueren Blick auf Maria und Marta zu werfen. Ich habe gerade absichtlich vom Blick und vom Sehen gesprochen, denn wie wenige Geschichten aus dem Evangelium haben die berühmtesten Maler diese Szene gemalt: Velazquez, Rembrandt, El Greco, Vermeer. Jesus sitzt an einem Tisch und redet, Maria zu seinen Füßen, lauschend, von der Seite kommt Maria dazu, in der Hand die Hilfsmittel der guten Hausfrau. Stets bilden die drei Personen eine stabile, geordnete geometrische Form: Dreieck, Pyramide oder Kreis. Dienen und Arbeiten, Hören und Meditieren, Reden und Verkündigen bilden eine Einheit, die auf das engste miteinander verbunden ist. Was beim Sehen dieser Bilder nicht deutlich wird, fällt beim Lesen oder Hören auf. Eigentlich ist hier an keiner Stelle von Gott, Theologie oder der Bibel die Rede. Die Geschichte bleibt im Alltag dieser drei Menschen. Marta kümmert sich auch um Abendessen und Abwasch, wenn keine Gäste am Tisch sitzen.
Worüber Maria zu Füßen Jesu oder auf Augenhöhe mit ihm nachgedacht hat, das bleibt völlig offen. Was Jesus gesagt hat, darüber verliert Lukas genauso wenig ein Wort. Die Leser können sich denken, daß er nichts anderes gesagt hat als sonst in den Geschichten des Evangeliums. Er wird über Gerechtigkeit, Barmherzigkeiten, Friedenstiften und das kommende Reich Gottes geredet haben. Aber das können die Leser nur indirekt erschließen. Und ich ermuntere Sie, liebe Brüder und Schwestern, am Nachmittag nach dem Sonntagsbraten (oder vegetarischen Auflauf) nachzulesen, welche Geschichten und Gleichnisse Lukas rund um die Maria-und-Marta-Geschehnisse herum erzählt.
Sicher ist bei Maria, daß sie zuhört. Und an diesem Punkt spüren wir plötzlich eine Gegenbewegung des Glaubens zu aller Individualisierung. Individualisten sagen: Ich muß mich selbst entdecken und verwirklichen. Ich muß ausgraben, was tief in mir drinnen steckt. Glaubende dagegen sagen: Ich muß auf das achten und dem vertrauen, was Gott mir zu sagen hat. Was das inhaltlich bedeutet, dafür haben wir einen Maßstab, den wir alle in den biblischen Geschichten finden. Nun redet auch die Bibel in verschiedenen Stimmen, in einem manchmal harmonischen, manchmal dissonanten Konzert. Auch Jesus war kein Solist, sondern eher ein Chorsänger und Ensemblemitglied.
In unserer dissonanten politischen und sozialen Situation finde ich es entscheidend, in der Gemeinde miteinander um das zu ringen, was wir gemeinsam tragen und für richtig halten können. Oft ist das keine einfache Aufgabe: Hören, Deuten und einen Konsens finden. In der Gemeinde scheint es mir entscheidend, nicht die Menschen in der Gemeinde bestimmten Typen und Klischees zuzuordnen, sondern die Aufgaben zu entdecken, denen wir uns gemeinsam widmen wollen. Diese Aufgaben stellen sich im übrigen nicht für die Gemeinde allein, sie stellen sich auch für die Gesellschaft als Ganze. Wie man besonders am vergangenen Wahlkampf sehen konnte, ziehen sich durch unser Zusammenleben immer mehr Risse, die ungeklärt bleiben und darum Angst machen, obwohl sie dringend bearbeitet werden müßten. Gemeinde braucht, um ihre biblische Mitte zu finden, Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten: Marta und Maria, Petrus und Johannes, Paulus und Giovanni, Eleni und Jonas, Günter und Marianne, Hildegard und Theodor, Ibrahim und Miguel, Kristiina und Oksana.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre all eure Herzen und alle ihre Sinne in Jesus Christus. Amen.
Nachbemerkung: Vor sechs Jahren habe ich schon einmal über diesen Bibeltext für die Göttinger Predigten im Internet gepredigt. Damals ging es noch mehr um die Verwandtschaft und Beziehung zwischen den beiden Schwestern. Die Predigt findet sich hier: Schwestern. Auch eine Liedpredigt. Predigt über Lk 10,38-42 zum Sonntag Estomihi 2019.
Die bildlichen Darstellungen der Maria-Marta-Geschichte lassen sich leicht über eine Google-Bildersuche abrufen.
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Prof. Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
wolfgangvoegele1@googlemail.com
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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).