
12.Sonntag nach Trinitatis | 07.09.25 | Markus 7,31-37 (dänische Perikopenordnung) | Von Christiane Gammeltoft-Hansen |
Öffne dich!
Einige Minuten kann man nur in Sekunden beschreiben. Das sind Minuten, die sich in die Reihe von anderen Minuten fügen und zusammen unseren Alltag ausmachen. Mit anderen Minuten werden wir nie fertig. Sie füllen mehr als das Zifferblatt der Uhr zeigt. Das sind die entscheidenden Minuten in unserem Leben. Die Minute, als das Kind zum ersten Mal Luft holte nach der Geburt. Die Minute, wo der Schmerz nachlässt und das Dasein wieder erträglich wird. Die Minute, wo sich eine neue Ecke in uns auftut und dahinter ein großer heller Raum, in dem wir frei atmen können. Wir nennen dies selten ein Wunder, denn mit Mirakeln sind wir nicht vertraut. Aber die erfüllten Minuten kommen nichtsdestoweniger mit ihrer besonderen Bedeutung und neuer Freiheit.
Markus erzählt von einer dieser erfüllten Minuten. Ein Finger in einem Ohr, eine herausgestreckte Zunge und Worte, die einmal gesagt werden, die aber wie ein evangelischer Kehrreim klingen. Öffne dich! Sagt Jesus, und da wird geöffnet für einen Menschen, so dass er sich wieder mitteilen kann. Wer würden wir denn auch sein, wenn wir uns nicht zu erkennen geben könnten. Das wäre so als existierten wir nicht wirklich. In einer Weise ist das wie eine Schöpfung in dieser erfüllten Minute. Die Worte „Öffne dich“, rufen einen Menschen zurück ins Leben.
Reden ist ansonsten das allernatürlichste. Wir reden einfach, denken nicht weiter darüber nach. Das gilt auch für die Stummen. Ihre Sprache ist nur eine andre als die mit Lauten. Unbeschwert kommt die Sprache von innen, bis sie es dennoch nicht tut. Was ist es, das uns schweigen lässt? Uns verstummen lässt? Vielleicht meinen wir nicht richtig, mit etwas beitragen zu können? Oder wir denken, dass es andere viel besser machen können? Manchmal wird es ja auch nur Gerede, Klischees, die nur oberflächlich sind. Manchmal machen wir ja auch die Dinge nur noch schlimmer. Hartnäckig können wir uns hinstellen, als läsen wir vor aus Steintafeln und urteilten danach. Klischees und Rechthaberei, wenn es sich darauf begrenzt, ist es ja verständlich, dass wir etwas still werden können. Aber ein Mensch, der sich nicht zu erkennen gibt, verschließt sich der Möglichkeit des Gesprächs. Ein Mensch, der sich nicht zu erkennen gibt, zieht sich aus der Gemeinschaft zurück. Und wenn wir unsere Stimme anderen überlassen, vergessen wir, dass jede Stimme ihren eigenen Klang hat, und dieser Klang ist wichtig für das Ganze.
Öffne dich! So heißt es im Evangelium. Wir könne uns dazu entschließen zu schweigen, wenn wir falschliegen mit dem, was wir sagen, wenn es zu oberflächlich oder zu hart wird – oder wenn wir nur nicht finden, dass wir das Wort in unserer Macht haben. Aber das ist zu einseitig. Wir haben nicht nur das Wort. Das Wort hat auch uns. Die Worte sind nicht nur unsere eigenen Worte. Die Worte sind auch einige Worte, die uns gegeben werden. Das Evangelium ist lebendschenkendes Wort, das uns geschenkt wird. Worte, die unser Leben größer erzählen, als wir es selbst erzählen könnten. Wenn die Sprache unmittelbar von innen kommt, wer weiß, vielleicht ist es das, worum es geht. Dass wir plötzlich die Dinge geradeheraus sagen und das sagen, was gesagt werden muss, weil uns die Worte gegeben werden. Wer weiß, vielleicht liegt tief im Inneren ein geistiger Wortschatz, aus dem wir schöpfen dürfen und der bewirkt, dass wir bei all dem, was wir so sagen, auch etwas sagen, was Bedeutung hat. Die Worte kommen aus unserem Mund, aber sie kommen mit einer Einsicht, die wir uns nicht selbst hätten sagen können. Es kann gut sein, dass wir meinen, es sei manchmal besser, den Mund zu halten und andere reden zu lassen. Aber das ist eine unerträgliche Leichtigkeit, das Gespräch anderen zu überlassen. Natürlich kann es besser gesagt werden und sicher auch viel wahrer als die Formulierungen, mit denen wir kämpfen. Aber wenn die Worte von innen kommen, wer weiß, vielleicht ist es der Geist, der unsere Stimme als sein Sprachrohr leiht. Ein innerer Ruf, sich zu öffnen und in den Dienst des Geistes zu stellen – die lebenschaf3fenden Worte, die wir empfangen haben, an andere weiterzugeben.
Während einige freiwillig schweigen, gibt es andere, die gerne reden wollen. Aber sie halten sich dennoch damit zurück, weil sie spüren, dass die Ohnmacht, der sie ausgesetzt sind, andere verstört. Sie wollen gerne von dem erzählen, womit sie gekämpft haben und was in ihrem Leben schwer war. Dass die Hölle keine Phantasie ist, sondern etwas, was sie durchgemacht haben. Aber die Umgebung wird so merkwürdig still, und das färbt auf sie ab. Vielleicht sollten sie auch besser vergessen, klingen die wohlgemeinten Ratschläge. Versuchen, das, was wehgetan hat, hinter sich zu lassen und sich stattdessen mit anderen Dingen zu beschäftigen. Nicht vom Zusammenbruch im privaten Leben oder dem Zusammenbruch in der Gemeinschaft reden, zu der sie einmal gehörten, die sie aber verlassen mussten. Versuche nach vorn zu blicken, lautet die Aufforderung.
Öffne dich! So lautet es wieder im Evangelium. Öffnet euere Ohren. Ein Mensch, der seine Lebensgeschichte nicht teilen kann, wird vorsichtig. Er verliert seine natürlichen Reaktionen. Verliert die Fähigkeit, seine Gefühle unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Einem Menschen zuhören heißt. einem Menschen das Dasein erlauben.
Öffne dich! Das kann vielleicht wie eine Aufforderung klingen, selbst etwas zu tun. Wie die wohlgemeinten Ratschläge, die es an sich haben, dass sie einander ähneln, ganz gleich ob es Aufforderungen sind, mit dem Meditieren zu beginnen, zu joggen oder zu stricken. Nicht weil das keine guten Ideen sind mit diesen Ratschlägen und das entlasten und helfen kann. Aber wenn die Ratschläge das einzige sind, was wir einander geben, dann kann das so klingen als könnten wir uns selbst mit unserem Handeln von all dem befreien was schwer ist und weh tut in unserem Leben.
Öffne dich! Das ist ein himmlisches Wort, das schafft, was es sagt.
Öffne dich! Das ist eine Tür, die für den geöffnet wird, der sie nicht selbst öffnen kann.
Öffne dich! Das ist Auferstehungsruf. Ein Ruf, der gegen das aufsteht, das nicht so ist, wie es sein soll.
Jesus hat sich in ein Randgebiet begeben, an einen fernen Ort. Das Zentrum der Macht ist weit weg. Das ist die Außenwelt. Jesus ist nicht eingeladen. Er ist selbst gekommen. Er erwartet auch nicht erst ein Glaubensbekenntnis von einem Menschen, den es getroffen hat und der stumm ist. Er verlangt auch nicht eine Erkenntnis dessen, was besser gewesen sein könnte. All das, was gesagt und gehört werden sollte aber nicht gesagt und gehört wurde. Draußen an einem abgelegenen Ort kommt es zu einer Begegnung. Das ist wie eine Entwicklerflüssigkeit. Ein Mensch mit Gesicht, Gestalt, Stimme. Keine Stimme ist unbedeutend, kein Mensch ist sich selbst überlassen. Eine evangelisch gefüllte Minute macht das deutlich.
Es mag sein, dass es uns fremd ist, von Mirakeln zu reden, denn was wissen wir davon, und was hat dieses eine Mirakel mit uns und unserem Leben zu tun. Und doch gibt es Öffnungen in unserem Leben. Erfüllte Minuten, hinter die wir nie kommen und die wir nie durchschauen, weil sie mehr Sinn schenken als wir erfassen und begreifen können. Wenn unsere Gespräche vertraulich und engagiert werden, so des halb, weil wir mit einander von diesen Öffnungen reden. Und wenn wir versuchen, diese erfüllten Minuten in Worte zu fassen, spüren wir, dass wir mit Hilfe des geistlichen Wortschatzes am weitesten kommen.
Einst an einem fernen Ort und doch in unserer Welt erhielt en Mann das Gehör und die Sprache wieder. Öffne dich! Hieß es, als Echo auf das erste Wort der Schöpfung. Öffne dich! Heißt es auch in unserer Welt und an unserem Ort. Und Leben schenkende Worte kommen noch immer als eine Gabe. Worte, die in eine größere Wirklichkeit vordringen und uns dazu verhelfen, uns mit ihr zu verbinden.
Ganz gleich wie wir es nennen, da liegt ein Schlüssel in diesem „Öffne dich“, dass wir unser Dasein nicht nur als ein klinisches Phänomen sehen. Alles ist hier, selbst der Himmel. Die Lebenskraft der Worte ist nicht zu verkennen.
Wir rufen einander heraus, indem wir zuhören. Und wir werden selbst herausgerufen hinein in einen größeren Zusammenhang, wenn wir die Erzählung von Gott und Menschen hören. Ob nun unsere Situation schrecklich, phantastisch ist oder beides. Ob wir in den Minuten leben, wie sie meistens sind, oder ob wir die erfüllten Minuten sammeln als Schätze in unserem Herzen. Alles wird im Evangelium vereint.
Wir können hören. Wir können sprechen. Und wir können das gebrauchen. Darin liegt ein Keim für die Fortsetzung des Lebens – dass wir das weitergeben können, von dem wir selbst getragen sind. Amen.
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Pastorin Christiane Gammeltoft-Hansen
DK-2000 Frederiksberg
E-mail: cgh(at)km.dk