
Jesaja 2,1-5
„Landdasnichtist” | 8. So. n. Trinitatis | 10.08.2025 | Jes 2,1-5 | Martina Janßen
I. Das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen (z.B. Dtn 26,9; Jer 32,22), die Insel Felsenburg (Johann Gottfried Schnabel [1731-1743 n. Chr.]), die Sonneninsel des antiken Schriftstellers Jambulos und der Sonnenstaat von Tommaso Campanella (1602 n. Chr.), Thomas Morus’ Utopia (1516 n. Chr.), Francis Bacons Nova Atlantis (1627 n. Chr.) oder Platons „idealer Staat“(Nomoi/Politeia; 375 v. Chr.) – die Topographie der Sehnsucht ist schier grenzenlos. Manche Sehnsuchtsorte klingen nur in der Erinnerung als Mythos nach, sind unerreichbar gewordenes Echo menschlicher Träume: Arkadien, jener verlorene Garten Eden der Dichter, der biblische Paradiesgarten oder das sagenumwobene Atlantis, versunken irgendwo im Meer. Manche Sehnsuchtsorte findet man nur in der Zukunft als furioses Finales, auf das man hoffen kann: Ende gut, alles gut. Der Sehnsuchtsort als „Happy-ever-after-Land“. Es gibt so viele Sehnsuchtsorte zwischen „nicht mehr“ oder „noch nicht“, zwischen goldener Vergangenheit und visionärem Zukunftstraum. Bei aller Unterschiedlichkeit kann man immer wiederkehrende Landschaften, Flussläufe und Straßenzüge entdecken, geformt und gebaut nach den gleichen Gesetzen, belebt und bevölkert von ähnlichen Glückseligkeiten: Friede zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Tier, zwischen Tier und Tier, „da wohnt der Wolf beim Lamm“ (Jes 11,6-8), Recht und Gerechtigkeit fallen in eins, die ideale Gemeinschaft und der liebende Mensch, Einklang mit der Natur und Wissen um die Kraft der Weisheit, das Schöne und das Gute. „Alles beginnt mit der Sehnsucht; immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres.“ (Nelly Sachs). Seit es Menschen gibt, sind Sehnsuchtszeiten in Jahr und Tag gewebt, Landschaften der Sehnsucht erwachen und wachsen in Kopf und Herz oder geistern als Echo sehnsuchtsvoller Träume in längst verlassenen und vergessenen Heiligtümern. Auf einem Globus, in einem Atlas oder bei Google Maps sind sie nicht zu finden, in der Geographie haben sie keinen Raum. Sehnsuchtsorte sind Ou-Topien (griechisch: ou =nicht; topos = Ort), Nicht-Orte. Und doch gilt, was der englische Schriftsteller Oscar Wilde einmal gesagt hat: „Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick.“ Denn Leben ist immer mehr als jetzt und hier möglich scheint. Gerade in Zeiten, die schwer sind.
II. „Was ist eigentlich Glück in schwierigen Zeiten? Darf man überhaupt persönlich glücklich sein, wenn es so viel Unglück um einen herum gibt?“ Diese Frage bewegt so manchen Menschen. Wie gehen wir mit all den Spannungen zwischen Ideal und Realität um? Was macht die Welt besser – die kleinen Schritte oder die großen Visionen? Wie gelingt das Streben nach ein wenig Glück und Ruhe mitten in einer Welt im Krisenmodus? Oft höre ich: Es ist das kleine Glück in den großen Unglücken der Welt, das einen am Leben hält: Familie, Freunde, Freizeit. Wenn das alles stimmt, ist das schon viel, dann kann man das andere ruhig geduldig erdulden, das Toben und Tosen der Welt bleibt außen vor: „Home, sweet home“. Vielleicht reicht das? Manche denken: Viel mehr kann ich mit meiner kleinen Kraft ja eh nicht bewirken in dieser großen Welt. Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. „My home is my castle.“ Besser in mein kleines Glück investieren als in die große Vision, meinen kleinen Paradiesgarten, meine gated community, meinen safe space für mich und die Meinen schaffen und schützen, wenn um mich herum die Sintflut wütet. Vielleicht ist das wirklich manchmal eine plausible Lebens- und Überlebensstrategie. Wie heißt es so schön: Trautes Heim, Glück allein. Da ist ja was Wahres dran. Das kleine private Glück kann schon eine gute Ressource und Quelle von Resilienz sein, kann aber eben nicht alles sein. Ist das eigene Glück nicht immer auch dem Glück anderer verpflichtet? Mir fallen dazu wunderbare Worte der Dichterin Eva Strittmatter ein. Viele Menschen „nehmen Welt so wie sie ist / und suchen sie sich auszuschmücken, / sie helfen sich mit kleinen Glücken. / Ich aber will das Landdasnichtist / Utopia der Traum als Leben. / Und Liebe. Währung, die man gibt. / Ohne zu fragen, wen man liebt. / Denn liebend wird man ihn erheben.“ (Eva Strittmatter, Utopia, in: Zwiegespräche, Berlin/Weimar 1980, 8).
Lesung Jesaja 2,1-5
1 Dies ist das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, schaute über Juda und Jerusalem. 2 Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, 3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 4 Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!
III. Auch Jesaja hat einen Traum, auch er entwirft eine Utopie, erschafft einen Ort, den es so nicht gibt in seiner Welt, aber nach dem er sich mit Leib und Seele sehnt. „Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben.“ Alle Völker machen sich auf zum Zion, zum Berggipfel, zum Berg, zur Stadt Jerusalem, zu dem Ort, an dem Gott wohnt, um in Frieden unter seiner Weisung zu leben. Das Bild der Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. auch z.B. Micha 4,1-4; ferner Jes 25,6-8) hat Züge einer inklusiven Utopie. Es geht nicht nur um Israels Glück, nicht nur um Israels Recht und Rettung. Auch andere Völker finden hier ihren Ort. Es ist eine solidarische Utopie, eine grenzenlose: Alle Völker sind vereint, da ist etwas zu spüren von jener Liebe, die jeden erhebt, jedes Volk, jeden Menschen. „Lasst uns wandeln im Licht des HERRN!“ Auf Augenhöhe, Hand in Hand, auf Gottes Berg, in Gottes Licht, unter seiner Weisung erwacht und wächst gelingendes Leben. „Siehe, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5). Aus Feinden werden Freunde; aus Schwertern werden Pflugscharen; aus Waffen, die den Tod bringen sollten, werden Werkzeuge, um Leben zu ermöglichen. Dieses Bild ist so stark, dass es zum internationalen Friedenssymbol geworden ist. Um den modernen Begriff von Toleranz geht hier aber nicht, die vereinten Völker in Jesajas Vision sind keine UN mit Sitz auf dem Zion. Es ist Israels parteiische Utopie, die entstanden ist unter der Last ständiger militärischer Unterdrückung und Bedrohung; es ist Israels Gott, der Völker richtet und unterrichtet. Am Ende aber steht der Friede für alle. „Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben.“ Es gibt auch andere Bilder in der Bibel, da sind die Trennlinien zwischen Israel und den Völkern schärfer. Das Motiv des Völkerkampfes kommt mir in den Sinn, weniger eine Utopie als eine Dystopie, durchzogen von mythischen Bildern. Wie die Chaosmächte des Meeres bedrohen die Völker Israel (z.B. Jes 17,12-14), umfluten Israel, feindlich und zerstörerisch, der Zionberg ist der Fels in der Brandung, eine „feste Burg ist unser Gott“ (Ps 46,2-8), auf diesem Burg-Berg, diesem safe space ist man geschützt vor den feindlichen Mächten, die auf der Seite des Chaos bleiben. „Und ehe es Morgen wird, sind sie nicht mehr da.“ (Jes 17,14). Im Vergleich dazu – um wie viel friedlicher, um wie viel inklusiver ist die Friedensutopie der Völkerwallfahrt! Jesaja entwirft einen Sehnsuchtsort, in dem Gott alles für alle und Liebe die Währung unter den Menschen ist. Eine parteiische, aber zugleich solidarische und inklusive, offene Utopie. Zion ist keine gated community für Gottes auserwähltes Volk, sondern offen für alle: „Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN!“ Gegenwärtig ist Jesajas Zion „Landdasnichtist / Utopia der Traum als Leben“. Der Zionsberg und die Stadt Jerusalem scheinen politisch weit davon entfernt, ein Ort des Friedens zu sein. Ganz im Gegenteil, die Krisen spitzen sich zu und es scheint eher die Zeit zu kommen, wo auf allen Seiten aus „Pflugscharen Schwerter werden“ (vgl. Joel 3,10). Politisch ist das, was Jesaja sieht, heute nicht Realität, ist Landdasnichtist. Noch nicht ist.
IV. „An dieses Unerschienene leichter zu glauben als ans Sichtbare, dazu gehört geschulte Hoffnung, das ist Vertrauen auf den Tag in der Nacht.“ (Ernst Bloch). Utopien nehmen dann Gestalt an, wenn wir die Welt durch die Brille der Hoffnung sehen, voll Vertrauen in die Zukunft. Ein optimistischer Blick auf unsere Welt ist nicht naiv und keine Flucht aus der Realität in ein unerreichbares Ideal. Vieles, was früher einmal als technische oder soziale Utopie erschien, ist heute Realität: der Traum vom Fliegen, die breite Anerkennung von Menschenrechten, die Reise zum Mond (bei dem antiken Satiriker Lukian war das noch der Beginn von Science Fiction [Wahre Geschichten, 2. Jh. n. Chr.]). Doch unsere Utopien sind immer ambivalent. Sie können ein Stück weit Realität werden und sie können zerbrechen, nicht selten gerade dann, wenn sie reale Gestalt annehmen: Wie oft zerschellt die Utopie einer „klassenlosen Gesellschaft“ an der Realität des real existierenden Sozialismus! Wie viele Utopien aufklärerischer Gelehrtenrepubliken (Friedrich Gottlieb Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik [1774]) scheitern daran, dass es in ihnen menschlich, allzu menschlich zugeht, womit sie unter der Hand als Dystopie entlarvt werden (Arno Schmidt, Die Gelehrtenrepublik [1957])! Utopien können heilsam sein, aber sie können auch Nebenwirkungen haben. Gewalt, Partikularinteressen, Ausgrenzung gehören dazu. Den Himmel auf Erden für die einen verwirklichen zu wollen kann für andere auch die Hölle bedeuten. Für die Nazis war das 1000jährige Reich eine Utopie, für andere eine Dystopie apokalyptischen Ausmaßes.
Auf jedem Globus, in jedem Atlas, auf jeder Weltkarte gibt es sie, verborgen zwischen den Kontinenten und Weltmeeren, epochenübergreifend und grenzüberschreitend. Länder, die nicht sind; Gesellschaften, die es nicht gibt; Ideale, die nicht verwirklicht sind. In welcher Utopie möchte ich mich einrichten, erwachen, wachsen und blühen? Mein „Utopia / der Traum als Leben“ übersteigt mein eigenes Streben nach Glück und ist immer mehr als ich mir selbst erträumen und erschaffen kann. Die Landschaften, Flussläufe und Straßenzüge meines Sehnsuchtsortes sind geformt und gebaut von dem, dem vertraue. In seine Hände lege ich meine Sehnsucht; mein unruhiges Herz findet Ruhe in ihm (vgl. Augustinus, Confessiones 1,1). Er wird alles neu machen (Offb 21,5) und er wird es gut machen (Gen 1,31). Liebend wird er auch mich erheben. „Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“ (EG 395,3).
Amen
Vorschlag Predigtlied: „Vertraut den neuen Wegen“ (EG 395)
In Anschluss an die Predigt oder als alternative Psalmlesung: Hanns Dieter Hüsch, Sehnsucht
„Ich sehe ein Land mit neuen Bäumen
Ich sehe ein Haus aus grünem Strauch
Und einen Fluß mit flinken Fischen und einen
Himmel aus Hortensien sehe ich auch.//
Ich sehe ein Licht von Unschuld weiß
Und einen Berg, der unberührt
Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer
Der alle Tiere in die Freiheit führt.//
Ich hör ein Herz, das tapfer schlägt
In einem Menschen, den es noch nicht gibt
Doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt
Weil er erscheint und seine Feinde liebt.//
Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe
Das ist die Welt, die nicht von unserer Welt
Sie ist aus feinstgesponnenem Gewebe
und Freunde, seht und glaubt: Sie hält.//
Das ist das Land nach dem ich mich so sehne
Das mir durch Kopf und Körper schwimmt
Mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,
Daß jeder jeden in die Arme nimmt.“
(Hanns Dieter Hüsch/Uwe Seidel, Ich stehe unter Gottes Schutz. Psalmen für Alletage, Düsseldorf 102007, 81)
PD Dr. Martina Janßen
Hildesheim
dr.martina.janssen@evlka.de
Martina Janßen, geb. 1971, Privatdozentin für Neues Testament (Universität Göttingen), Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers