Jesaja 2,1-5

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Der Berg ruft | 8. So. n. Trinitatis | 10.08.2025 | Jes 2,1-5 | Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den 8. Sonntag nach Trinitatis steht Jes 2,1-5:

„Dies ist das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, schaute über Juda und Jerusalem. Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“

 

Liebe Schwestern und Brüder,

holen Sie die alten Wanderschuhe und den roten Anorak aus dem Schrank, füllen Sie die Trinkflasche mit Wasser und lassen Sie uns gemeinsam auf einen Gipfel steigen! Ich verspreche Ihnen beim Aufstieg leichte Anstrengung, oben auf dem Gipfel aber klare geistliche Sicht, Sehnsucht nach Gott und ein atemberaubendes Panorama des Glaubens.

In den Tretmühlen des Alltags gehen leider Überblick und Horizont oft verloren. Harmlose Ereignisse versetzen stressgeplagte Menschen schnell in Aufregung: Beim Warten auf den wichtigen Anruf gibt der Akku auf. Die dringend benötigte Straßenbahn fährt vor der eigenen Nase weg. Die Laugenpumpe der Waschmaschine ist ausgefallen. Kleine Fahrlässigkeiten, Unerwartetes und Ablenkung sorgen für hohe Ausschläge des Stresspegels und verspannen Nerven und Nackenmuskeln.

Es sieht nicht besser aus, wenn sich um zwanzig Uhr genervte Eltern, Pendlerinnen und gestresste Angestellte auf die Couch fallen lassen und auf den Nachrichtenbildschirm starren. Entspannung schafft das nicht. Über den kleinen Inseln des Alltags erheben sich schroffe Berge der Tagespolitik und Gipfel globaler Konflikte. Dort, bei weitreichenden Entscheidungen mit großen Überschriften, sieht es nicht besser aus als im stressigen Alltag:  dreißig Prozent Zoll auf alle Einfuhren, Drohnenangriffe auf Kiew und Odessa, Haushaltslöcher, die durch Wahlversprechen entstanden sind, Teuerung und Inflation, eine Luftbrücke für die hungernden Menschen in Gaza, Scharmützel in Syrien und dem Irak, ein neuer Konflikt an der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will die große Politik nicht gegen den kleinen Alltag ausspielen. Ich weiß, dass eine verpasste Straßenbahn gegenüber dem Drohnenangriff auf ein Krankenhaus in einer ukrainischen Kleinstadt harmlos erscheint. Dennoch sind auch Sorgen des Alltags ernst zu nehmen. Im Alltag und in der Politik leuchten genügend Ampeln und Gefahrenschilder auf, um beunruhigte Seelen in dauerhaften Krisenmodus zu versetzen. Wenn sich dieser Krisenmodus verstetigt, verzweifeln Menschen und werden nachhaltig krank.

Kletterer und Wanderinnen suchen am Wochenende Entspannung. Sie fahren mit dem Zug sechs Stationen ins Gebirge und unternehmen eine mehrstündige Gipfeltour. Sportliche Bergsteigergruppen gehen dabei Risiken ein. Wir trauern alle noch um die Olympiasiegerin Laura Dahlmeier, die in Pakistan beim Abstieg von einem Sechstausender tragisch ums Leben gekommen ist. Mitgefühl und Gebete gelten ihren Angehörigen und Freunden. Laura Dahlmeier war fasziniert vom Bergsteigen als Sport und Sinnstifter.

Ich will nicht nur von Risiken und Leistung reden, sondern auch von Einsicht, Erleuchtung und Glauben. Bei klarer Sicht geht der Gipfelblick zum Horizont über Alltag und Tagespolitik hinaus. Der Blick weitet die Seelen. Damit bin ich beim biblischen Bergsteiger Jesaja angelangt. Er war kein Wanderer, interessierte sich aber sehr für Berge, Horizonte und mühsame Aufstiege. Jesaja redet vom Zionsberg, kein Alpengipfel, nicht besonders steil, nicht besonders zerklüftet. Der Zion ist ein heiliger Berg, ein Heiligtum, ein Ort der Glaubenserkenntnis.

Der Prophet Jesaja sieht den Tempel auf dem Berg Zion als einen Ort inspirierender Gegenwart Gottes. Zuerst gehört dieser besondere Berg Zion zum Volk Israel. Gleich am Anfang allerdings erweitert der Prophet den Teilnehmerkreis der Bergsteigermassen. Nicht nur Israel wird aufsteigen, ihm schließen sich die anderen Völker an. Der Prophet malt eine Vision, die eine Völkerwallfahrt genannt worden ist – ein sehr altmodisches Wort. Es klingt nach Volksfrömmigkeit und Vereinten Nationen. Dabei sprengte es schon die Grenzen der Vorstellungskraft, als vor 2500 Jahren die bekannte Welt nur aus dem erweiterten Mittelmeerraum bestand. Nicht nur das Volk Israel pilgert zum Berg Zion, alle anderen Völker nehmen am Berglauf teil: Vollversammlung, Kirchentag und globales Repräsentantenhaus.

Auf dem Zion allerdings finden keine Debatten statt, um Entscheidungen von globaler Reichweite zu treffen. Auf dem Zion hält Gott Gericht. Der Gott der Bibel erweist sich bei Jesaja nicht als der regionale Volksgott Israels; er erhebt statt dessen Ansprüche auf alle Völker, auf die ganze Welt. Gottes universale Macht ist seine Gerechtigkeit. Und diese Gerechtigkeit wird Gott am Volk Israel und folgend an allen anderen Völkern ausüben, an Großmächten wie Ägyptern und Babyloniern und Assyrern, Moabitern, Edomitern und Philistern, an allen, die bei den Händeln und Konflikten damaliger Weltpolitik mitmischten. Heute würde man sagen: an Russland, China, den Vereinigten Staaten, Syrien, Israel, Iran, der Europäischen Union und allen anderen.

Auf dem Zionsberg wird das Ungeheuerliche geschehen: Gott lässt sich blicken. Gott wird Weisungen geben, Recht sprechen und zum Frieden auffordern. Und dieser Blick auf Gottes Gerechtigkeit erweitert wahrhaft Horizont und Seelen.

Auf dem Gipfel entwickelt Jesaja nichts weniger als ein neues, heute noch aufregendes Verständnis von Politik. Großmächte, damalige wie heutige, sehen Politik als Ausübung von Macht, als Verfolgung von eigenen Interessen und als kaltblütiges rationales Kalkül. Machtübung bedeutet so in der Regel Rücksichtslosigkeit, Vertreibung, Rache, Aufrüstung, Intrigen, kluge Bündnispolitik. Realpolitiker müssen bereit sein, hohe Risiken einzugehen und notfalls Krisen und Niederlagen in Kauf zu nehmen.

Jesaja sagt nun: Gottes Politik orientiert sich an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, vor allem aber an Frieden. Oder wie es im Gospelsong heißt: Ain’t gonna study war no more. Krieg ist keine Kunst, die man studieren muss. Es ist noch gar nicht so lange her, dass moderne Kriegstreiber Glocken aus den Kirchtürmen konfiszierten, um daraus Kanonen und Kugeln zu gießen. Deswegen der prophetische Ruf an das metallverarbeitende Handwerk: Schwerter zu Pflugscharen und Kanonen wieder zu Glocken.

Auf dem Zion hören alle Völker: Frieden muss das wichtigste politische Ziel bleiben, vor allem anderen. Dagegen sind Einwände erhoben worden, früher und heute. Die einen sagen: Jesaja schwärmt von Gottes Weitblick. Wenn das kommt, so wird es erst in der Zukunft eintreten. Bis dahin müssen wir leider unsere Interessen im Notfall noch mit Waffen durchsetzen. Andere sagen – und sie haben recht: An anderen biblischen Stellen ist davon Rede, Pflugscharen in Waffen umzuschmieden (Joel 4,10).

Jesajas Vision sagt etwas über Gott. Auf dem Gipfel des Zion erweitern die Völkermassen ihren Horizont des Glaubens. Erstens: Es gibt kein wichtigeres Ziel als den Frieden. Es geht nicht darum, sinnlos immer mehr Drohnenangriffe fliegen zu lassen. Es geht nicht darum, dass Präsidenten nur an ihre Golfclubs denken. Es geht nicht um atomare Drohungen und Vernichtung. Zweitens: Gott kümmert sich nicht nur um die eigenen Glaubenden, nur um das Volk Israel, nur um die Christen und so weiter. Gott will den Frieden für alle Völker und alle Menschen. Das ist seine umfassende globale Vision. Umfassend meint hier: Ausgleich zwischen allen Völkern. ‚Make America great again‘ ist keine Option. Weder die USA noch andere Länder sollten sich an nationalistischen Parolen besaufen. Die im Moment vielerorts vorherrschende unangenehme Mischung aus Eigeninteressen und Nationalismus ist keine Option für politisches Handeln.

Manche christliche Gruppen führt das aus der Tagespolitik hinein den Pazifismus. Ich bin davon noch nicht überzeugt, ich favorisiere das, was ein berühmter Physiker „intelligente Feindesliebe“ genannt hat. Und das schließt Waffen zur Verteidigung mit ein. Aber darüber wäre noch vieles zu sagen, wofür jetzt nicht der Ort ist.

Neulich las ich in einem neu erschienenen Buch ein glaubenskluges Wort von Abraham Lincoln. Er war während des Bürgerkriegs amerikanischer Präsident. Sinngemäß sagte er, dass Gott wisse, was Recht und Gerechtigkeit seien. Deswegen komme es nicht darauf an, Gott auf die Seite der eigenen Nation zu ziehen. Vielmehr gelte es, umgekehrt die eigene Politik stets an der Wahrheit, nämlich an der Gerechtigkeit Gottes auszurichten. Das ist eine Zions- und Gipfelerkenntnis: nicht Gott für die eigene Politik einspannen, sondern sich an dem orientieren, was Gott als Gerechtigkeit verkündigt hat.

Liebe Schwestern und Brüder, Jesajas Vision gehört in Gottes Zukunft. Aber aus ihr lassen sich jetzt schon Konsequenzen ziehen: Politische und alltägliche Probleme, Krisen und Durststrecken werden die Menschen immer als Bedrohung oder Krise wahrnehmen. Die Perspektive ist entscheidend, aus welcher Glaubende diese Krisen betrachten. Jesaja nimmt aus der Höhenluft eine klare Botschaft mit auf den Abstieg in die Ebenen der Gegenwart: Zynismus, Imperialismus und Nationalismus kommen für den Glauben nicht in Frage. Glaube schreibt keine Parolen auf Koppelschlösser. Es kommt darauf an, Politik, Alltag und Krisen aus der Perspektive von Gottes Gerechtigkeit, Frieden und Barmherzigkeit zu betrachten. Das ist Jesajas Gipfeleinsicht. Martin Luther King sagte in seiner berühmten letzten Rede am Tag vor seiner Ermordung: „I’ve been on the mountain top.“ Ich bin auf dem Gipfel gewesen.

Liebe Schwestern und Brüder, in solchem Gottesglauben kann man sich nicht zurücklehnen. Solcher Gottesglaube braucht Mitarbeit in der Politik. Trotzdem liegt in dieser Friedensvision des Jesaja auch großer Trost. Auf Politiker wie Alltagsmenschen wartet ein riesiger Berg an Arbeit. Christen wissen aber auch: Glaube kann Berge versetzen.

Manchmal tut es gut, den Gipfel zu besteigen und gegenüber dem beschränkten Blick aus der Ebene neue Horizonte und Weitblicke zu gewinnen, solche des Friedens und der Gerechtigkeit. Und dieser Friede Gottes, welcher höher ist als alles, was wir uns im Flachland der Gegenwart vorstellen können, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Nachbemerkung:

Von Intelligenter Feindesliebe hat bekanntlich Carl Friedrich von Weizsäcker gesprochen. Weiterführendes findet sich bei Wikipedia und anderen Internet-Quellen.

Martin Luther King hat die Rede „I’ve Been to the Mountaintop” am Tag vor seiner Ermordung am 3.4.1968 in Memphis, Tennessee gehalten (Youtube -Video: https://youtu.be/DKWCxKq0i1k).

Das Zitat von Abraham Lincoln findet sich beim Sozialphilosophen Hans Joas, der sein Buch über Universalismus mit folgender Passage beendet: „Lincoln soll einem Geistlichen, der seiner Hoffnung Ausdruck gegeben hatte, daß Gott auf der Seite der Nordstaaten stehe, geantwortet haben, daß das nicht seine Sorge sei: ‚denn ich weiß, daß der Herr immer auf der Seite dessen steht, was recht ist. Aber es ist meine ständige Sorge und mein Gebet, daß ich und diese Nation auf der Seite des Herrn stehen sollten.‘“ Hans Joas, Universalismus. Weltherrschaft und Menschheitsethos, Berlin 2025, 900.


Prof. Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).