
Freundesbrief Río Negro
Freundesbrief Río Negro | November 2002 | Reiner Kalmbach |
Liebe Freunde, liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Manchmal muss man sich zwingen Dinge zu erledigen die wichtig sind, für die man aber keine Zeit zu haben scheint… So geht es mir diesmal mit dem Freundesbrief. Am 31. Oktober ist nun das “Ultimatum” abgelaufen…, jetzt gibts kein zurück mehr, das lange “hin und her” ist vorbei. Das waren noch einmal schwere Monate und wir mussten mit uns selbst ringen: auf der einen Seite die katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage, eine Unsicherheit die mit jedem Tag zunimmt, Angst und Hoffnungslosigkeit die mit den Händen zu greifen ist…; aber da ist auch unsere Kirche die mittendrin steht in den Herausforderungen, während unser Südbezirk mit seinem “Gemeindeaufbauprojekt in der Diaspora” ein neues Kapitel aufschlägt. Man steht auf der Kanzel und predigt vom “hierbleiben und durchhalten”, den Jugendlichen will man Hoffnung geben: “…die Zukunft liegt in Euren Händen, Ihr dürft nicht das Handtuch werfen!”; und dann unsere Gemeinde die gespannt auf “die” Entscheidung wartete: “…meinen die es ernst mit der Solidarität und dem Auftrag der über jeder politischen und sozialen Situation steht…, oder packen sie bereits die Koffer…?”
Wir konnten (und durften) die Menschen hier nicht alleine lassen. Wie hätte ich auch jemals wieder glaubwürdig von einer Kanzel predigen können! Offiziell sind die Brücken abgebrochen, jetzt heisst es sich dem hier ganz und ungeschützt aussetzen…Wir wollen es wenigstens versuchen. Jetzt sind wir hier und hoffen, dass unsere Kinder diese Entscheidung verstehen (die ja mit der Vernunft nicht zu begründen ist). Und wir hoffen und beten, dass wir es lernen mit der neuen Situation zu leben und darin auch ein Stück weit Gottes Weg für uns erkennen dürfen. Wenn dies so ist, dann wird ER auch dafür sorgen, dass wir auf dieser Wanderung nicht straucheln. Deshalb ganz am Anfang des Briefes die Bitte: begleitet uns auch weiterhin mit Eurem Gebet und mit Euren Gaben! Der Kontakt mit dem Freundeskreis ist von jetzt ab für uns noch wichtiger!
Und wenn es schon einmal um den Freundeskreis geht, dann möchte ich auch gleich auf das Foto hinweissen: das ist unser neues Gemeindeauto, drei Monate alt und hat bereits 21.000 km. Herzlichen Dank an alle Spender!, herzlichen Dank an die Gustav-Adolf-Gruppe in Westfalen!, herzlichen Dank an die Blaubeurer! Die Hilfe kam schnell und spontan. Es ist ein “Peugeot Partner” (Diesel) und durch seinen geringen Verbrauch (5 ltr.) konnten wir die in den letzten Monaten enorm gestiegenen Treibstoffpreise (280%) etwas auffangen. Der Wechselkurs hat uns ebenfalls begünstigt, so dass uns der Wagen auf 12.000 € kam (vor der Abwertung im Januar kostete er über 20.000.-). Was hat sich ereignet in all diesen Monaten? Im letzten Freundesbrief hatte ich über unser Projekt berichtet, das ich während meiner Reise im März dieses Jahres, beim Oberkirchenrat in Stuttgart vorlegte. Es geht um den Aufbau der Gemeinden in unserer Diasporasituation. Unsere eigene Kirche wäre im Moment nicht in der Lage die Arbeit in den Südgemeinden zu finanzieren. Aber auf die Württemberger kann man sich verlassen! Wir sind sehr dankbar über die Zusage der Hilfe die aus Stuttgart kommen wird und die einen Gutteil der benötigten Mittel umfasst. Unser Projekt wurde, nach eingehender Prüfung, angenommen und am 1. Oktober haben wir das Programm “gestartet”. Die Kirchenleitung hat mich für drei Jahre zum Projektleiter ernannt (nachdem unsere Entscheidung bekannt war). Das heisst für mich natürlich sehr viel mehr Arbeit und sehr viel mehr reisen. Deshalb werde ich mich etwas aus der Altenheimarbeit zurückziehen. Wir hoffen, dass die Dorothea in die Heimleitung einsteigen kann.
Anfang Oktober hatten wir Besuch vom stellvertretenden Generalsekretär des GAW-Leipzig, Hans Schmidt. In drei Tagen bereisten wir sämtliche Gemeinden unseres Bezirks. Die Begegnungen und Gespräche waren sehr eindrücklich und wir hoffen, dass das GAW ebenfalls in unser Projekt einsteigt. Anschliessend fuhren wir gemeinsam zur Gesamtkirchensynode die vom 11. bis 13. Oktober in Buenos Aires abgehalten wurde.
Hier möchte ich einen kleinen Einschub machen: während meiner Deutschlandreise erhielt ich einen guten Einblick in die Arbeit des GAW (Gustav-Adolf-Werk) der verschiedenen Regionalgruppen. Mir fiel auf, dass dieses so wichtige Werk einen schweren Stand hat. Vor allem in den nördlichen Landeskirchen kämpfen die ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen buchstäblich gegen den Wind. Viele Kirchenmitglieder in Deutschland wissen schon gar nicht mehr, welche Aufgaben das GAW in den verschiedensten Diasporakirchen übernimmt; und offenbar wissen sie auch nicht, was es heisst als protestantische Minderheit in einem Land zu leben, in dem nahezu sämtliche Lebensbereiche, wie Kultur, Politik, Erziehung, Gesundheit, usw. auch heute noch von einer röm. katholischen Staatskirche dominiert sind. Das hat nichts mit einer “Anti-Ökumene” zu tun. Unsere Kirche hat eine lange ökumenische Tradition. Es geht ganz einfach ums “überleben” und um die Stärkung der protestantischen Werte. In unserer Kirche am Río de La Plata dürften ungefähr 90% aller Pfarrhäuser, 95% aller Gemeindefahrzeuge und viele der diakonischen Einrichtungen mit GAW- Geldern errichtet und angeschafft worden sein. Und dies gilt sicher auch für viele andere Kirchen in allen Teilen der Welt.
Jedes Jahr in der “Reformationswoche” führen wir Veranstaltungen ausserhalb der Gemeinde durch. Das ist nicht selbstverständlich! Zum ersten Mal erhielten wir sogar 30 Minuten Sendezeit in einem wichtigen Radiosender, um über die Reformation und ihre Konsequenzen für Politik, Wirtschaft und Kultur in Europa zu reden. Dabei wird immer wieder deutlich, wie wichtig es ist unsere eigentlichen protestantischen Werte miteinzubringen. Luthers “Freiheit des Gewissens” ist den Menschen hier absolut fremd. Mehrere Lehrer und Dozenten baten mich, Seminare oder Vorträge an Schulen durchzuführen. Man muss nur einmal die folgende Frage in den Raum stellen: woran liegt es, dass es in protestantischen Ländern weniger soziale Ungerechtigkeit gibt, weniger Armut, weniger Korruption, weniger juristische Unsicherheit…?
Auch Hans Schmidt hat uns über die Schwierigkeiten berichtet, mit denen das GAW in vielen Gemeinden der Landeskirchen in Deutschland zu kämpfen hat. Dazu folgendes: kaum eine andere Hilfe, die institutionell organisiert wird, kommt so direkt an ihren Bestimmungsort und kaum eine Diasporakirche könnte ohne die GAW-Unterstützung existieren und damit ihrer Mission gerecht werden . Wir hier sind von ganzem Herzen dankbar für die Hilfe und den Einsatz des GAW. Bitte gebt das in den Gemeinden weiter!
Nun zur Generalsynode: sie findet alle zwei Jahre statt und diesmal war sie besonders wichtig, weil die Wahl eines neuen Kirchenpräsidenten auf der Tagesordnung stand. Juan Pedro Schaad, der bisherige Präsident, wird wieder in die “normale” Gemeindearbeit zurückkehren, um Federico Schäfer das Hirtenamt zu übergeben. Federico Schäfer war viele Jahre lang Generalsekretär unserer Kirche, verfügt also über viel Erfahrung und ist ein “Detailarbeiter”. Persönlich freue ich mich über seine Wahl. Gott ruft die richtigen Leute im rechten Moment in die Arbeit in seinem Reich.
Auch im Rat der Kirche gab es Veränderungen und einige Arbeitskommissionen wurden neu besetzt. So hat man mich zum Leiter für das neugegründete Referat für “Evangelisation und Gemeindeaufbau” berufen. Dieses Thema spielte auf der Synode eine bedeutende Rolle und wurde für die nächsten Jahre zum Schwerpunkt der Arbeit auf Kirchenebene bestimmt. Vor ein paar Jahren dachte ich: “…da sitzt du hier im wilden Süden, weit weg vom ganzen Haufen, machst deine Arbeit in aller Ruhe und hast sogar noch Zeit für andere Dinge…”; aber das war wohl nur ein Traum. Vergangenes Wochenende hatte ich Dienst in San Martin de Los Andes. Dazu fuhr ich mit dem Auto am Freitag um die Mittagszeit von hier weg (540 km.). Am Sonntag kam ich zurück, um gerade noch den Bus nach Buenos Aires zu erwischen (14 Stunden). Nach neun Stunden Arbeitssitzung im neuen Referat stieg ich am Montagabend wieder in den Bus und kam dann am Dienstag endlich zu Hause an.
Am 15. Oktober kam unser erster “offizieller” Zivi. Martin Kreis wird ein Jahr bei uns sein, um im Altenheim und im PANACED mitzuhelfen. Für einen jungen Menschen dürfte es eine einmalige und wichtige Erfahrung sein. Auch hier war es das GAW (Württemberg) das tatkräftig mitgeholfen hat, damit unsere Einrichtung von den deutschen Behörden für diesen Dienst anerkannt wurde. Der Einsatz junger Menschen die aus Deutschland kommen, ist für uns besonders wichtig. Sie informieren in der “Heimat” über unsere wirkliche Situation und helfen mit Vorurteile abzubauen. Bei meinen Reisen durch Deutschland staune ich immer wieder wie wenig die Menschen über unsere Situation und die Hintergründe informiert sind.
Erfreuliches kann ich aus der Jugendarbeit berichten: wir arbeiten fast ausschliesslich mit Jugendlichen aus dem nichtkirchlichen Bereich. Viele von ihnen kommen aus sehr armen Familien. Es hat uns viel Mühe und Geduld gekostet, aber die Gruppe ist jetzt in vielen Dingen Vorbild für die Gemeindeglieder. Sie nehmen an den Gottesdiensten teil, verbringen die Wochenenden auf dem Gemeindegelände und haben sogar einen Vertreter auf die Synode entsandt. Im Januar wollen sie an einer gesamtkirchlichen Jugendfreizeit teilnehmen. Das ist das erste Mal in der Geschichte unseres Bezirks, dass eine Jugendgruppe zu dieser Freizeit fährt, die alle drei Jahre stattfindet. An dem Treffen nehmen Jugendliche aus allen Kirchenbezirken teil, d.h. aus ganz Argentinien, Paraguay und Uruguay. Seit Wochen sammeln sie Altpapier und Flaschen, um mit dem Erlös die Fahrt finanzieren zu können. Aber wir werden einen Zuschuss aus der Freundeskreiskasse geben. Für diese Jugendlichen ist die Kirche eine wirkliche Alternative, fast ein Zuhause… Das PANACED funktioniert mit halber Kraft. Geld für Gehälter gibt es nicht, die einzige Unterstützung kommt von der Stadt in Form von Lebensmitteln. Die Mitarbeiter sind alles Freiwillige (Hausfrauen, Studenten, Gemeindeglieder…), aber wir sind froh, dass die Kinder wenigstens ein warmes Essen am Tag bekommen. Das ist natürlich keine Dauerlösung, wir können im Moment die Kinder nicht pägagogisch und schon gar nicht seelsorgerisch begleiten.
Im Altenheim ist der Umbau endlich abgeschlossen und das Gebäude strahlt in neuen Farben. Leider hat sich die allgemeine finanzielle Situation wieder verschlechtert. Die Inflation beträgt (seit Januar) 76%, im Lebensmittelbereich jedoch bis zu 220%. Während wir im vergangenen Jahr monatlich 600 pesos für Heizung bezahlen mussten, waren es in diesem Winter 2000 pesos (monatlich!). Die Einnahmen blieben aber gleich. Im Moment verhandle ich mit verschiedenen Familienangehörigen über eine Anhebung des Pflegesatzes. Im günstigen Falle sind das 35%. Ganz schlimm sieht es bei den Medikamenten aus: viele sind importiert und müssen in Dollar bezahlt werden, hier liegt die Inflation bei bis zu 350%. Ausserdem müssen wir dringend eine Tiefenbohrung durchführen. Unser Wasser sollte man nicht einmal mehr zum duschen verwenden…In 90 Meter Tiefe gibt es sehr gutes Wasser und eine Bohrung käme auf 9000 Dollar (einschliesslich Stabpumpe).
Vielleicht erinnert Ihr Euch noch an das Foto im letzten Freundesbrief: ein kleines, halbverhungertes Mädchen in der Provinz Tucumán. Seit ein paar Tagen geht ein Aufschrei durch das ganze Land: in den ärmsten Provinzen sterben die Kinder wie die Fliegen. Theas Bruder, der zur Zeit auf Besuch ist (er versteht kein Spanisch) sah die Bilder im Fernsehen und fragte spontan, ob dies ein Bericht aus einem afrikanischen Land sei…Eine Schuldirektorin (Gemeindeglied) berichtet von häufigen Knochenbrüchen bei Kindern aus geringem Anlass…, es fehlt in der Nahrung an Calcium, sämtliche Milchprodukte sind für die meisten Familien unbezahlbar geworden…Ganz schlimm ist es in den Provinzen Misiones, Tucumán, Formosa, Chaco, aber auch in Córdoba und im Grossraum Buenos Aires.
Am 14. November hätte Argentinien 850 Millionen Dollar an die Weltbank zurückbezahlen müssen. Angesichts der Not beschloss die Regierung “nur” die Zinsen zu bezahlen, damit das (endlich) angelaufene Nothilfeprogramm nicht gefährdet wird. Prompt kam die Antwort aus Washington: “Wenn Ihr nicht innerhalb der nächsten 30 Tage zahlt, wird Argentinien finanziell in den Abgrund gestürzt…” Argentiniens Präsident Duhalde sagte resigniert: “…am besten wir lassen alle unsere Armen verhungern, dann brauchen wir kein Notprogramm mehr und der Währungsfonds ist zufrieden…” Dabei haben kürzlich internationale und unabhängige Finanzspezialisten ausgerechnet, dass Argentinien seine Auslandsschulden bereits zwei Mal bezahlt hat…Das Problem sind die Wucherzinsen und nicht die eigentlichen Schulden.
Am 20. Dezember jährt sich zum ersten Mal der Sturz der De La Rua Regierung, der über 50 Menschenleben gekostet hat. Viele befürchten neue und schwere Ausschreitungen. Und wie schon im vergangenen Jahr, so auch diesmal: wir werden die Ankunft des Gottessohnes nicht mit Glitzer und Kaufrausch feiern, auch nicht mit schönen Gottesdiensten, sondern in aller Stille, auf den Strassen und Plätzen, zusammen mit denen für die es “keine Herberge” gibt, keine Medikamente, keine Schule, keine Arbeit…keine Liebe…und keine Hoffnung.
Als Christ weiss ich, dass Gebete erhört werden…; ER hört Euer und unser Gebet. Betet, damit wir Hoffung, wirkliche Hoffnung “in die Welt” hinaustragen dürfen!
Ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen wir Euch und Gottes Behütung und Geleit im Neuen Jahr. Von ganzem Herzen danke für Euer Gebet und Eure Gaben!
Reiner Kalmbach
reikal@neunet.com.ar