Luthers „Magnificat“ (1520/21)

· by predigten · in 16. So. n. Trinitatis, Archiv, Beitragende, Deutsch, Kasus, Klaus Schwarzwäller, Maria, Predigten / Sermons, Predigtreihen / Predigtserien

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigtreihe „Maria“
16. Sonntag nach Trinitatis (8. Oktober 2000)
Luthers „Magnificat“ (1520/21)
Klaus Schwarzwäller


Vorbemerkung

Luther schrieb 1520/21 eine Auslegung jenes Lobgesangs, den Maria nach Lukas 1,46-55 aus Anlaß der Botschaft des Engels angestimmt habe, sie werde vom Heiligen Geist mit dem Messias schwanger werden. Dieser Lobgesang wird nach dem ersten Wort seiner lateinischen Fassung traditionell das »Magnificat« genannt. Wir wissen längst, daß das Magnificat ein Psalm ist, den Lukas hier eingefügt hat, als er gemäß den Regeln und Gesetzen der antiken Historiographie das Geschehen so beschrieb, daß das Gesamtbild einen auch in den Nuancen und Valeurs zutreffenden und angemessenen Eindruck der Ereignisse und Bedeutsamkeiten vermittelt. (Sehr vereinfacht und im modernen Jargon gesagt: Die antike Geschichtsschreibung war nicht sach-, sondern leserorientiert.) Insofern ist es auf der Ebene der Aussage nicht allein möglich, sondern auch geboten, diesen Psalm als Lobgesang der Maria aufzunehmen gleichsam als das Paradigma menschlicher Antwort auf Gottes überwältigendes großes Wunder.

Luther, aufgewachsen und theologisch gebildet im Zusammenhang der intensiven Marienfrömmigkeit seiner Zeit, sah sich bald vor der Aufgabe, die Stellung und Bedeutung der Gottesmutter theologisch zu klären und zu präzisieren. Mit der ganzen Christenheit (431 hatte man auf dem dritten Ökumenischen Konzil, zu Ephesus, formuliert, Maria sei nicht nur „Christusgebärerin“, sie sei vielmehr – da Christus von Anfang an wahrer Gott sei – „Gottesgebärerin“ [theotókos]) hielt er selbstverständlich daran fest, daß sie die Gottesmutter, ja wirklich Gottes Mutter sei. Was das bedeutet, was es ein- und was es ausschließt, entfaltet er zusammenhängend mit dieser Auslegung des Magnificat, die durch die Vorrede als zugleich politische Schrift erkennbar wird: Luther widmet sie Herzog Johann Friedrich von Sachsen, dem nachmaligen Kurfürsten, dem er dann zu dessen Amtsantritt mit seiner wohl wichtigsten Schrift zur sogenannten „Zwei-Reiche-Lehre“, der Auslegung von Psalm 101, 1534, auch einen Fürstenspiegel widmet.

In Luthers Auslegung des Magnificat, abgefaßt vor und nach dem Wormser Reichstag, kreuzen sich also verschiedene Ziele, Impulse und Gegenstandsbereiche. Ihre innere Ordnung hat diese Schrift, indem das Magnifiat Zeile um Zeile ausgelegt wird. Dabei ist die leitende Frage: Was ist es, das die Gottesmutter hier verkündigt? In dieser Frage steckt eine Grundentscheidung, die durch den Text in das Tat nahegelegt wird: Maria wird aufgefaßt als Verkündigerin, als Zeugin Gottes, seiner Gnade und seiner Wunder, also als in herausragender Weise von Gott erhobener Mensch, der aufgrund des Widerfahrenen Gott preist. Damit ist es gegeben, daß Maria selber eingezeichnet wird in den Zusammenhang der Aussagen, also daß sie gleichsam zur Kronzeugin ihres eigenen Lobgesangs wird. Es entsteht so durch Luthers Auslegung eine Marienpredigt im doppelten Sinn des Wortes: als Predigt ihres Lobgesangs und darin als Predigt der Maria selbst. Mit seiner Auslegung des Magnificat schreibt Luther eine genuine evangelische Marienpredigt.

Mir wurde die Aufgabe zuteil, diese Auslegung bzw. Marienpedigt für die Göttinger Predigten im Internet so zu bearbeiten, daß sie der Reihe der Marienpredigten gleichsam zur Einstimmung vorangestellt werden könne. Das stellte insbesondere vor zwei Schwierigkeiten.

Zum einen galt es, den Text auf 7 %, höchstens jedoch 10 % seines Umfangs zu kürzen, genauer gesagt: ihn also zu amputieren und bis auf Rudimente zu verstümmeln. Zwar heiligt der Zweck nicht die Mittel, doch scheint mir, daß das Ziel diesen Eingriff legitimiere. Ich bin nach langem Schwanken und Wägen so vorgegangen, daß ich die Passagen, in denen von Maria selbst die Rede ist, herausgezogen (also buchstäblich „perikopiert“) und aneinandergefügt habe, was natürlich Überleitungen, Angleichungen usf. ebenso erforderlich machte wie auch Umstellungen und innerhalb der Sätze kleinere Auslassungen. Insgesamt jedoch war ich bemüht, den Duktus der Auslegung Luthers möglichst zu wahren. Dabei ergab sich allerdings keine geschlossene Predigt im modernen Sinn, sondern eine Verbindung aus Homilie und Lehrpredigt. Mir erschien es als unangebracht, das in eine moderne, uns geläufige Form umzugießen.

Zum anderen galt es, den Wortlaut in heutiges Normaldeutsch zu transponieren. Wer einmal auf das Verlesen eines besonders gelungenen Bildes aus Luthers Feder hin dann auch bei mittleren Semestern von Studierenden der Theologie in leere Augen geblickt hat, hat insoweit nachhaltige Lektionen gelernt. Daß ich mir bei dem notwendigen Transponieren immer wieder nicht nur als Barbar, sondern schier wie ein geheimer Jünger der 75er Revisoren des Neuen Testaments vorkam, sei weder als Klage noch zu meiner Entlastung, sondern allein vermerkt, um anzudeuten, daß ich insoweit ganz gewiß nicht rasch und leicht mit meiner Aufgabe fertig wurde. Gerade weil – anders als eine Bibelübersetzung, die laut und solenn soll verlesen sowie meditiert werden (können) – ein Predigttext unmittelbar adressiert ist, darf er einerseits sprachlich nicht ablenken, denn er soll sofort eingehen, andererseits jedoch nicht platt sein, denn er soll nachschwingen. Die daraus erwachsenden Probleme sind hier besonders brennend, weil Luther ja wahrlich deutsch schrieb – und was für ein plastisches, gekonntes und unmittelbar ins Sprechen drängendes Deutsch, in dem jedes Wort „sitzt“!

Ich gebe ein Beispiel von der Aufgabe. Luther schreibt: „Siehe, wie rein trägt sie (sc. Maria) alle Dinge in Gott“ (BoA 2, 162,40.163, 1) Es geht nicht darum, ob das wohl „verständlich“ oder auch „verstehbar“ sei – was immer das heißen mag; es geht darum, daß damit Zusammenhänge, Konnotationen, Assoziationen, Vorstellungen, Horizonte aufgerufen werden – oder auch nicht. Und was wird in uns Heutigen beim einmaligen Hören oder Lesen insoweit wach? Es ist ja deutlich nichtunsere, es ist eine vergangene Welt und Sprache. (Es beginnt bereits mit dem ersten Wort: Wir sagen nicht „siehe“, wir sagen etwa: „Sieh her“ oder „Guck mal“ oder „Man bemerke“ oder „Notabene“ oder…) Ein anderes Beispiel: „Die Mutter Gottes lehrt es hier fast wohl“ (BoA 2, 164, 3). Das würde in wörtlicher Wiedergabe lauten: „Die Mutter Gottes lehrt es hier recht gut“, was den unangenehmen Klang herablassender Schulmeisterlichkeit erbrächte. – Hier ist nicht der Ort, Gründe und Kriterien der Entscheidungen zu diskutieren, auch nicht, um darzulegen, warum ich am Ende (nach einem langen Vormittag) geschrieben habe: „Man kann nur staunen, wie eindeutig sie wirklich alles Gott zuschreibt.“ und: „Die Mutter Gottes stellt’s uns vor die Augen.“ – Es ist mir nur darum zu tun, Art und Umfang dieser Aufgabe zu verdeutlichen (deren Lösungen in jedem Fall zu Fragen reichlich Anlaß geben!).

Der Hinweis mag nicht überflüssig sein, daß die ganze Auslegung Magnificat durch Luther bequem und in der unseren angeglichener Sprache zugänglich ist in den von Gerhard Ebeling herausgegebenen „Ausgewählten Schriften“ Luthers im Insel-Verlag (1982), dort in Band 2, S. 115-196.

Und Maria sprach:

Meine Seele erhebt den Herrn
Und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilands
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder
Denn er hat große Dinge an mir getan
Der da mächtig ist und dessen Name heilig ist
Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
Bei denen, die ihn fürchten
Er übt Gewalt mit seinem Arm
Und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
Und erhebt die Niedrigen
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
Und läßt die Reichen leer ausgehen
Er gedenkt der Barmherzigkeit
Und hilft seinem Diener Israel auf
Wie er geredet hat zu unsern Vätern
Abraham und seinem Samen in Ewigkeit*

* Unser Neues Testament in der Revision von 1985 schreibt „seinen Kindern“ und transponiert damit in unseren Sprachgebrauch. Der griechische Text schreibt „Samen“. Da Luther sich in seiner Auslegung auf „Samen“ bezieht, nehme ich hier die wörtliche Fassung.

Will man diesen heiligen Lobgesang angemessen verstehen, so ist darauf achtzuhaben, daß die hochgelobte Jungfrau Maria aus ihrer eigenen Erfahrung redet. Diese wurde ihr durch den Heiligen Geist geschenkt; er hat sie gelehrt und erleuchtet. Wie überhaupt niemand Gottes Wort zu verstehen vermag, dem es nicht vorher unmittelbar gegeben wurde durch den Heiligen Geist. Es vom Heiligen Geist empfangen aber heißt: es erfahren, es mit ihm versuchen und insgesamt es sich einziehen lassen. Durch diese Erfahrung belehrt der Heilige Geist; das ist seine spezielle Schule. Wer hier nicht lernt, empfängt nur leere Worte und Geschwätz.

Entsprechend belehrt uns auch die zarte Mutter Christi mit dem Beispiel ihrer Erfahrung und mit Worten, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll, zumal sie mit fröhlichem, beschwingtem Sinn sich hier rühmt und Gott lobt, daß er sie angesehen hat, obschon sie ohne Stand und Ansehen war. Und auch unter ihren Nachbarn und deren Töchtern war sie ein einfaches Mädchen, das das Vieh und den Haushalt versorgt, also nicht mehr als was man jetzt eine Hausmagd nennt, die im Hause zu tun hat, was man ihr zuweist.

Meine Seele erhebt den Herrn

Dieser Satz sprudelt hervor aus innerster Betroffenheit und überschwenglicher Freude, die sie in ihrer Seele ergriffen haben. Darum sagt sie: „Meine Seele erhebt Gott…“, als wollte sie sagen: Mein Leben und alle meine Sinne schweben in Gottes Liebe, Lob und Freude, und das so sehr, daß ich mehr erhoben werde, als daß ich mich selber zu Gottes Lob erhöbe. – Denn Gott wird nicht in seiner Natur von uns groß gemacht, sondern in unserer Erkenntnis und Empfindung: daß wir viel von ihm erwarten und von seiner Größe erfüllt sind, insbesondere von seiner Güte und Gnade. – Darum sagt die heilige Mutter nicht: Meine Stimme oder mein Mund noch meine Gedanken oder mein Wille erhebt den Herrn. Sie sagt vielmehr: Meine Seele macht ihn groß, das meint: Mein ganzes Leben, Wesen, Sinn und Kraft sind erfüllt von ihm, so daß sie wie verzückt sich emporgetragen fühlen in seinen gnädigen guten Willen. Dabei ist es wichtig, hier auf das letzte Wort zu merken: „Gott“. Denn Maria sagt gerade nicht: Meine Seele macht sich selber groß oder ist von sich selbst erfüllt. Sondern allein Gott erhebt sie; ihm allein gilt ihre Rede. Denn obgleich sie das überschwengliche Wunder Gottes in ihr wohl fühlte, war und blieb sie doch so gesinnt, daß sie sich nicht selber erhob. Sie war überhaupt nicht um sich selber bekümmert und hat es Gott überlassen, seine Güter auszuteilen. Sich selbst hat sie dabei lediglich als eine fröhliche Herberge und als gute Wirtin dieses hohen Gastes aufgefaßt; mehr nicht. Darum hat sie das alles auch ewig behalten.

Und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilands

Wie sehr ist hier der wundervolle reine Geist der Maria zu preisen, daß sie trotz überreicher Ehre sich nicht zu Überheblichkeit verführen läßt! Sie tut, als merke sie es nicht, geht ihren alltäglichen Weg wie zuvor auch und hat unverwandt nur die göttliche Güte im Sinn, die sie doch weder sieht noch spürt. Die Güter, die erfahrbar sind, gibt sie preis, sucht sie nicht zu gewinnen und ist nicht auf ihren Genuß aus, so daß sie wahrlich aus gutem, rechtem Grund singt: Mein Geist hat seine Freude in Gott, meinem Heiland. Genauer gesagt, ist es ein Geist, der nur im Glauben diese Freude erfährt und der auch nicht von solchen Gaben Gottes erfüllt ist, die sie spüren konnte, sondern von Gott allein, den sie nicht spürt. In ihm ist sie voller Freude als ihrem Heil; und sie erkennt ihn nur im Glauben.

Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder

Maria meint hier dies: Gott hat auf mich arme, verachtete, unansehnliche junge Frau geblickt und hätte wohl reiche, hohe, edle und mächtige Königinnen oder Fürsten- und Herrentöchter finden können. Er hätte etwa die Tochter des Hannas oder des Kaiphas finden können, die die Obersten im Lande waren. Aber er hat auf mich seine lauteren, gütigen Augen geworfen und eine so geringe und übersehene Magd für sein Wunder in Anspruch genommen, damit sich vor ihm niemand brüsten könne, er sei’s von sich aus würdig, sondern bekennen muß: Es ist lauter Gnade und Güte Gottes und nicht meine eigene Leistung oder Würdigkeit. Weil nun die zarte Jungfrau, von unansehnlicher Geburt und Stand, völlig unversehens zu dieser Ehre kam, daß Gott sie so über die Maßen gnädig angesehen hat, rühmt sie sich nicht ihrer Würdigkeit, aber auch nicht ihrer Unwürdigkeit. Sondern sie rühmt allein Gottes Hinblicken, das so überschwenglich gütig und gnadenvoll ist, daß er sogar eine solche niedrige Magd angesehen hat und sie so herrlich und ehrenvoll auch ansehen wollte. Darum tun ihr diejenigen unrecht, die da sagen, sie habe sich nicht ihrer Jungfräulichkeit, sondern ihrer Demut gerühmt: Sie hat sich weder ihrer Jungfräulichkeit noch ihrer Demut gerühmt, sondern einzig des gnadenvollen Hinsehens Gottes.

Die Jungfrau Maria ist also eine verachtete und geringe junge Frau ohne Ansehen gewesen, die so, wie sie war, Gott diente, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß ihre unansehnliche Stellung so groß angesehen wäre bei Gott. Damit sollen wir unsererseits getröstet werden, daß wir, auch wenn wir gern uns erniedrigen und verachten lassen sollen, darin doch nicht verzagen, als ob Gott uns zürne, sondern um so mehr hoffen, daß er uns gnädig sei.

Nachdem die Mutter Gottes ihren Gott und Heiland mit lauterem, reinem Geist gelobt und dabei von seinen Gaben abgesehen und gerade dadurch das rechte Lob seiner Güte verkündet hat, beginnt sie nunmehr – also danach! – auch seine Taten und Wohltaten zu loben. Denn man soll sich nicht auf Gottes Gaben stürzen und an sie klammern, sondern durch diese hinauf zu ihm selbst dringen, allein auf ihn blicken, sich von seiner Güte durchdringen lassen – und dann daraufhin auch sein Wirken und Schenken loben.

Das erste Werk Gottes an ihr bekennt Maria: Er hat sie angesehen. Daran hängt alles Weitere. Man achte auf die Worte: Sie sagt nicht, man werde ihr viel Gutes nachsagen, ihre Tugend preisen, ihre Jungfräulichkeit oder Demut rühmen oder womöglich ein Lied von ihrer Tat singen. Sie spricht vielmehr allein davon, daß Gott sie angesehen hat: das ist es, woraufhin man sagen wird, sie sei selig. Wahrlich, reiner kann man nicht die Ehre Gott allein geben: Sie zeigt auf sein Hinsehen; daraufhin werden sie alles Kindeskinder selig preisen. Darin wird nicht sie gelobt, sondern Gottes Gnade über ihr. Ja, sie wird verachtet und verachtet sich selbst, indem sie sagt, ihre Nichtigkeit sei von Gott angesehen worden.

Nur ungern hört sie die unnützen Schwätzer, die viel von ihrem Verdienst predigen und schreiben, womit sie doch nur die eigene große Kunst beweisen wollen und dabei nicht sehen, wie sie das Magnificat entleeren, die Mutter Gottes Lügen strafen und die Gnade Gottes verkleinern. Denn soviel man ihr Würdigkeit und Verdienst zuschreibt, so viel spricht man der Gnade Gottes ab und mindert die Wahrheit des Magnificat. Darum sind alle, die ihr so viel Lob und Ehre beilegen, nicht weit davon, daß sie einen Abgott aus ihr machen, gerade als hätte sie selber etwas dazu beigetragen, daß man sie ehrt und von ihr Gutes erwartet. Dabei will sie, daß Gott in ihr gelobt sei, und will durch sich jedermann zu unerschütterlichem Vertrauen in Gottes Gnade bringen.

Darum, wer sie recht ehren will, der muß sie vor und weit unter Gott stellen ohne allen Ruhm und ihre Nichtigkeit ansehen und daraufhin ins Staunen kommen über die überschwengliche Gnade Gottes, der ein so geringes, nichtiges Menschenwesen so voller Gnaden ansieht, umfängt und selig spricht, so daß du durch dieses Bild dazu bewegt wirst, deinerseits Gott zu lieben und zu loben, und dadurch gelockt wirst, von einem solchen Gott alles Gute zu erwarten. Was meinst du, könnte ihr Lieberes begegnen, als daß du durch sie auf diesem Weg zu Gott kommst und an ihr lernst, in Gott zu vertrauen und zu hoffen, auch wenn du verachtet und vernichtet wirst?

Zugleich auch, daß du lernst, dich vor all dem hohen Streben zu fürchten, das Menschen antreibt, wenn du siehst, daß Gott auch in seiner Mutter hohes Ansehen weder fand noch haben wollte. Aber die Meister, die uns die selige Jungfrau so malen und darstellen, daß nichts Verächtliches an ihr zu sehen ist, sondern nur Hoheit und Größe; was tun die anderes, als daß sie lediglich uns der Gottesmutter gegenüberstellen statt sie ihrerseits Gott? Damit machen sie uns schwach und verzagt und nehmen uns den Blick auf das trostreiche Gnadenbild. Denn nun bleibt kein Beispiel übrig, durch das wir uns trösten können, sondern sie wird über alle Beispiele erhoben. Und dabei sollte sie – und wollte sie auch gerne selbst –das herausragende Beispiel der Gnade Gottes sein, um alle Welt zur Zuversicht in Gottes Gnade und zu Liebe und Lob gegen ihn zu reizen, so daß alle Herzen durch sie die Erwartung gegen Gott finden, die mit aller Zuversicht sagt: O, du selige Jungfrau und Mutter Gottes! Wie hat uns Gott in dir einen so großen Trost erwiesen, weil er deine Unwürdigkeit und Nichtigkeit so voller Gnade angesehen hat. Dadurch werden wir ermahnt, er werde hinfort uns arme, nichtige Menschen, deinem Beispiel gleich, auch nicht verachten, sondern in Gnaden ansehen.

Denn er hat große Dinge an mir getan
Der da mächtig ist und dessen Name heilig ist

Wir lesen Genesis 25, daß Abraham den Kindern seiner Nebenfrauen Geschenke gab; aber Isaak, dem legitimen Sohn seiner Frau Sarah, gab er das ganze Erbe. Entsprechend will Gott, daß seine rechten Kinder ihren Trost nicht in seinen Gütern und Geschenken finden, sie seien wie groß auch immer und leiblich oder geistlich, sondern in seiner Gnade und in ihm selbst, ohne daß darüber seine Gaben gering geachtet würden.

Die großen Dinge sind hier nichts anderes, als daß sie Gottes Mutter geworden ist. Darin sind ihr so viele und große Güter gegeben worden, daß niemand sie begreifen kann. Denn hieraus folgt alle Ehre, alle Seligkeit sowie dies, daß sie im ganzen Menschengeschlecht einzigartig ist, über alle anderen hinaus, so daß ihr niemand gleicht: daß sie nämlich mit dem himmlischen Vater ein Kind, und zwar ein solches Kind hat, daß sie wegen seiner unausmeßlichen Größe sie selber außerstande ist, ihm einen Namen zu geben; sie muß es dabei belassen, daß die Worte aus ihr nur so hervorsprudeln. Darum hat man in einem einzigen Wort ihre ganze Ehre erfaßt: Indem man sie Gottes Mutter nennt. Niemand kann größeres von oder zu ihr sagen. Es will aber mit dem Herzen bedacht sein, was das sei: Gottes Mutter.

Sollte sie nun Mutter Gottes sein, mußte sie füglich eine Frau sein, eine Jungfrau aus dem Geschlecht Juda, und der Botschaft des Engels Glauben schenken, damit sie hierzu geeignet sei. Also ist ihre Würdigkeit zu dieser Mutterschaft nur die gewesen, daß sie zu ihr tauglich war und bestimmt wurde. So ist es lauter Gnade und keine Belohnung, auf daß man Gottes Gnade, Lob und Ehre nicht schmälert, indem man ihr zuviel zuschreibt. Es ist besser, ihr zuviel aberkannt als der Gnade Gottes. Ja, es ist gar nicht möglich, ihr zuviel abzusprechen, da sie doch aus nichts geschaffen ist wie alle Kreaturen. Gottes Gnade jedoch hat man rasch zuviel abgesprochen. Das ist gefährlich und erweist ihr keine Liebe. Man muß auch Maß halten und ihren Rang nicht überhöhen, etwa daß man sie Himmelskönigin nennt: Das ist zwar wahr, nur ist sie darin keine Nebengöttin, daß sie etwas gewähren oder schenken könnte, wie so viele meinen, die mehr sie als Gott anrufen und bei ihr Zuflucht suchen. Sie gibt gar nichts, sondern allein Gott, wie sie selber sagt: „….der da mächtig ist“.

Damit erkennt sie alle Macht und Kraft allen Kreaturen ab und schreibt sie allein Gott zu. O, das ist ein verwegener Raub, den hier eine so junges unbedeutende Frau wagt: Sie nimmt sich die Freiheit, mit einem einzigen Wort alle Mächtigen krank, alle Großartigen kraftlos, alle Weisen zu Narren und alle Berühmten zuschanden zu machen, indem sie allein dem einzigen Gott alle Macht, Wirksamkeit, Weisheit und Ruhm zuschreibt.

Das also ist hier die Meinung der heiligen Gottesmutter: „In allen diesen Dingen und großen Gütern liegt überhaupt nichts bei mir, sondern bei dem, der allein alle Dinge tut und allein seine Macht in allen ausübt. Der hat mir so Großes getan. Allein ihm gebühren Ehre und Name. Es ist unbillig, daß einer etwas bewirkt und ein anderer dadurch den Namen bekommt und sich ehren läßt. Ich bin nur die Werkstatt, in der er wirkt, aber ich habe nichts zu seinem Werk beigetragen. Darum soll auch mich niemand loben oder ehren dafür, daß ich Gottes Mutter geworden bin. Sondern Gott und sein Werk soll man in mir ehren und loben. Was mich betrifft, so ist es genug, daß man sich mit mir freut und mich selig dafür preist, daß Gott mich gebraucht hat, um dieses sein Werk in mir zu tun.“

Man kann nur staunen, wie eindeutig sie wirklich alles Gott zuschreibt und keinerlei Ehre und keinerlei Ruhm für sich selber beansprucht. Sie verhält sich vielmehr wie vorher auch, als sie eine durchschnittlich junge Frau war, fragt nicht plötzlich nach besonderem Ansehen, brüstet sich nicht, macht nichts von sich her, geht auch nicht damit hausieren, daß sie nun Gottes Mutter geworden sei, fordert keine Verehrung. Vielmehr macht sie weiter wie bisher, arbeitet im Haus, melkt die Kühe, kocht, wäscht die Schüsseln, kehrt und tut insgesamt, was eine Magd oder eine Hausfrau tun soll in ihrer Arbeit, die doch so wenig zählt, gerade so, als hätte Gott sie nicht so über die Maßen mit Gnade überhäuft.

Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
Bei denen, die ihn fürchten

Nun Maria von ihren und Gottes Gütern gesungen und Gott gelobt hat, geht sie die Werke Gottes insgesamt durch, die er bei allen Menschen wirkt, singt ihm auch von ihnen und lehrt uns so Handeln, Art, Wesen und Willen Gottes erkennen. Es haben viele hochgescheite Menschen und Philosophen ebenfalls sich hiermit abgemüht; sie hätten gerne erfaßt, was Gott wäre. Darüber haben sie viel geschrieben, der eine so, der andere so. Aber sie wurden darüber allesamt verblendet und haben keine wirkliche Einsicht gewonnen. Es ist ja auch das Höchste im Himmel und auf Erden, daß man Gott wahrhaft erkenne – wenn es denn jemand zuteil wird. Die Mutter Gottes stellt’s uns vor die Augen – wenn man sie nur verstehen will –, so wie sie‘s auch oben im Blick auf sich selbst durch ihr Verhalten tut. Wie aber könnte man Gott besser erkennen als aus seinen eigenen Taten? Wer sein Handeln erkennt, der wird sich auch im Blick auf sein Wesen, Willen, Herz und Sinn nicht täuschen. Durch diese vier Verse nun führt sie aus, was Gott tut, und malt dabei ein Bild von ihm, wie es besser nicht gemalt werden kann.

Er übt Gewalt mit seinem Arm
Und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn

Wie meisterlich trifft Maria mit ihrem Bild die hohlen Schaumschläger! Sie sieht ihnen nicht auf die Hände noch auf den Mund, sondern ins Herz und spricht die an, die in ihrem innersten Sinn überheblich sind. Damit hat sie insbesondere die Feinde von Gottes Wahrheit im Blick. Ach, die meinen es so herzlich gut, rufen Gott an und erbarmen sich des armen Herrn Jesus, daß er so unrecht tut und anmaßlich ist und nicht so fromm wie sie selbst…

Er stößt die Gewaltigen vom Thron
Und erhebt die Niedrigen
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
Und läßt die Reichen leer ausgehen
Er gedenkt der Barmherzigkeit
Und hilft seinem Diener Israel auf

Nach den Taten Gottes in ihr und unter allen Menschen kommt Maria wieder zurück zum Anfang und das zuerst Gesagte und schließt das Magnificat ab mit der allergrößten aller Großtaten Gottes, nämlich der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Sie verkündet hier, daß Gottes Tat an ihr nicht einfach ihr gilt, sondern daß sie geschah ganz Israel zugut und damit auch dem neuen Israel, der Christenheit, und somit der ganzen Welt. Sie bekennt damit offen, Magd und Dienerin der ganzen Welt zu sein.

Wie er geredet hat zu unsern Vätern
Abraham und seinem Samen in Ewigkeit

Hier ist es nun endgültig vorbei mit Verdienst und Ansprüchen vor Gott; statt dessen ist die Gnade und Barmherzigkeit Gottes herausgestellt: Denn Gott hat Israel nicht angenommen wegen irgendwelcher Leistungen, sondern allein um seines eigenen Versprechens willen. Aus lauter Gnade hat er sich gebunden und aus lauter Gnade sein Versprechen erfüllt. Diese Gnade und Zusage preist und rühmt hier nun auch die Mutter Gottes über alles und schreibt dieses Wunder der Menschwerdung Gottes allein dem gnädigen, unverdienten Versprechen Gottes zu, das er bereits Abraham gegeben hat.

Und das ist es, was hier die zarte Mutter das Samens Abrahams meint, indem sie sagt: Er hat Israel angenommen gemäß seinem Versprechen an Abraham und seine Nachkommen. Da erkannte sie klar, daß dieses Versprechen in ihr erfüllt war. Darum sagt sie, es sei jetzt erfüllt; Gott habe seinen Diener angenommen und seinem Wort entsprochen einzig, weil er an seine Barmherzigkeit dachte.

Dieser Same Abrahams aber durfte nicht auf natürliche Weise aus einem Mann und einer Frau hervorgehen. Denn jede normale Geburt geschieht unter Gottes Fluch über der Menschheit; was so entsteht, ist entsprechend fluchbeladen. Sollte nun in diesem Samen Abrahams alle Welt von diesem Fluch befreit und gesegnet werden, wie Gottes Versprechen zusagt, so mußte dieser Same von Anbeginn her diesem Fluch ganz und gar entnommen und gesegnet, ja an ihm selber Segen sein, „voller Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1,14). Sollte der Same nun andererseits gemäß dem Versprechen Gottes, der nicht lügen kann, Abrahams natürlicher Nachkomme sein, aus seinem Fleisch und Blut hervorgegangen, so mußte er ein natürlicher Mensch sein aus seinem Geschlecht. Natürliches Fleisch und Blut und doch nicht natürlich von einem Mann und einer Frau hervorgegangen: Das beißt sich.

Und nun Gottes unbegreifliches Wunder, wie er beides miteinander vereinigt hat! Er schenkt Abraham den Samen als einen natürlichen Sohn von seiner Tochter, der reinen Jungfrau Maria, durch den Heiligen Geist, ohne eines Mannes Zutun. Hier vollzog sich also keine natürliche Zeugung und Geburt, und so blieb dieser Same Abrahams unberührt von Gottes Fluch. Dennoch ist dieser Same zugleich ganz und gar natürlicher Same Abrahams wie nur irgend eines seiner Kinder. Das also ist der gesegnete Same Abrahams, in dem alle Welt von ihrem Fluch befreit wird. Wer an diesen Samen glaubt, ihn anruft, bekennt und bei ihm bleibt, dem ist aller Fluch vergeben und aller Segen geschenkt. Das ist, wie gesagt, der Same Abrahams. Er ist von keinem seiner Söhne, sondern allein von seiner einzigen Tochter Maria geboren worden.

Hier liegt der Grund des Evangeliums klar vor unseren Augen: warum in ihm alle Aussagen und Verkündigung zum Glauben an Christus und dem Schoß Abrahams führen. Denn es ist weder Rat noch Hilfe außer in diesem Glauben, in dem der gesegnete Same ergriffen wird. In der Tat hängt die ganze Bibel an diesem Versprechen Gottes, denn es geht alles um Christus in der Bibel.

Hier mag für heute der Schlußpunkt gesetzt werden. Laßt uns Gott bitten um das rechte Verständnis dieses Magnificat, daß es nicht nur leuchte und rede, sondern auch brenne und lebe bei uns in Leib und Seele. Das verleihe uns Christus durch Fürbitte und Willen seiner lieben Mutter Maria.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller, Göttingen
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net


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