Sprüche 8,22-36

· by predigten · in 20) Sprüche / Provers, Aktuelle (de), Altes Testament, Archiv, Beitragende, Bibel, Deutsch, Jubilate, Kapitel 08 / Chapter 08, Kasus, Predigten / Sermons, Verena Salvisberg

Weisheitlicher Jubel | Jubilate | 11.05.2025 | Spr 8,22-36 | Verena Salvisberg |

Jubilate! Jauchzt!

Der Name des heutigen Sonntags ist ein Befehl oder mindestens eine Aufforderung: Jubilate! Jubelt! Jauchzt!

Liebe Gemeinde,

wie kommt das bei Ihnen an? Etwas befremdlich, oder nicht? Jedenfalls nicht etwas, was wir alltäglich zu tun pflegen. Oder anders gefragt: wann haben Sie das letzte Mal gejubelt? Beim entscheidenden Tor Ihrer Lieblingsfussballmannschaft? Als Sie selber beim Jassen oder Mensch-ärgere-dich-nicht gewonnen haben? Wobei man da besser etwas vorsichtiger ist. Es soll ja Menschen geben, die nicht gerne verlieren.

Was soll also diese Aufforderung? Und was sollen wir mit ihr anfangen?

Ich will Gott loben, die ganze Welt,
und singen für seinen Namen!
Singen wir für Gott, die ganze Welt,
und tanzen wir mit Musik!
So haben wir vorhin zusammen mit dem Psalm 66 gebetet. Vielleicht ist ja das der Anlass für den Jubel. Ein ganz einfacher: Es ist Sonntag. Es ist Gottesdienst. Und da gehört der Jubel und das Gotteslob einfach dazu. Stimmen wir also ein: Jubilate!

Einerseits fällt uns das leicht. Die Natur grünt und blüht. Die Frühlingssonne lockt uns ins Freie. Vögel zwitschern und Bienen summen. Am Sonntag können wir ausruhen und aufatmen. Geh aus, mein Herz, und suche Freud…

Andererseits bleibt uns dieses Lob im Hals stecken. Schwere Nachrichten erreichen uns täglich, ja stündlich. Man kann die Augen nicht davor verschliessen. Kampf und Krieg zerreisst die Welt, einer drückt den andern nieder, so heisst es in einem anderen Lied.

Jubeln? Sollte man da nicht eher klagen und schreien? Oder verstummen?

Und heute ist ja auch noch Muttertag. Ist das, bitte sehr, etwa ein Anlass zum Jubeln? Dabei mag ich gar nicht in die Dauerkritik einstimmen: Einmal im Jahr Dank für all die Mühen und die Arbeit! Was ist mit den Vätern? Ist doch nur eine Geschäftemacherei. Der Tag mit dem höchsten Umsatz für den Blumenladen und das Restaurant. Oh ja, bei all diesen Vorbehalten ist was dran. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Muttertag – für mich war das schon immer ein Anlass, über die Mütter nachzudenken. Die Mütter, die wir haben. Die Mütter, die wir sind. Angefangen hat es mit meiner eigenen Mutter, die erzählt hat, wie sie und ihr Bruder in ihrer Kindheit jeweils am Samstag vor dem Muttertag vom Vater einen Zweifränkler in die Hand gedrückt bekamen, um für die Mutter ein Geranium zu kaufen. Irgendwie scheint ihre tiefe Abneigung gegen diese Blume und gegen den Muttertag aus diesem Kindheitstrauma zu kommen. Jedenfalls wurde uns Kindern vermittelt: «Komm mir ja nicht mit Muttertag!». Das stand allerdings in einer gewissen Spannung zu den Geschenken, die wir in der Schule gebastelt hatten und den Gedichten über die Mühen des Haushalts, waschen, kochen, putzen, fleissig auswendig gelernt. Die waren zwar schon damals falsch. Nie habe ich die Gleichung Mutter = Hausfrau verstanden. Aber wohin also nun mit diesen liebevoll in der Schule erstellten Werken, wenn unsere Mutter den Muttertag so hasste? Natürlich hat sie sich zusammengenommen und Freude gezeigt, uns zuliebe. Später war die Abneigung unserer Mutter gegen diesen Feiertag für uns Jugendliche ganz praktisch. Wir konnten den Muttertag ohne schlechtes Gewissen ignorieren.

Tatsächlich ist diese kleine Episode symptomatisch. Der Muttertag ist für einige Menschen ein schöner Tag, mit Besuch, Familienfeiern, fröhlichem Zusammensein. Für viele aber ist er verbunden mit Erwartungen, die nicht erfüllt werden, mit dem Gefühl, nicht zu genügen, mit schlechtem Gewissen, Peinlichkeiten, mit Mutterbildern, die niemals stimmen, mit Dankbarkeit, die nicht ausreicht, mit Eifersucht und Sehnsucht, Trauer und Enttäuschung.

Jubilate? Na ja, wohl eher auch nicht.

Vielleicht hat die Prägung des Sonntags mit dem Kirchenjahr zu tun. Wir befinden uns in einer besonderen Zeit, kommen von Ostern her, gehen auf Pfingsten zu.

Jubilate ist der Sonntag der Neuschöpfung: Erinnerung an die erste Schöpfungsgeschichte, Jubel über die Auferstehung als Neuschöpfung, Hoffnung auf den verheissenen neuen Himmel und die neue Erde.

So lautet die Beschreibung des Sonntags auf einer Webseite, auf der die einzelnen Sonntage des Kirchenjahrs und ihre Bedeutung erläutert werden[1].

Es geht um die Schöpfung. Die Entstehung allen Lebens. Um die Auferweckung aus dem Tod. Und um die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Die Verse aus den Sprüchen, die heute als Predigttext vorgesehen sind, geben dazu inspirierende Impulse. Zunächst sind sie recht ungewohnt. Von der Weisheit als Person ist hier die Rede, die als erstes Schöpfungswerk schon da war, bevor alles entstand und dabei war, als alles entstand. Hören Sie nun also diesen Hymnus auf die Frau Weisheit, die ganz nahe bei Gott Himmel und Erde verbindet und die Menschen zu einem Leben in Recht und Gerechtigkeit anleiten und anhalten kann. Sie lobt Gott und feiert seine Schöpfung.

Lesung aus der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache[2]. Die Weisheit spricht:

Die Ewige schuf mich, (die Weisheit), zu Beginn ihrer Wege, als Erstes all ihrer Werke von jeher. Gewoben wurde ich in der Vorzeit; zu Urbeginn, vor dem Anfang der Welt.

Bevor es das Urmeer gab, wurde ich geboren. Bevor die Quellen waren, von Wasser schwer.

Bevor die Berge verankert wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.

Noch hatte sie weder Erde noch Felder erschaffen oder den ersten Staub des Festlands.

Als sie den Himmel ausspannte, war ich dabei, als sie den Erdkreis auf dem Urmeer absteckte, als sie die Wolken oben befestigte, als die Quellen des Urmeers kräftig waren, als sie das Meer begrenzte, damit das Wasser ihren Befehl nicht überträte, als sie die Fundamente der Erde einsenkte: Da war ich der Liebling an ihrer Seite. Die Freude war ich Tag für Tag und spielte die ganze Zeit vor ihr.

Ich spielte auf ihrer Erde und hatte meine Freude an den Menschen.

Nun, Töchter und Söhne, hört auf mich: Glücklich können sich alle schätzen, die auf meinen Wegen gehen. Hört auf die Ermahnungen und werdet weise; gebt nicht auf!

Glücklich können sich alle schätzen, die auf mich hören, die Tag für Tag meine Türen bewachen und meine Türpfosten hüten.

Denn wer mich findet, hat Leben gefunden und wird von der Ewigen Freude erhalten.

Wer mich verfehlt, fügt sich selbst Gewalt zu. Alle, die mich hassen, lieben den Tod.[3]

Stellen Sie sich das vor. Da ist ein Geschöpf, eine Frau, die sich in diesen Versen vorstellt. Sie erinnert sich, wie sie Gott zugeschaut hat bei der Erschaffung der Welt. Deshalb versteht sie etwas von Gott und von der Welt. Sie freut sich und sie spielt. Vielleicht hat sie noch mehr als zugeschaut. Kurt Marti hat sich das ganz konkret vorgestellt und erzählt wunderbar davon in seinem Gedicht: Die gesellige Gottheit[4]. Gott ist nicht allein tätig in einem einsamen Schöpfungsakt. Hören Sie, wie er sich das vorstellt. Sophia heisst die Weisheit hier:
Von Ur an

Gott in Geselligkeit,

Gott mit Sophia,

der Frau, der Weisheit,

geboren,

noch ehe alles begann.

Sie spielte

Vor dem Erschaffer,

umspielte, was er geschaffen,

und schlug, leicht hüpfend von Einfall zu Einfall, neue Erschaffungen vor:

Warum nicht einen anmutig gekurvten Raum?

Warum nicht Myriaden pfiffiger Moleküle?

Warum nicht schleierwehende Wirbel, Gase?

Oder Materie, schwebend, fliegend, rotierend?

So sei es, lachte Gott,

denn alles ist möglich,

doch muss auch Ordnung ins Ganze –

durch Schwerkraft zum Beispiel.

Dazu aber wünschte Sophia sich

ebensoviel Leichtigkeit.

Da ersann Gott die Zeit.

Und Sophia klatschte in die Hände.

Sophia tanzte, leicht wie die Zeit,

zum wilden melodischen Urknall ,

dem Wirbel, Bewegungen, Töne entsprangen,

Räume, Zukünfte, erste Vergangenheiten –

Der kosmische Tanz,

das sich freudig ausdehnende All.

Fröhlich streckte Sophia Gott die Arme entgegen.

Und Gott tanzte mit.

Die Weisheit – Sophia, die dabei ist, wenn alles entsteht. Die zuschaut. Die sogar Vorschläge macht für neue Erschaffungen. Wie wär’s mit einem gekrümmten Raum, mit Molekülen und Wirbeln? Mit Materie, schwebend, fliegend, rotierend? Usw.

Kurt Marti weiter:

Am Anfang also: Beziehung.

Am Anfang: Rhythmus.

Am Anfang: Geselligkeit.

Und weil Geselligkeit: Wort.

Und im Werk, das sie schuf,

suchte die gesellige Gottheit sich

neue Geselligkeiten.

Weder Berührungsängste

noch hierarchische Attitüden.

Eine Gottheit, die vibriert

vor Lust, vor Leben.

Die überspringen will

auf alles,

auf alle.

Dieses vibrierende Leben, das überspringen will auf alle und alles, wie wäre es, wenn wir uns davon anstecken liessen?Wie wäre es, wenn wir mal auf diese Weise auf das Mütter- und Vätersein schauten? Sind Mütter und Väter nicht auch wie Frau Weisheit Zeuginnen und Zeugen der Entstehung ihrer Kinder? Nicht genauso sehr wie Erschaffer:innen auch Beobachter:innen? Ist es nicht die Erfahrung jeder Mutterschaft, dass das Kind und seine Entwicklung nicht gemacht oder geplant werden können. Es geht um ein Mitgehen, ein Mitschwingen. Ein Annehmen der Entwicklung. Ein Aushalten der eigenen Grenzen. Ein Kind zur Welt zu bringen, bedeutet, eine ganze Welt zu gebären. Eine Welt, die sich nach und nach entfalten und entwickeln soll, die lachen und spielen, sich freuen und wundern und sich auch verlieren dürfen soll.

Wenn ein Kind geboren wird, kommen auch die Eltern auf die Welt, ebenfalls ein Universum für sich.

Jubilate ist der Sonntag der Neuschöpfung: Erinnerung an die erste Schöpfungsgeschichte, Jubel über die Auferstehung als Neuschöpfung, Hoffnung auf den verheissenen neuen Himmel und die neue Erde.

Anstelle der enttäuschten Erwartungen, anstelle des schlechten Gewissens dieses pulsierende, vibrierende Leben. Die Erinnerung wie alles entstand und sich entfaltete und entwickelte. Und das meine ich ganz konkret. Das erste Lächeln. Das erste Wort. Der erste Schritt. Die Tobsuchtsanfälle und die Kuschelstunden. Die Elterngespräche in der Schule. Streit und Versöhnung. Halten und Loslassen.

Erleben wie alles mit allem zusammenhängt und wie viel man aushält und übersteht.

Neuanfänge und nie die Hoffnung verlieren.

Der Muttertag in seiner heutigen Form wurde in der englischen und amerikanischen Frauenbewegung erfunden. Aus einer Mütterbewegung entstand der Mothers Friendships Day. An Treffen konnten sich Mütter zu aktuellen Fragen austauschen. Es wurde eine Friedenstag-Initiative gestartet. Sie hatte das Ziel, dass die Söhne nicht mehr in Kriegen geopfert werden sollen.

Das war vor über hundert Jahren und hat eine grausame Aktualität.

Hier noch einmal der eindringliche Appell der Frau Weisheit am Schluss des Predigttextes:

Nun, Töchter und Söhne, hört auf mich: Glücklich können sich alle schätzen, die auf meinen Wegen gehen. Hört auf die Ermahnungen und werdet weise; gebt nicht auf!

Glücklich können sich alle schätzen, die auf mich hören, die Tag für Tag meine Türen bewachen und meine Türpfosten hüten. Denn wer mich findet, hat Leben gefunden und wird von der Ewigen Freude erhalten. Wer mich verfehlt, fügt sich selbst Gewalt zu. Alle, die mich hassen, lieben den Tod.[5]

Die Frau Weisheit – nahe bei Gott und nahe bei den Menschen – erinnert an die Entstehung des Lebens. An die Überwindung des Todes in all seinen Formen und an die Hoffnung auf eine Welt des Friedens, in alle leben dürfen. Wer auf sie hört, erfreut sich an allem, das Leben schützt und bewahrt und ermöglicht. So wie es sich eben entfalten und entwickeln will. Vielleicht anders als wir uns das vorgestellt haben. Wie könnte das konkret aussehen?

Letzte Woche habe ich von einem eindrücklichen Projekt in Palästina gehört. Es gibt einen israelisch-palästinensischen Elternkreis Parents Circle Families Forum[6]. Dort treffen sich palästinensische und israelische Mütter und Väter, die im Krieg ein Kind verloren haben. Sie fühlen sich aufgehoben und verstanden in der geteilten Trauer um ihre Kinder. Sie treffen eine Wahl. Sie entscheiden sich gegen den Hass. Sie leben ein Mütter- und Vätersein, das sie sich so nie vorstellen wollten und konnten.

Auf der Webseite des PCFF stehen folgende Worte:

«Die vergangenen eineinhalb Jahre sind die härtesten, die wir erfahren haben. Der gegenwärtige Krieg hinterlässt Zerstörung, Schmerz und Verlust. Angesichts dieser harschen Realität ist es einfach, in Verzweiflung und Wut zu versinken und den Glauben zu verlieren. Aber genau jetzt, wenn die Finsternis und der Hass wachsen, treffen wir die Wahl, zusammenzustehen und nach aussen zu leuchten.»

Sind das nicht Menschen, die auf Frau Weisheit hören? Die sich erinnern, die sich am Leben orientieren und daran festhalten trotz des unendlichen Leids, das sie erfahren haben?

Die Freude über solches ist gross. Jubilate!

Amen


Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch, Merligen

E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Gemeindepfarrerin in Roggwil BE, Frick und Laufenburg, seit 2022 Regionalpfarrin der Berner Kirche im Kreis Berner Oberland/Oberes Emmental

[1] www.kirchenjahr-evangelisch.de

[2]  gelesen von einer Lektorin

[3] Spr 8, 22-36, aus: BiGS

[4] Aus: Kurt Marti, Die gesellige Gottheit, Radius 2004, S. 7f.

[5] Spr 8, 22-36, aus: BiGS

[6] www.theparentscircle.org/en/homepage-en/