
Johannes 10,11-16
Miserikordias Domini | 04.05.25 | Johannes 10,11-16 (dänische Perikopenordnung) | Von Jan Sievert Asmussen |
Der gute Hirte
“Aus den Augen, aus dem Sinn” – so spricht die Liebe nicht. Im Gegenteil: Wer liebt, wird nie fertig mit dem Geliebten. Deshalb kann man erleben, dass auch Verwitwete ihre Verstorbenen noch lieben. “Been there, seen that”: so spricht der Weltenbummler, dem jedes Reiseziel gleich gültig ist. Die Liebe sagt jedoch selbst über die Bank im bescheidenen Park mit Seeblick: “Dies ist mein Ort. Es ist mir nie langweilig hier”. Und geliebte Kinder, die in den Augen fremden, lieblosen Menschen unerzogen und unappetitlich erscheinen: In den Augen der Eltern sind sie einzigartig und wundervoll.
In der sogennten “Hirtenrede” im Evangelium des Johannes geht es um die gegenseitige Bindung zwischen Schafen und Hirte und um die tiefgehende und bedingungslose Liebe. Eigentlich hat der Kirchenvater Augustinus dieses am besten auf den Punkt gebracht: “Wenn jemand geliebt wird, wünscht man ihn näher, obwohl er ganz nah ist. Wenn jemand einen anderen Menschen liebt, wünscht er die Nähe dieses Menschen immerfort, was heißt: Er wünscht ihn immer nahe. Ist der Geliebte gefunden, ist die Suche keineswegs beendet. In der Liebe sucht man ständig nach den Geliebten”. Es gibt kaum Worte über die Wirklichkeit der Liebe, die rührender und treffender sind als diese. Sie bewahrheiten sich in lebenslangen Ehen, wo zwei Menschen ihre gegenseitige Neugier nie verlieren. Sie erinnern uns an die Bank im kleinen Park, wo die Spiegelung von Licht und Wolken jeden Tag jeden Tag verschieden ist und deshalb nie langweilig. Und sie zeigen sich in jenen Kindern, die jeden Tag das gleiche sagen und tun und doch jeden Tag von den Eltern mit Stolz und Verwunderung zu Herzen genommen werden.
So weit, so gut. Wir wissen sehr wohl, dass “die Liebe die größte ist”, wie Paulus sagt. Aber trifft das für Hirten zu? Ich meine: Können Tiere mit einem Gehirn wie eine halbe Avocado und nur einen Laut, Tiere ohne große Träume und mit dem Fluchttrieb als einziger Gemütsäußerung – können solche Tiere wirklich von einem Hirten geliebt werden? Stellt euch einen solchen Hirten vor: Ein junger Mann in blühender Jugend, den ganzen Sommer allein auf der Alm mit “määh” als dem einzigen Gesprächsthema?
Doch bevor wir uns den Hirten vornehmen, müssen wir überlegen, wie es den Schafen geht. Sie leben in den Tag in völliger Einfalt. Jedes Mal, wenn sie etwas Neues erblicken, die gleiche überraschte Neugier. Jedes Mal, wenn die Sonne aufgeht, der gleiche Schock. Jeder Mundvoll Grass die Entdeckung eines neuen Lieblingsgerichts. Schafe kennen kein Gestern oder Morgen, sind immer nur im jetzigen Augenblick. Ich könnte mich an vielen Tagen in einer solchen Existenz gut hineinträumen.
Aber jetzt zurück zum Hirten, zum guten Hirten. Er hat seinen Gegensatz in den Mietlingen, die jeden Tag ihren Job wechseln ohne Liebe und Bindung, ohne die Schafe zu achten. Was nämlich macht den guten Hirten gut? Es ist sein unendlich vertieftes Interesse an jedem einzelnen Schaf. Ein Schaf hinkt ein wenig. Ein Schaf hat ein Rinnsal am Auge. Ein Schaf hat eine Verletzung am Horn, ein Schaf kaut rechts herum und ein anderes links herum. Der gute Hirte weiß all das und wird nie fertig, Neues an seinen Tieren zu entdecken.
Dies ist der Punkt, wo der Realismus aus der Hirtenrede des Johannes verschwindet. Denn welcher Hirte ist wohl so? Wer vermag es, so viel Aufmerksamkeit zu schenken und so wenig zu empfangen? Eigentlich ist es ja so, dass wir meistens aus unserem Engagement eine Gegenleistung erwarten. Der eine Dienst ist einen anderen wert – oder jedenfalls erwarten man einen Dank für seine Mühe. Anerkennung, vielleicht sogar Ehre und Ruhm. Die Schafe jedoch – sie stehen nur und glotzen. Ihre kleinen Gehirne können nicht kapieren, was der Hirte für sie tut. Sie grasen, kauen und wiederkäuen.
Was der Hirte jedoch für sie tut, ist jenseits jeglichen Ermessens – keine Anerkennung kann sich mit seinem Einsatz messen. Der Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Hier verlässt der Evangelist die pastorale Idylle und setzt das Kreuz Christi aufs Feld mitten unter den Schafen. Christus lässt sein Leben, geht seinen Weg und wird am Kreuz erhöht. Aber so sehr Johannes es hier auf den Opfertod Christi abzielt: Eben das ländliche Hirtenbild hilft uns zu verstehen, was der Tod Christi für uns bedeutet. Er ist nämlich in dem Sinne ein guter Hirte, dass er ohne Gegenleistung, ohne unseren Dank, ohne unser Verständnis, ganz jenseits unseres Schafsverständnisses und unserer Schafserkenntnis die Last der Sünde und des Todes auf sich nimmt. Die Schafe werden gerettet, und der Hirte lässt sein Leben. Die Schafe kapieren es nicht. Wirksam ist es dennoch. Die Schafe tun nur eines: Sie suchen ihren Hirten, wollen mit ihm unentwegt zusammen sein. Mit dem Hirten, der ohne Unterlass dabeibleibt, sie und uns zu lieben. Amen.
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Pastor Jan Sievert Asmussen
DK-3520 Farum
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