
Johannes 19,17-22
INRI – Die Tafeln über Jesus und uns | Karfreitag | 18.04.2025 | Joh 19,17-22 | Hansjörg Biener |
17 Jesus trug sein Kreuz aus der Stadt hinaus
zu dem Ort, der »Schädelplatz« heißt,
auf Hebräisch Golgota.
18 Dort wurde Jesus gekreuzigt
und mit ihm noch zwei andere –
einer auf jeder Seite und Jesus in der Mitte.
19 Pilatus ließ ein Schild oben am Kreuz anbringen,
auf dem geschrieben stand:
»Jesus der Nazoräer, der König der Juden.«
20 Viele Juden lasen das Schild.
Denn der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde,
lag nahe bei der Stadt.
Die Inschrift war in hebräischer,
lateinischer und griechischer Sprache abgefasst.
21 Die führenden Priester des jüdischen Volkes
sagten zu Pilatus:
»Schreibe nicht: ›Der König der Juden‹,
sondern: ›Dieser Mann hat behauptet:
Ich bin der König der Juden.‹«
22 Pilatus erwiderte:
»Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.« (Basisbibel)
INRI – die Tafel einer unheiligen Allianz
Man kann fast hören, was Pilatus bei seiner Antwort denkt: „Jetzt muss aber Schluss sein!“ Er und die Leute, die da vor ihm standen, hatten eine Allianz gebildet. Pilatus, der römische Statthalter in Jerusalem, und sie, „die führenden Priester des jüdischen Volkes“. Das Opfer dieser Allianz, das wissen wir, war Jesus. Pilatus beseitigt mit dem „König der Juden“ [auch im Folgenden Anführungszeichen mitsprechen/anzeigen] eine mögliche Bedrohung der Römerherrschaft; die jüdische Priesterschaft beseitigt eine Bedrohung ihrer religiösen Autorität. Das Johannes-Evangelium erzählt, dass Pilatus Zweifel an der Schuld Jesu hatte. Am Ende kommt es aber nur auf das Ergebnis an. Nur die Römer konnten damals in Jerusalem ein Todesurteil verhängen, und Pilatus hat es bei Jesus getan.
Schon beim Vollzug zerfällt die Allianz. Sie wurde gebildet, weil man gemeinsame Interessen hatte. Das heißt auch: Die Allianz hält nur solange, wie man gemeinsame Interessen hat. Das wird gleich an der Tafel deutlich, die Pilatus über Jesus am Kreuz anbringen lässt: „Der König der Juden“. Das ist nicht nur der offizielle Grund für die Kreuzigung. Die Tafel ist auch eine Ansage an das ganze jüdische Volk, egal wie die Menschen zu Jesus gestanden haben:
„Schaut her: Von solcher Art sind eure Könige.
Und merkt euch: So sehen sie aus, wenn wir Römer mit ihnen fertig sind.“
Die Vorbeikommenden verstehen diese Demonstration der Macht und spüren die Provokation. Es dauert nicht lange, da sprechen die jüdischen Führer bei Pilatus vor:
„Schreibe nicht: ›Der König der Juden‹, sondern: ›Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.‹“
Das ist kein „kleiner, feiner“ Unterschied. Die neue Tafel würde deutlich unterscheiden zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In dem Sinn: „Gesagt hat er es. Gewesen ist er es nicht.“
Doch der römische Statthalter lässt die Hohepriester abblitzen: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Wo käme Pilatus denn hin? Soll er sich von Untertanen Roms vorschreiben lassen, was er schreiben darf und was nicht? Das geht gar nicht! So bleibt die Tafel hängen.
INRI – eine Tafel als Verhöhnung eines Menschen
„Der König der Juden“, die Tafel war eine Provokation gegen die Juden – und [!] eine Verhöhnung des Menschen unter der Tafel. Es ist kein Tod im Bett, umgeben von Ärzten und einem besorgten Hofstaat. Es ist auch kein Tod auf dem Schlachtfeld, der als heldenhaftes Ende eines großen Königs verherrlicht werden kann. Der Mensch, dessen Leben unter der Tafel INRI schwindet, stirbt nicht den Tod eines Königs. Es ist der Tod, den die Römer für erfolglose Aufrührer und ihre Anhänger vorsehen. Für seine Anhänger war Jesus kein politischer Aufrührer, sondern ein religiöser Führer. Wenn man von einem besonderen Anspruch reden wollte, so kam er bei Jesus nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Wort seiner Predigt.
Jesus ist in die Mühlen von Welt- und Standespolitik geraten. Er verschwindet hinter dem todeswürdigen Vorwurf „König der Juden“, als Mensch unsichtbar gemacht durch ein Todesurteil. Alles, was Jesus im Namen Gottes gesagt oder getan hat, spielt am Kreuz keine Rolle mehr. Am Kreuz ist er machtloses Opfer von Gewalt und Objekt einer Machtdemonstration. Der Prediger Gottes ist festgenagelt auf seine Menschlichkeit einfach nur ein sterbender Mensch. Für die [!] einen war es eine Tagesallianz. Aber für den [!] einen bedeutete sie den Tod.
Doch nicht ganz: Gott gibt diesem Tod eine Nachgeschichte. Die Auferstehung widerspricht dem Todesurteil des Pilatus und gibt Jesus recht. Mit Folgen! Heutzutage wird weltweit verkündigt, wozu Menschen fähig sind und wozu Gott.
INRI – Symbol vieler Verhöhnungen
Doch für ein „alles wieder gut“ ist es zu früh. Immer wieder sehen wir, was alles „nicht gut“ ist.
Immer noch schließen Mächtige unheilige Allianzen. Und ich kann nicht anders, als an die Ukraine zu denken, weil ich andere Allianzen, sagen wir z. B. zur Ausbeutung von Rohstoffvorkommen im Ost-Kongo, nicht genau genug kenne. [Und ich denke an 1938 und 1939. 1938 zwang das Münchner Abkommen die am Abkommen nicht beteiligte Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes. 1939 teilte der Hitler-Stalin-Pakt Osteuropa auf. Dass unheilige Allianzen nicht halten, wissen wir aus der Geschichte. 1938 waren Großbritannien und Frankreich vor Hitler zurückgewichen und hatten die Tschechoslowakei preisgegeben. 1939 waren sie mit Hitler-Deutschland im Krieg, weil Deutschland Polen überfallen hatte. 1939 paktierte die Sowjetunion mit Hitler, weil Stalin selber Gebiete in Polen und Osteuropa erobern wollte. 1941 fiel die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion ein.]
Die Politik ist nur das leichteste Beispiel, welches Unheil von unheiligen Allianzen heraufgeführt wird. Unheilige Allianzen werden auch in meiner Stadt geschlossen: auf Schulhöfen, wenn Kinder Kinder mobben, oder an Arbeitsplätzen, wenn Kollegen sich gegen jemanden verbünden. Leider stelle ich an mir fest: Auch als Beobachter kann man sich dem bösen Spiel nicht immer entziehen. Manchmal kann man ja verstehen, warum sich die Menschen dieses „Opfer“ ausgesucht haben. Manchmal ist man ja selbst genervt von dieser Person und kann Gründe anführen, warum man sich nicht einmischen mag. „Mancher ist eben ‚ungeschickt‘, ‚schwierig‘ oder ‚gestört‘.“ Sie hören sicher, wie ich hier unsichtbare Tafeln über den Opfern mitspreche.
Unheilige Allianzen im Großen und Kleinen, geschlossen auf ungewisse Dauer, geschlossen auf Kosten eines Opfers, ohne einen Grund, der positiv zusammenhält und auf eine gemeinsame Zukunft weist. Da haben die Leute recht, die wollen, dass Gott auf der Seite der Geschundenen steht und keinesfalls auch auf der Seite der Täter.
INRI – die Tafel über einem einzigartigen Geschehen
Aber: Nach dem Zeugnis der Bibel ist Jesus nicht nur der exemplarisch Leidende. Nehmen wir an, Jesus wäre nur ein Beispiel unter vielen. Dann kann man Jesus durch andere ersetzen, denen womöglich noch Entsetzlicheres widerfährt als ein Kreuzestod. Dann verschwindet Jesus nicht nur unter seiner INRI-Tafel, sondern hinter Tafeln, die für andere aufgehängt werden.
Die christliche Tradition hingegen schreibt dem Tod Jesu etwas Einmaliges zu, und das muss am Karfreitag mitgehört werden: Es ist ein Tod, dem eine Auferstehung von den Toten folgt. Das nimmt den Qualen der Kreuzigung nichts und macht sie nicht ungeschehen. Die Auferstehung ist aber eine Besonderheit, die man damals nicht erwartet hat. Sie war in der Antike kein alltägliches Ereignis, und sie ist es heute auch nicht. Deshalb haben wir Heutigen mit der Auferstehung ein Problem, aber den Damaligen nichts voraus.
Im Gegenteil. Die Heutigen können sich hinter „Naturgesetzen“ vor Jesus verstecken. Die Urgemeinde konnte das nicht. Sie hat im Licht der Auferstehung Deutungen für die Ereignisse von Karfreitag suchen müssen. Ich nenne die bekanntesten Deutungen der frühen Christenheit: Gestorben als Sühne für unsere Sünden. Das war den Menschen aus ihrem Alltag heraus verständlich. Man brachte damals in Israel Gott und außerhalb Israels allen möglichen Göttern Opfer. Loskauf von der Sklaverei der Sünde. Auch das verständlich. Die antiken Gesellschaften waren Sklavenhaltergesellschaften. Man kaufte und verkaufte Sklaven. Tatsächlich kennen wir so etwas noch heute, wenn Menschen entführt werden und die Entführer Lösegeld verlangen. Eine weitere Vorstellung: Befreiung von der Macht des Todes. Der Tod war damals sichtbarer als heute. Wie immer es die frühere Christenheit auch ausgedrückt hat, man hat eines sagen wollen: Das Kreuz und die Auferstehung Jesu waren und sind gut für uns.
INRI – eine von Gott umgeschriebene Tafel
Wir müssen die alten Bilder erklärt bekommen, doch bleibt unser Verstehen oft wie von Ferne. Bevor ich es einmal anders versuche, will ich trotzdem an die Kraft der ersten Botschaft erinnern. Es gibt Menschen, für die ist es ein neues Lebensfundament, dass sie Schuld am Kreuz ablegen konnten. Es gibt Menschen, die aus der Sklaverei von Süchten freigekauft wurden, und nur deshalb nicht zurückfallen, weil sie unter dem neuen Eigentümer Jesus leben. Es gibt Menschen, deren Leben so schwierig ist, dass die Hoffnung auf Gottes neue Welt sie nicht gänzlich verzweifeln lässt. Wenn jemand unter uns zu diesen Menschen gehört, dann halte er an der alten Botschaft fest. Egal welche Tafel am Ende von Menschen über einem Leben angebracht wird oder welche Tafel man selbst über seinem Leben anbringen müsste… Im Namen dessen, der die Tafel „König der Juden“ ans Kreuz genagelt bekam, wird von Gott hinzugesetzt: „Wo Schuld in der Vergangenheit, da Vergebung, wo schweres Leben heute, da ewiges Leben bei mir.“
Im Vergleich zu diesen machtvollen Botschaften bleibt mein folgendes Bild zurück. Ich beginne mit der Tafel am Kreuz: INRI – Jesus von Nazareth, König der Juden. Das war das Verbrechen, das Jesus ans Kreuz gebracht hat. Obwohl er, wie wir wissen, kein politischer König war, sondern höchstens ein König der Herzen. Und damit hatte Pilatus mit seinem Urteil Recht – „König“ – und Unrecht – politischer Herrscher. Den zu Unrecht gekreuzigten Jesus von Nazareth ruft die Auferstehung ins Leben zurück, in ein anderes Leben allerdings. Er lebt mindestens in den Erinnerungen seiner Anhänger weiter, weiter in der Botschaft und, die Bibel sagt auch, weiter in einer neuen Existenz bei Gott.
Das Todesurteil des Pilatus wurde aufgehoben, und ein anderes, inzwischen weltweites Königtum aufgerichtet. Auf diese Weise wird die Tafel des Pilatus umgeschrieben. „König“? Ja! Aber: Jesus ist nicht der „König der Juden“, den Menschen fertiggemacht haben. Jesus ist „der König der Herzen“ der Menschen, die ihm nachfolgen. Sein Reich ist größer geworden, als Pilatus sich hätte denken können. Und seine Herrschaft ruht nicht auf der äußeren Gewalt römischer Soldaten, sondern auf den inneren Einsichten, die Menschen durch das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu gewinnen, und den Erfahrungen, die sie auf diese Weise mit Gott und der Welt machen. Gott hat die Tafel INRI umgeschrieben, und mit der alten Christenheit will ich sagen: Das ist gut für uns.
INRI – und die Tafeln in unserem Leben
Aber wie? Dazu erinnere ich mich an Urteile, die ich im Lauf meines Lebens über Menschen gehört habe. Sie kennen solche Urteile bestimmt auch, wobei ich die anzüglichen oder sexistischen gleich weglasse. Sie müssen ja nur die Richtung des Gemeinten verstehen: „großes Maul und nichts dahinter“, „ein unangenehmer Mensch“, oder aus der Seelsorge „Ich habe alles falsch gemacht.“. Manche Urteile haben sich in meiner Erinnerung eingebrannt, weil das Urteile über Kollegen waren. Man hört da als Kollege gleich auch die Frage an sich selbst mit: „Ich kann nicht mehr, gib mir noch mehr“ über einen Workaholic. „Hält sich für mehr als er ist“ über jemanden, der unbedingt Karriere machen wollte. „Man hatte sich mehr von ihm erwartet“ über jemanden, der Karriere gemacht hatte, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Was wäre wohl das finale Urteil über mich oder auch etwas kleiner über mein Berufsweg? Ich bin froh, dass ich am Ende beides Gott anbefehlen kann.
Und das ist der Punkt: Am Beispiel Jesu kann man sehen, dass Gott sich das letzte Urteil vorbehält. An den genannten Urteilen mag etwas dran sein, aber am Ende setzt es Gott zurecht. „König der Juden“, nein, aber „ein König der Herzen“. „Aus dem wird doch eh nichts“, vielleicht, aber Kleinster im Himmelreich ist immer noch besser als Größter in der Hölle, die sich Menschen auf dem Weg an die Spitze gegenseitig bereiten.
Mögen wir für den Alltag unseres Lebens aus der Tafel vom Kreuz zweierlei lernen. Uns selbst nicht hinter Tafeln und Urteilen verschwinden lassen, und auch nicht andere. Egal, was andere über Dich sagen oder auch Du selbst auf Deine Tafel schreibst.
(1) Keine Nachfolgerin Jesu soll sich sagen: Ich bin zu klein oder zu krank oder zu alt, um etwas mit Gott zu tun. Keiner soll sagen: Ich bin zu arm oder zu dumm oder zu unqualifiziert, um etwas für Gott zu tun. Keiner soll auch sagen: Ich bin zu unbedeutend oder zu schuldig, dass Gott etwas mit mir zu tun haben könnte. Vielmehr soll er oder sie sich sagen: Mit allem, was ich bin, bin ich wichtig für Gott. Und was immer mir für eine Tafel bevorstehen würde, Gott wird das Urteil zurechtrücken.
(2) Und kein Nachfolger Jesu soll über einen anderen Menschen sagen: „Der ist gestört.“, „Den können wir hier nicht gebrauchen.“, „Den wollen wir hier nicht leiden.“ Es mag so kommen, dass Gott diese Tafel gegen die Hochmütigen wendet und sich in seiner Ewigkeit eben doch mit Gestörten umgibt, mit solchen, die keine Spitzenkräfte waren, und mit denen, die zu leiden hatten, weil man sie nicht leiden konnte.
Amen.
Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)
Literaturhinweise
Kuhn, Heinz-Wolfgang: Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche, in: Theologische Realenzyklopädie Band 19 (1990=2010), S. 713-725.
Schnelle, Udo: Das Evangelium nach Johannes (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament; Band 4), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 5. Auflage (umfassende Neubearbeitung) 2016, S. 363-366 Die Kreuzigung Jesu 19,16b-22, bes. S. 365-355 Exkurs 16: Der Tod am Kreuz.
Stegemann, Ekkehard und Wolfgang: König Israels, nicht König der Juden? Jesus als König Israels im Johannesevangelium, in: Stegemann, Ekkehard (Hrsg.): Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart: Kohlhammer, 1993, S. 41-56.