Johannes 20,11-18

· by predigten · in 04) Johannes / John, Aktuelle (de), Archiv, Beitragende, Bibel, Deutsch, Kapitel 20 / Chapter 20, Kasus, Neues Testament, Ostersonntag, Predigten / Sermons, Thomas Muggli-Stokholm

Eine Begegnung mit kosmischen Folgen | Ostersonntag | 20. April 2025 | Joh 20,11-18 | Thomas Muggli-Stokholm |

Als Erstes versetze ich mich in Maria von Magdala und lasse sie berichten, was sie am Ostermorgen erlebt. Hören wir ihr zu:

Jesus, Rabbuni, mein Meister, war mein ein und alles. Ich gehörte zu seinen ersten Nachfolgerinnen und begleitete ihn in guten und schweren Zeiten. Die Tage nach seiner Verhaftung waren schrecklich. Fast alle Männer und Frauen, die beim letzten Mahl mit Jesus am Sederabend dabei waren und ihm ewige Treue schworen, machten sich aus dem Staub, als er verhaftet wurde. Zuletzt waren wir noch zu viert, die unter dem Kreuz ausharrten: Seine Mutter Maria und ihre Schwester, Johannes und ich. Ich höre immer noch die letzten Worte des Meisters: Es ist vollbracht. Dann starb er. Gar nichts war vollbracht. Im Gegenteil: Mit seinem Tod war alles aus. Vor mir gähnende Leere. Alles, wofür ich lebte, war dahin. Was sollte ich noch auf dieser Welt?

Dank reicher Sympathisanten konnten wir Jesus wenigstens ein würdiges Begräbnis bereiten: Josef von Arimatäa finanzierte ein Felsengrab im Garten bei Golgata. Nikodemus übernahm die Kosten für die Grabbeigaben. Mir war all das jedoch gleichgültig. Die Stunden nach dem Tod des Rabbuni verbrachte ich in dumpfer Verzweiflung. Gegen Ende der zweiten schlaflosen Nacht raffte ich mich aber dennoch auf. Ich wollte zum Grab gehen, nochmals Abschied nehmen, Jesus ein letztes Mal nahe sein, ihn berühren, bevor das Grab endgültig verschlossen würde. Als ich jedoch noch im Dunkeln beim Grab ankomme, sehe ich, dass der Stein weggerollt ist. Ich bin fassungslos: Jemand muss den Leichnam geraubt haben. Ich eile zurück in unser Versteck. Hier begegne ich Petrus und Johannes. Völlig ausser Atem kann ich nur stammeln: Jesus ist weg. Sie haben ihn aus dem Grab genommen. Kaum haben die beiden das gehört, laufen sie weg und lassen mich allein zurück. Alle anderen schlafen noch.

Ich weiss nicht mehr, was danach geschieht. Irgendwie muss ich zum Grab zurückgekehrt sein. Ich erinnere mich, wie ich dastehe und nur noch weinen kann, geschüttelt von Trauer und Verzweiflung. Im Weinen beuge ich mich ins Grab und traue meinen Augen nicht: Wie befürchtet ist der Leichnam von Jesus weg. Nur die Leinenbinden liegen da. Doch am Kopf- und Fussende stehen zwei weissgekleidete Gestalten. Während ich mich darüber wundere, höre ich ihre Frage: „Frau, was weinst du?“ Die Frage löst leise Hoffnung aus in mir. Vielleicht können mir die rätselhaften Gestalten weiterhelfen. So klage ich ihnen mein Leid. Irgendwie spüre ich zugleich, dass jemand hinter mir steht. Ich wende mich um und sehe einen Mann vor mir, der aussieht wie der Gärtner. Als er mir die gleiche Frage stellt wie die Gestalten im Grab: „Frau, was weinst du?“ packt mich Wut, und ich schleudere ihm entgegen: „Wenn du ihn weggetragen hast, sag mir gefälligst, wo du ihn hingelegt hast, damit ich ihn holen kann!“ Und ich drehe ihm demonstrativ den Rücken zu.

Da höre ich ihn sagen: „Maria!“ Mir ist, wie wenn in mir die Sonne aufginge. Ich wende mich wieder um und erkenne ihn: „Rabbuni – mein Meister!“ Schon will ich Jesus um den Hals fallen. Da sagt er mir: „Fass mich nicht an. Doch geh zu meinen Schwestern und Brüdern. Sag ihnen, dass ich hinaufgehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Noch bevor ich antworten kann, ist Jesus nicht mehr zu sehen. Zuerst bleibe ich starr stehen, fassungslos über die unerklärliche Begegnung. Dann ergreift mich tiefe Freude. Ich eile so schnell ich kann zurück in unser Versteck und erzähle den Jüngerinnen und Jüngern, was ich erlebt habe. Johannes will alles ganz genau wissen und fragt mehrmals nach, was Jesus mir gesagt hat. Die anderen hingegen sind alles andere als überzeugt von meinem Bericht. Ich höre Worte wie „Weibergeschwätz“ und „Irrsinn“. Erst nachdem sie selbst am gleichen Abend dem Auferstandenen begegnen, werden sich ihre Zweifel legen. Ich lasse mir meine Freude jedoch nicht nehmen. Und ich verstehe jetzt die letzten Worte von Jesus: „Es ist vollbracht“. Ja, der Rabbuni hat es vollbracht. Er hat die Welt mit seinem Vater versöhnt. Sein Vater ist unser Vater, sein Gott unser Gott.

Im zweiten Teil meiner Predigt gebe ich dem Evangelisten Johannes das Wort. Hören wir, was ihn beim Bericht der Ostererfahrung Marias leitete:

Ich möchte vorausschicken, was mich an Jesus, dem Sohn Gottes, ganz besonders fasziniert. Bei ihm kommen das winzig Kleine und das Grosse, Kosmische zusammen. Das mache ich bereits in der Einleitung zu meinem Evangelium deutlich. Das Wort Gottes, durch welches das ganze Universum erschaffen wird, dieses Wort wird Fleisch in Jesus, einem einzelnen Menschen. Darum ist es mir ein grosses Anliegen, die Menschlichkeit von Jesus herauszuheben: Er liebt die Seinen so leidenschaftlich, dass er ihnen sogar die Füsse wäscht. Er weint am Grab seines Freundes Lazarus. Er sorgt noch am Kreuz dafür, dass ich seinem Tod Maria, seiner Mutter, wie ihr Sohn beistehe. Gleichzeitig betone ich, dass sich genau in diesem Kleinen und Nahen der allmächtige Gott offenbart: Jesus spricht von Gott als seinem Vater. Wer ihn erkennt, erkennt den Vater. Und als Mitschöpfer der Welt ist er auch der Mit-Vollender. In diesem Sinn verstehe ich die letzten Worte am Kreuz: Es ist vollbracht. Das heisst zum einen: Der Mensch Jesus hat sein Ziel erreicht. Er hat seine Liebe durchgehalten bis in den Tod. Gleichzeitig bedeutet dieser Tod den Anfang der kosmischen Erneuerung, den Anfang der neuen Schöpfung nach Ostern. Darauf komme ich später nochmals. In Jesus kommen also das Grosse und das Kleine zusammen. Er ist genau darum der Retter der Welt, weil er von seinem Thron herabsteigt und sich dieser Welt bis zum Letzten ausliefert.

Diese Grundeinsicht leitet mich bei der Erzählung der Geschichte von Maria aus Magdala. Als sie am Ostermorgen noch im Dunkeln in unser Versteck kommt, ist sie total verzweifelt. Petrus und ich verstehen kaum, was sie uns, von Weinkrämpfen geschütttelt, zu erzählen versucht. Einige Stunden später erlebe ich sie wie neugeboren: Begeistert, von tiefer Freude erfüllt, doch mit klaren Worten, erzählt sie uns von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen und was er ihr gesagt hat. Der Weg Marias berührt mich, und er beschämt mich: Petrus und ich waren ja auch beim leeren Grab. Und ich meinerseits ahnte, dass etwas Grosses geschehen ist. Doch ich muss zugeben: Das ging mir nicht wirklich zu Herzen. Zu sehr war ich beschäftigt mit meinem Konkurrenzdenken, ob nun Petrus oder ich der Erste war, welcher das leere Grab erreichte. Dabei hatte Maria diese Frage ja eigentlich längst entschieden. Sie war die Erste und ihr ging es nicht um Verdienst und Ansehen, sondern um die Begegnung mit ihrem Meister. Ja, Maria lehrt mich, dass es das Grosse nicht ohne das Kleine gibt: Ostern als kosmischer Neubeginn, das ist ein attraktives theologisches Thema, bei welchem sich gescheite Menschen gegenseitig mit ausgeklügelten Erwägungen übertreffen können. Wahr und erfahrbar wird all das aber erst, wenn wir dem Auferstandenen persönlich begegnen, wenn der kosmische Christus zum Rabbuni wird, dem wir uns zuwenden, um zu sehen und zu hören, was er uns mitgibt auf unseren Weg. Diese Einsicht leitet mich beim Erzählen unserer Geschichte. Ich gebe Acht darauf, dass das Intime und nahe, das Maria uns erzählte, voll zum Tragen kommt. Zugleich versuche ich, die kosmische Bedeutung dieses Erlebnis subtil in meinen Bericht einzuflechten.

Ich weise auf ein paar Beispiele hin. Wer mich kennt, weiss, dass ich Freude an der Zahlensymbolik habe. So begegnet die eine Maria den zwei Engeln im leeren Grab. Die beiden stehen für die noch unversöhnte Polarität zwischen Tod und Leben, Mensch und Gott, Verzweiflung und Hoffnung. Dreimal muss Maria sich umwenden, bis diese Polarität überwunden ist und sie Jesus erkennt – den Gekreuzigten, der auferstanden ist. Drei ist die Zahl Gottes. Das Erkennen Maria ist nicht Menschenwerk, sondern göttliche Gnade. Es ist Jesus selbst, der Maria Schritt für Schritt aus der Verzweiflung zur Freude führt. Viermal erwähne ich, dass sie weint. Vier ist das Symbol der Vollzähligkeit. Die Begegnung mit dem Auferstandenen ist kein billiger Trost. Maria kann dem Rabbuni nur begegnen, weil sie den Schmerz und die Trauer voll und ganz zulässt und durchleidet. Der Auferstandene ist kein anderer als der Gekreuzigte. Will ich zum Osterglauben finden, muss ich mich der Einsicht stellen, dass meine Lage aus menschlicher Sicht hoffnungslos und verzweifelt ist.

Kommen wir zu einem Missverständnis, an welchem ich besonders grosse Freude habe: Maria verwechselt den Auferstandenen zuerst mit dem Gärtner. Diese Verwechslung hat es in sich. Im zweiten Schöpfungsbericht setzt Gott Adam in den Garten Eden, den er extra für ihn erschuf. Adam erhält den Auftrag, diesen Garten zusammen mit Eva zu bebauen und zu bewahren. Die beiden scheitern kläglich. Der Garten Eden geht durch ihren Ungehorsam verloren. Von jetzt an ist das menschliche Leben geprägt durch Mühsal und Beschwer, durch Gewalt und Unrecht, durch die Unterdrückung der Frau und die Distanz zu Gott.

Jesus ist der neue Adam: Er führt ein Leben in Gehorsam. Er versöhnt Gott und die Menschen und stellt den Garten Eden wieder her. Dass Maria Jesus mit dem Gärtner verwechselt, ist in dieser Sicht ein Schein-Irrtum. Jesus ist der wahre Gärtner, welcher die Harmonie der Welt wieder herstellt. Und irgendwie begreift Maria das schon beim ersten Sehen mit dem Kopf: So lasse ich sie den Gärtner mit „Herr“ ansprechen, mit „Kyrios“, dem wichtigsten Titel für Christus, den Erhöhten. Ich lasse also Maria unbewusst bekennen, dass der Gekreuzigte und Begrabene durch die Auferstehung zum Kyrios wird, zum Herrn der Welt. Wirklich zu Herzen geht ihr das aber erst, als der Kyrios sie mit „Maria“ anspricht. Er wendet sich ihr persönlich zu, nennt sie beim Namen und stellt so die Beziehung wieder her.

Es ist eine Frau, welche der Auferstandene als erste Namen nennt. Ostern bedeutet das Ende der Unterdrückung der Frau. Maria aus Magdala wird zur neuen Eva, zur ersten Verkünderin der Osterhoffnung. Was sie zu verkündigen hat, tönt einfach: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.

Im Zusammenhang mit meinem ganzen Evangelium signalisieren diese Worte aber einen Quantensprung: „Vater“ ist die Gottesanrede von Jesus. Er spricht in meinem Evangelium gegen hundertmal von Gott als seinem Vater, vor seiner Auferstehung aber nie bezogen auf andere Menschen. Erst mit der Auferstehung wird der Vater von Jesus auch der Vater seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger. Weil Jesus die Welt mit Gott versöhnt, dürfen wir Gott unseren Vater nennen. Ein grossartiger Zuspruch, den Maria uns verschüchterten und verängstigten Jüngerinnen und Jüngern am Ostermorgen mitbringt! Ein Zuspruch, der es in sich hat. Wenn dieses „unser Vater“ nicht bloss ein Lippenbekenntnis bleiben soll, dann verändert es unser Leben total: Wir begegnen einander in der Liebe Gottes wie Geschwister. Wir folgen Jesus dem Gärtner und bebauen und bewahren die Schöpfung behutsam. Und wir setzen uns ein für eine Gesellschaft, in welcher Gleichberechtigung herrscht und die Würde des Einzelnen gewahrt bleibt. Das sind schöne Worte. Und die Gefahr ist gross, dass wir damit abheben in Lehren, die grossartig tönen und nichts an der Wirklichkeit verändern. Gerade darum ist mir die Geschichte von Maria so wichtig: Das Osterwunder beginnt ganz klein, damit, dass sich bei einer einzelnen Frau Verzweiflung in Hoffnung verwandelt. Im Blick auf die Macht und den Reichtum des alten Roms ist das gar nichts. Und doch setzt sich das Neue durch: Rom geht unter. Ein Reich löst das andere ab. Jesus Christus aber bleibt derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit.

Das möchte ich Euch auf den Weg geben, liebe Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts. Die Weltlage ist alles andere als ermutigend. Krieg und Gewalt sind allgegenwärtig. Die Zerstörung der Schöpfung schreitet voran. Der aber, welcher hinaufgegangen ist zu seinem Vater und zu unserem Vater, zu seinem Gott und zu unserem Gott. Der bleibt gegenwärtig. Er kommt uns nahe und spricht uns beim Namen an, wie seinerzeit Maria. Und er sendet uns in die Welt, um seine Vergebung, seinen Frieden und seine Neu-Schöpfung zu leben und zu verkündigen. Amen.


Thomas Muggli-Stokholm