Johannes 16,23b-33
Eine Lebensstrategie: Betet! | Rogate | 25.05.2025 | Joh 16,23b-33 | Berthold W. Haerter |
Liebe Gemeinde
0. Der Predigttext
Ganz ehrlich: Der gehörte Predigttext ist nicht meine erste Wahl. Aber umso mehr ich mich mit dem Bibeltext beschäftigte, umso spannender wurde es. Es ist, als wenn man den Gordischen Knoten vor sich hat. Man möchte ihn lösen. Er lässt sich aber nicht mit einem Schwertschlag durchschlagen. Man muss ihn langsam entwirren.
- Überlebensstrategien
Überlebensstrategien kennen wir alle. Wir brauchen sie nicht erst, wenn wir irgendwo in der Wildnis ausgesetzt werden. Überlebensstrategien sind Methoden, oder Pläne, ja Fähigkeiten in bestimmten, einen bedrängenden Situationen, klug und überlegt sich selbst zu helfen. Das fängt bei der Tasse Kaffee an, die wir trinken, wenn wir müde werden. Wenn wir bestimmte Schmerzen bekommen, wissen wir aus Erfahrung, welches Medikament wir jetzt nehmen müssen. Und wenn es ganz schlimm wird, kennen wir alle die Notfallnummer 144. Das sind Überlebensstrategien und jede/ jeder hat da noch weitere.
Der Evangelist Johannes bietet in diesem Bibelabschnitt eine Überlebensstrategie an. Johannes beschreibt eigentlich eine Abschiedsgespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern. Aber er schreibt philosophisch, theologisch, immer wieder voller Geistesblitze, Gedankensplitter aufzeichnend, zusammenfügend, anpassend, und wieder überwältig von einem neuen Gedanken, so schreibt Johannes. Man darf schon sagen, er schreibt verwirrend.
Beim Schreiben hat er nämlich vor seinem geistigen Auge nicht nur Jesus im Gespräch mit seinen Jüngern. Er denkt auch an seine christliche Gemeinde um das Jahr 90, die das lesen soll. Ja, und dann schreibt Johannes bewusst auch für künftige christliche Gemeinden. Er will ihnen eigentlich eine Methode mitgeben, wie sie bis zu Jesu Wiederkunft überleben können. Diese Wiederkunft erwartete man damals bald. Sie kam nicht.
Indem man das Johannesevangelium in den Gemeinden aber weiterlas, es in den biblischen Kanon aufnahm, ja, indem wir bis heute Johannes lesen und über ihn nachdenken, wird aus seiner Überlebensstrategie einen Lebensstrategie für Christinnen und Christen. Lebt bewusst und selbstbewusst, Christinnen und Christen. Ihr habt allen Grund. Ihr seid verbunden mit einer nie versiegenden Energiequelle. Das sagt der Text zu uns.
- Jesus Abschiedsworte
Entwirren wir diesen gordischen Knoten also vorsichtig. Der Evangelist erzählt von einem Gespräch beim letzten Mahl. Jesu erklärt seltsam verklausuliert, dass er sterben und wiederauferstehen wird, um dann endgültig zu Gott, seinem Vater, zurückzukehren. Er erzählt von keiner legendenhaften Geburt. Jesus sagt einfach: ‘Mein Vater hat mich zu Euch geschickt. Jetzt muss ich zurück zu unserem Vater.’ Denn erst wenn er wegginge, könne Gott als guter Geist unter uns wirken. Mit dem Heiligen Geist könne er und Gott die Menschen immer erreichen, zeitlich und örtlich uneingeschränkt. Das versucht Jesus in «verhüllter Sprache» zu sagen.
Wenn ihnen jetzt etwas der Kopf raucht, wenn Sie eventuell aufstöhnen und finden, das ist jetzt etwas viel, kann ich Sie beruhigen. So ging es den Leser*innen des Johannesevangeliums schon immer.
Jesus erzählt seinen Jüngern und Jüngerinnen, die hoffentlich auch dabei waren, er hätte von seinem Vater einen Auftrag bekommen. Er sollte die Wahrheit über Gott den Menschen bringen. Er sollte ihnen zeigen, wie Gott wirklich ist. Und wenn die Menschen an ihn, Jesus, glauben, wenn sie verstehen, dass Jesus im Auftrag von Gott handelt, 1:1, wenn sie also Jesus vertrauen, dann nennt man das Glauben. «Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich lieb gewonnen habt und zum Glauben gekommen seid, das ich von Gott ausgegangen bin.» (27)
Und wie Gott Jesus liebt, so liebt Gott auch alle die durch Jesus erahnen, wie und wer Gott für sie ist. Gott ist wie ein guter Vater oder eben ein gutes, uns Geborgenheit und Liebe und Trost und Lebensmut schenkendes unabhängiges Gegenüber.
‘Aber wie erfahren wir, wenn Du, Jesus, nicht mehr da bist, dieses Gegenüber? Wie treten wir mit ihm und er/sie/es mit uns in Kontakt?’ Das fragen die Freunde von Jesus. Und Jesus antwortet: ‘Ganz einfach, macht das, was ich Euch gelehrt habe. Betet! Betet in meinem Namen oder betet direkt zu Gott, wie ihr wollt. So seid ihr mit Gott und mir zusammengeschlossen. «Bitte, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen ist.» (24)
- «Lebensstrategie» Beten
Das sei die Methode zum Leben. Das ist die christliche Lebensstrategie. Johannes bzw. Jesus gibt uns den wichtigsten Hinweis, wie wir gut, mitten in der Welt stehend, Christinnen und Christen sein können. Beten ist eine Quelle die Dir und mir Energie, Freude, Zuversicht schenkt und die uns das ausstrahlen lässt.
Da ist kein Aufruf Gutes zu tun oder uns Menschen in Not anzunehmen. Jesus ruft nicht einmal auf, aktiv den Glauben weiterzugeben. Er meint nur: ‘Betet! Betet, so wie ich Jesus, es Euch erklärt habe und wie ich es gemacht habe.’ Alles andere ergibt sich daraus. Und Jesu fügt hinzu: ‘Es lohnt sich, zu beten. Macht es, wagt es: «Wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es auch geben.» (23c)
- «20 Meter für die Ewigkeit»
Ich lese gerade ein Buch von Jörg Bollmann, evangelischer Publizist, Moderator, Redakteur und Sportreporter. (20 Meter für die Ewigkeit, Leipzig 2025) Es beginnt so:
«Welch ein (göttlicher) Moment! Es ist Freitag, der 9. August 2024. In mit rund 70000 Zuschauerinnen und Zuschauern mal wieder vollbesetzten Stade de France läuft die Abendsession in der Leichtathletik dieser Olympischen Spiele in Paris – Entscheidungen über Gold, Silber und Bronze stehen auf dem Programm. Unter anderem im Kugelstoßen der Frauen. Der spannende Wettbewerb neigt sich dem Ende zu, fast alle Sportlerinnen haben ihren letzten, den sechsten Versuch bereits absolviert. …Knisternde Spannung, denn jetzt ist Ogunleye an der Reihe, ihr letzter Versuch. Wenn sie an die 20 Meter schaffen würde… Wird es vielleicht auch Gold? …
Nun steht die junge deutsche Athletin am Rand des Kugelstoßrings. Kann sie diese Anspannung in einem voll besetzten Stadion im olympischen Finale aushalten? Unglaublich, sie sieht gar nicht angespannt aus, im Gegenteil. Ihr Gesicht macht einen völlig entspannten Eindruck, sie scheint diesen Augenblick sogar zu genießen. Ihre Augen richten sich für einen kurzen Augenblick nach oben, ein Zwiegespräch mit Gott? Ein Lächeln spielt um ihre geschlossenen Lippen. Ein Lächeln! In diesem Augenblick!
Dann bewegt sie sich nach vorne, weit ausgebreitete Arme, wippende Beinbewegung, im tausendfach eingeübten Rhythmus schnellt ihr Körper in diesem kleinen Ring in eine dynamische Drehbewegung, anderthalb mal um die eigene Körperachse, der Stoß kommt, die vier Kilogramm schwere Kugel fliegt weit durch die Luft, schlägt nach gut anderthalb Sekunden auf den Boden und, ja, gibts das denn? Genau auf die 20 Meter Marke.
Gold für Ogunleye… – welch ein Moment in Paris!“
(Nachdem Wettbewerb beginnt für Yemisi Ogunleye der Interviewmarathon.) „Für die junge Frau, die im Oktober 1998 als Tochter eines aus Nigeria stammenden Vaters und einer deutschen Mutter geboren wurde, kein Problem. Sie gibt strahlend und bereitwillig Auskunft. …Überglücklich, noch etwas atemlos sprudelt es vor dem ARD-Mikrofon aus ihr heraus: „Ich war so in dem Moment, hab gesagt jetzt ist dein Moment, hab einfach glaube und na, stoß, soweit du kannst.“ Und dann singt sie, laut schön und melodisch. „Let it shine.““ (In der Pressekonferenz sagt sie dann😊 „In dem Moment habe ich einfach gesagt: Danke, Jesus! Hört sich vielleicht verrückt an für Menschen da draußen. Eine junge Frau, die an Jesus glaubt. Ich glaub an Jesus, und dieser Moment hat gezeigt, dass Glaube wirklich Berge versetzen kann.““ ( Bollmann, Ebenda 7-9)
Liebe Gemeinde
Was sagt uns Jesus in unserem Bibeltext nach Johannes. „Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei.“ (24)
Diese junge Frau hat genau das gewagt, vor einem weltweiten Million-Publikum an den Fernsehapparaten, fast 2000 Jahre nach Johannes und Jesus. Und erlebt vollkommene Freude. Sie gibt es zu, öffentlich und lebt es, was Jesus uns empfiehlt: Betet, betet echt. Fragt nicht, tut es einfach. Handelt, indem ihr betet.
Yemisi Ogunleye erzählt im Interview am nächsten Tag, dass sie vorher einfach kurz gebetet habe und gesagt. „Danke Gott.“ (Ebenda, 17) Sie wusste, ihr Gospelchor ihrer Heimatgemeinde schaut zu und würde für sie beten. Und meinte dann: „Vor dem letzten Stoss bin ich zu Iris (ihrer Trainerin) gegangen und habe gesagt: Kannst Du bitte für mich beten?“ (Ebenda, 22)
Beten heisst also nicht nur beten für mich, sondern auch für andere. Gemeinsam für jemanden bitten, Fürbitte halten,auch wenn wir nicht wissen, ob etwas gelingt oder nicht.
- Einwand: Beten nützt nichts
Und jetzt, spätestens jetzt, liebe Gemeinde, kommt uns unser Verstand in die Quere. Ja, hier hat das einmal geklappt, vielleicht Zufall, aber und dann zählen wir auf, wo Gott nicht eingegriffen hat. Mir fällt der Tod meiner Schwester letztes Jahr ein. Mir fällt der immer noch stattfindende Krieg des Aggressors Putin gegen die Menschen in der Ukraine ein. Letzte Woche hat jemand zu mir gesagt: ‘Ich habe die KZ’s auf einer Reise angeschaut, da kann man ja gar nicht mehr so glauben.’
Ja, Gebete zu Gott sie werden nicht immer erfüllt, wie wir es gern wünschten. Und ja, wir müssen uns einlassen, es wagen. Auch KZ’s, und gegenwärtige willkürliche Gefangennahmen weltweit werfen Fragen auf. Aber es gibt viele Beweise, dass Menschen in Konzentrationslagern, in Gefängnissen, im Krieg, im Sterben gerade durch das Beten Kraft und Zuversicht bekommen. Sie erfahren so einen «Frieden in mir» wie Jesus sagte. Ja, sie stehen geistig, nicht körperlich über dem Leiden, weil sie wissen: Gott ist jetzt auch um mich oder wie die Jünger im Text sagen: «Jetzt wissen wir, dass Du alles weisst und es nicht nötig hast, dass jemand seine Fragen überhaupt ausspricht.» (30)
Zweifel am Beten aussprechen ist einfacher, als es selbst zu wagen und zu beten. Meine Schwester schrieb: «Danke, dass ihr für mich betet.»
Beten heisst sich lösen aus dem ich und Erwartungen an Gott haben, sich auf Gott einlassen, vertrauen, loslassen, befreit sein, und auf Gott, Jesus konzentriert.
Der Reporter meint ungefähr zur Olympiasiegerin: «Beten allein als Mittel zur Erfüllung eigener Zwecke wird wohl nicht funktionieren.» …Yemisi Ogunleye antwortet:
«Gott ist nicht einfach so’n Kaugummi-Automat, wo ich nen Euro reinwerfe und krieg gleich sofort mein Resultat.» Aber «Gott steht immer mit offenen Armen da und er hört.» (Bollmann, Ebenda 19) Die damals 25-Jährige hat genau das gemacht, was Jesus hier in unserem Bibeltext als Lebensstrategie empfiehlt. Und sie ist sich bewusst, Gott ist eine Nummer grösser als wir, das unabhängig von uns Seiende.
- Beten will geübt sein
Eines sagt uns der Text, wie diese inspirierende Geschichte auch. Beten will gelernt sein. Man muss es üben. Immer wieder, tagtäglich. Dann geht es mir vielleicht so, dass ich Gott zeitweise nicht erlebe, aber ich bleibe offen für ihn. Es kann das passieren, was ich nach dem letzten Gottesdienst mit dem Schulchor von jemanden als WhatsApp zugeschickt bekommen habe: «Es fühlte sich an, als ob Gott zu mir sprechen würde. Denn im Moment fühle ich mich genauso: verloren. Ich muss Gott einfach mehr vertrauen und meine Sorgen in seine Hände legen.»
- Lebensstrategie: Beten
Jesus empfiehlt die Lebensstrategie: Beten. Wagt es! Lasst Euch darauf ein. Gebt nicht auf. «In der Welt habt Ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.» (33)
Im Beten verbinden wir uns mit Gott, mit Jesus Christus. Im Gebet geben wir Gottes guten Geist die Chance für uns, mit uns, in uns zu wirken. Im Beten überwinden wir ein Stück unsere eigene Not, weil wir uns mit dem bewusst verbinden, der den Schmerz und den Tod, das wohl grösste menschliche Leid, überwunden hat. Wir stehen im Beten in einer Wechselbeziehung zu Gott, unserem und Jesu Vater. Wir werden mit der Liebe beschenkt, wovon es im Text hiess: «Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich lieb gewonnen habt.» (27).
Diese Erfahrung zu machen, darauf muss man sich einlassen. Man muss beten üben, am Abend, am Mittag, bei Tisch, in der Natur, immer wenn man Zeit hat. Oder man macht es so, wie es Johann Caspar Lavater machte. Er, der vor 250 Jahren immer wieder in unserem Dorf war. Er, der wohl bekannteste Zürcher Pfarrer, gleich nach Huldrych Zwingli, meint in seinem Geheimen Tagebuch: «Ich will des Morgens nie ohne Dank und Gebeth zu Gott, und ohne den Gedanken aufstehen, dass es vielleicht zum letzten Mal geschehe.» (nach Ueli Greminger: Johann Caspar Lavater, Zürich 2012, 7)
AMEN
Lied: Ich möcht das einer mit mir geht
Berthold W. Haerter,
Oberrieden/Schweiz
Pfarrer der Ev.-ref. Kirche des Kantons Zürich