Markus 3,20-21.31-34
13. So. n. Trinitatis | 14.09.2025 | Mk 3,20-21.31-34 | Hansjörg Biener |
Manchmal gehen Kinder aus dem Elternhaus und drehen sich nicht mehr um. Der Kontakt reißt ab, und die Kinder scheinen nichts zu vermissen. Anders die verwaisten Eltern. Ihnen stellen sich quälende Fragen: „Was haben wir falsch gemacht?“ „Womit haben wir das verdient?“ Als Pfarrer/Pfarrerin wundert man sich manchmal mit. Trotzdem wird man professionelle Zurückhaltung üben. Man hat nie den letzten Einblick und kennt erst recht nicht Familiengeheimnisse. Es kann gute Gründe geben, sich von der Herkunftsfamilie zu trennen und nicht zurückzuschauen. Ich nenne nur ein Stichwort: Missbrauch.
Manchmal kommt auch die Religion dazwischen. Wie im heutigen Predigttext:
Jesus „ging in ein Haus. Und da kam […] das Volk zusammen, sodass sie nicht einmal essen konnten. Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn ergreifen; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen. […] Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!“ (Markus 3,20-21.31-34).
Diese Familiengeschichte wirft kein gutes Licht auf den, in dessen Haus wir zusammen sind. Das macht es wahrscheinlich, dass die Geschichte historische Erinnerungen aufnimmt. Auch an anderen Stellen im Neuen Testament scheint es durch: Jesus und seine Familie hatten es nicht immer leicht miteinander.
Distanz prägt von Anfang an die knappe Darstellung. Mutter und Geschwister Jesu stehen vor einem Haus, in dem Jesus zu Gast ist. Sie wollen Jesus heimholen und ihn so vor sich selbst schützen. „Denn sie sprachen:“ Er spinnt. Sie möchten zu Jesus, aber kommen nicht herein. Vielleicht wollen sie nicht, weil sie keinen Streit in der Öffentlichkeit wollen; vielleicht können sie nicht, wegen der Menge um Jesus, die ihn hören will. Hier deutet sich schon räumlich an, was religiös immer wieder eine Rolle spielt: Wer kommt rein oder muss draußen bleiben? Wer will rein oder auch wer will draußen bleiben? Das hat in Ewigkeitsfragen höchste Brisanz.
„Man“ richtet Jesus aus: „Deine Leute wollen Dich sprechen.“ Aber Jesus reagiert anders, als man erwarten könnte. Kein „Ich komme gleich!“. Kein „Bitte nur kurz, ich bin beschäftigt.“. Vielleicht weil er schon weiß, dass sie ein Problem mit seiner Wanderpredigerei haben. Jesus weist seine Familie in aller Öffentlichkeit zurück. Er schaut in die Runde der Menschen, die ihm gerade zuhören. „Die hier sind meine Familie“, sagt er. Die sind’s, denen ich – jetzt? – verpflichtet bin. Heißt im Umkehrschluss: Die Familie, aus der ich komme, muss – jetzt? – zurückstehen. Ich setze mal dieses Jetzt mit Fragezeichen dazu, denn es betont den Moment.
Aus heutiger Perspektive könnte man lächeln und sagen: Es hat auch mal geknallt in Jesu Familie. Auf der einen Seite die Familie, die weiß, was gut für Jesus ist: Aufhören mit der Predigerei und nach Hause kommen. Auf der anderen Seite Jesus, der patzig antwortet: „Ich lasse mich nicht bremsen, wenn ich für Gott unterwegs bin. Auch nicht von Euch.“ Welche Eltern und Kinder würden solche Situationen nicht kennen! Auf der einen Seite elterliche Besorgnis. Auf der anderen Seite junger Selbstbestimmungswille „Ich weiß schon, was ich tue!“ Es gibt Eltern, die da auf etwas mehr Entspannung aus sind. Sie haben sich fest vorgenommen, ihren Kindern bei drei Dingen nicht reinzureden: Religion, Partner- und Berufswahl. Es gibt Kinder, die das im Nachhinein als gut empfinden, und Kinder, die ihren Eltern später Vorwürfe machen. „Du hättest mich warnen können.“ Wie man’s macht, kann es falsch sein. Man weiß es nicht. Sinnvollerweise würden die Kinder fragen kommen… Damit ist auf jeden Fall schon etwas Wichtiges gesagt: Man muss gelernt haben, miteinander zu reden, bevor die Probleme kommen.
Ich möchte den Predigttext heute mit zwei Themen verbinden. Zunächst will ich auf die Alternative eingehen, die so oft in diesem Text gefunden wird. Wer ist wichtiger? Die Familie, aus der man kommt, oder die Familie Gottes? Das ist ein schwieriges Feld und kann, wie sich zeigen wird, schmerzhaft werden. Im zweiten Teil der Predigt möchte ich darauf eingehen, dass die Gemeinde Jesu trotzdem auch wie eine segensreiche erweiterte oder neue Familie verstanden werden kann. Das ist angesichts so vieler einsamer junger und alter Menschen wichtig. Für sie kann die Gemeinde eine Wahlverwandtschaft werden, ohne ein Kontrastprogramm zur Herkunftsfamilie zu sein.
1. Familia Dei oder die natürliche Familie – eine gefährliche Alternative
1.1 „Jesu wahre Verwandte“?
Man hat den Predigttext oft im Sinn eines „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ ausgelegt. In diese Richtung weisen auch die Überschriften in der Lutherbibel und der katholischen Einheitsübersetzung. Da lesen wir: „Jesu wahre Verwandte“. Die wahren Verwandten, das sind die im Glauben.
Warum hört man so schnell dieses Entweder-Oder? Offenbar, weil Religion konfliktträchtig und familiensprengend sein kann. Gelebter Glaube, aber auch religiöse Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft gegen Religion sind nie einfach nur Sache eines Einzelnen. Sie betreffen immer auch das Umfeld. Für die ersten Christen war das eine alltägliche Erfahrung. Viele trennten sich ja mit ihrer Bekehrung zu Jesus vom Judentum oder auch vom Heidentum. Das kann kaum konfliktlos geblieben sein, wenn nicht die ganze Familie christlich wurde. Tatsächlich hat der Apostel Paulus an dieser Stelle Jesu Scheidungsverbot den Umständen angepasst. „Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und es gefällt ihr, bei ihm zu wohnen, so soll er sie nicht fortschicken. Und wenn eine Frau einen ungläubigen Mann hat und es gefällt ihm, bei ihr zu wohnen, so soll sie den Mann nicht fortschicken. […] Wenn aber der Ungläubige sich scheiden will, so lass ihn sich scheiden. Der Bruder oder die Schwester ist nicht gebunden in solchen Fällen.“ (1. Kor 7,12-15*) Man sollte dann allerdings, so Paulus, ehelos weiterleben, um die zerbrochene Ehe nicht auch selbst noch zu brechen.
Es kann im Christenleben Konflikte geben, wo man wegen des Glaubens Familienbande zurückstellen oder sogar aufgeben muss. Trotzdem bin ich mit der Auslegung, dass die Bindung an Jesus vor aller Familienbindung geht, nicht voll zufrieden. Nicht nur weil ich zu religiös bedingten Trennungen in der Familie leidvolle Geschichten kenne.
Drei [zwei] Beispiele, wo die Probleme schier unüberwindlich werden, will ich nennen.
1.2 Problembeispiel 1: Jugendreligionen
Ich erinnere [mich] zunächst an die sogenannten Jugendreligionen. Da haben in früheren Jahrzehnten junge Menschen auf Weisung ihrer geistlichen Führer alle Kontakte zu ihren Familien abgebrochen und sich ganz an die neue Gemeinschaft hingegeben. Manche kamen nach Monaten oder Jahren zurück. Enttäuscht. Finanziell und emotional ausgeblutet. Gelegentlich auch körperlich oder seelisch zerstört. Andere schafften den Rückweg nicht mehr, weil die Gräben zur Vergangenheit zu groß geworden waren.
Eine der schlimmsten Gruppen waren die 1968 gegründeten Kinder Gottes. Ursprünglich eine Hippie-Mission mit christlich-fundamentalistischem Hintergrund. (https://www.relinfo.ch/lexikon/christentum/neuoffenbarer-gemeinschaften/die-familie-kinder-gottes-familie-der-liebe/) Sehr bald hat der Gründer nicht nur die christliche Tradition verraten, sondern auch die 68er Hippie-Ideale von gemeinsamem Leben und freier Liebe. Ab 1974 praktizierte die Gemeinschaft das so genannte Flirty Fishing. Das heißt: Man versuchte, durch Sex Männer in die Sekte zu locken. Wer der Gemeinschaft beitrat, gab zugleich sein Vermögen ab. Nach Angaben der Gruppe wurde das Flirty Fishing 1987 wegen AIDS aufgegeben. Trotzdem blieb auch das mit dem gemeinsamen Leben und dem freiwilligen Sex so eine Sache. Das Internet sagt: Die Gruppe hat den Tod ihres Gründers David Berg (1919-1994) erst einmal überlebt. In jüngerer Zeit unter dem Namen – „Familie“. 2010 wurde die Organisation offiziell aufgelöst. Man findet sie aber weiter im Internet. (https://www.thefamilyinternational.org/en)
Immer noch gehen Menschen in solche Gruppen, aber die Öffentlichkeit ist sensibler als früher für die Gefahr.
1.3 Problembeispiel 2: gefährliche „Sekte“ oder annehmbare „Kirche“?
Manchmal ruft ein besorgtes Elternteil beim Pfarrer an: „Meine Tochter lebt jetzt in x – und ist da an so eine Gemeinde geraten. Ist das eine Sekte?“ In der Regel wird man als Pfarrer/Pfarrerin nicht sofort antworten; außer die Sache ist sonnenklar. Man wird sich zuerst erzählen lassen und danach kundig machen. Oft genug kann man später den Unterschied zwischen der evangelischen oder katholischen Kirche und einer Freikirche erklären.
Eine bewährte Unterscheidung findet man in einem Handbuch über religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche:
(1) Freikirchen sind „Kirchen und Gemeinschaften, die aus dem Bemühen um die Erneuerung urchristlichen Gemeindelebens entstanden sind und zu denen ökumenische Beziehungen möglich sind“.
(2) Sekten sind „Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden, aus denen sie wesentliche Sonderlehren ableiten. Ökumenische Beziehungen lehnen sie in der Regel ab.“ (VELKD (Hg.): Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, 2006, S. 25.)
Ich mach’s mal einfacher:
Freikirchen teilen mit uns alle wesentlichen Glaubensinhalte und haben ökumenische Beziehungen. Der Hauptunterschied ist die Organisationsformen.
Sekten teilen mit uns wesentliche Glaubensinhalte, haben aber noch weitere Glaubensinhalte, die wir nicht haben. Außerdem gibt es in der Regel keine ökumenischen Beziehungen, weil diese Gruppen exklusiv sind.
Und dann gibt es gelegentlich auch Gruppen, die sich christlich nennen, aber nichts mehr mit dem Christentum zu tun haben.
Man kann also erst einmal äußerlich fragen: Gibt es ökumenische Beziehungen dieser Gemeinde? Beispielsweise in einer offiziellen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen vor Ort oder auch in einer evangelischen Allianz, die sich als geschwisterliche Vereinigung im evangelisch-erwecklichen Bereich versteht. Die Frage ist also: Akzeptiert die Gruppe oder Gemeinde, dass es auch außerhalb Menschen gibt, die im Vollsinn zur Gemeinde Jesu gehören? Gruppen mit überzogenen Ansprüchen auf Jesus müssten sagen: Nein. Oder mindestens: Eigentlich nicht. Eine solche Antwort aber weist Jesus selber zurück, wenn er die Ansprüche derjenigen zurückweist, die Hand an ihn legen wollen.
Freikirchen zeichnen sich aus Sicht vieler Mitglieder durch eine familiärere Atmosphäre aus; gewünscht ist aber auch die höhere Verbindlichkeit im Gemeindebesuch und in Glaubensdingen. Das kann für normal-katholische oder -evangelische Eltern durchaus bedrohlich wirken. Aber hier muss man in der Regel nichts eskalieren lassen.
[Ich könnte jetzt noch etwas zu religiösen Influencern sagen, aber ich lasse das Internet jetzt doch weg.
1.4 Problembeispiel 3: Internet
Früher hat man gesagt, dass die Eltern in der Pubertät ihre Kinder an die Gleichaltrigen verlieren. Zu groß der Gruppendruck der Freundeskreise und Mitschüler. Die Eltern machten sich Sorgen um das andere Leben ihrer Kinder, und die Jugend antwortete mit dem forschen Spruch: „Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.“ Heute sind es nicht nur Freundeskreise oder Mitschüler, die mehr Einfluss auf die Kinder nehmen als die Eltern. Wir leben in einer Zeit, wo 13-Jährige ihr Leben auf WhatsApp teilen und Zehntausende folgen ihnen (https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/werden-kinder-bei-whatsapp-zu-influencern-und-keiner-merkt-s,Utjz9L5 13. August 2025) oder sich oder andere durch Tiktok-Challenges in Lebensgefahr bringen (Beratung bei https://www.klicksafe.de/news/gefaehrliche-tiktok-challenges-das-muessen-eltern-und-lehrkraefte-jetzt-wissen 24. Mai 2024). Ich lasse das allgemeine Thema Gefahren des Internet, denn mich interessiert das Thema Internet und Religion.
Längst gibt es auch religiöse Influencer. Auch hier gilt: Je weniger Ahnung, umso leichter die Manipulation. Dementsprechend nimmt die Öffentlichkeit religiöse Influencer eher beim Thema „Radikalisierung im Internet“ wahr. (https://www1.wdr.de/nachrichten/hanna-hansen-islamismus-influencerin-100.html 15. August 2025) Gemeint sind meist Muslime, aber es gibt auch christliche Influencer auf einer heiligen Mission. Was gilt mehr: Was die Eltern sagten oder lebten, oder das, was die Influencer im Namen Gottes sagen? Hier haben muslimische Eltern mein Mitgefühl, die plötzlich 150prozentige vor oder hinter dem Bildschirm haben. Sie sind meines Erachtens oft so hilflos wie die anderen Eltern auch.]
1.5 Mehr Pragmatismus
„Du gehörst doch zu uns.“ – „Ich gehöre zu Gott.“ Wenn es so weit kommt, dann ist die Sache kaum noch lösbar. Aber vielleicht gibt es vorher mehr pragmatische Lösungen, als man zunächst denkt. Und ich denke, die sollten möglich sein, wenn wir uns im christlichen Bereich bewegen.
Es ist hilfreich, zunächst einmal nichts für den anderen tun zu wollen. Man muss nämlich einiges für sich selbst tun.
(1) Sich informieren. Ezw.de und relinfo.ch sind gute Adressen. EZW.de von Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Relinfo von Religionsinformationen.
(2) Den eigenen religiösen Standpunkt klären, damit man nicht dauerhaft verunsichert ist.
(3) Zugewandt bleiben, aber keine Zuwendungen machen. Es ist auch sonst gut, wenn nicht das Geld zwischen Menschen kommt.
(4) Vielleicht auch auf Gott warten, wenn man das als gläubiger Mensch kann.
(5) Vor allem aber: Keine Rettungsphantasien entwickeln. Tatsächlich haben manche Familien ihre Kinder aus „gefährlichen Gruppen“ entführt und versucht, sie „deprogrammieren“ zu lassen. So etwas ist bei uns nicht erlaubt. In unserem Rechtssystem haben schon Kinder das Recht auf ihre eigene Sicht der Dinge. Je älter sie sind, umso mehr. D. h. erst recht, wenn Sohn und Tochter volljährig sind, haben sie das Recht auf Religion und Fehler in Sachen Religion.
2. Die Familie Gottes
2.1 Die Familie Gottes: ein inklusives Modell?
Wie gesagt: Unser Predigttext ist oft in die Richtung „Gott mehr gehorchen…“ ausgelegt worden. Glücklicherweise hat die biblische Geschichte nicht nur eine exklusive Seite. Man kann ihr auch integrative, zusammenführende Seiten abgewinnen.
(1) Man kann die Geschichte auch so lesen, dass Jesus Besitzansprüche auf sich zurückweist. Selbst wenn sie in guter Absicht geäußert werden. Auch die Familie Jesus meinte es nur gut. Sie wollte ihn nach Hause holen, um den Wanderprediger vor sich selbst zu schützen. Und zugleich sagen sie: Wir wissen es besser. Das weist Jesus zurück – und das war gut so für uns. Die, die damals gekommen sind, um ihn zu hören, ernennt er zu seiner Familie, Menschen, über deren religiöse und moralische Eigenschaften wir nichts wissen. Das einzige, was wir von ihnen annehmen können: Sie haben sich für Jesus interessiert und das, was er von Gott erzählt. Damit wächst auch für die heutige Zeit die Familie Jesu um alle, die ihn hören wollen. Und sie beschränkt sich auch nicht auf die christlichen Gruppen, die meinen, Jesus schon ganz besonders gut zugehört zu haben.
(2) Der zweite Punkt: Jesus beschränkt seine Familie und damit auch seine Verpflichtungen nicht mehr allein auf die Herkunftsfamilie. Er öffnet sie: Für die, die ihn damals hörten, genauso wie für uns. Für Jesus gehören nicht nur die zur Familie, die Hand auf ihn legen, sondern alle, auf die Jesus seine Hand legt. Das tut er im Bibeltext durch seine Predigt. Und weil wir gerade hier im Gottesdienst sind, sei es festgestellt. Jeder der hier im Gottesdienst sitzt und auf Jesus hören will, darf wissen: „Du gehörst zu mir.“
2.2 Gemeinde als erweiterte und neue Familie
Noch kurz etwas zur Gemeinde als neuer Familie Jesu.
(1) Abgesehen vom Mönchtum – hat die christliche Gemeinde eigentlich immer von der Familie her gelebt. Die ersten Christen lebten jahrhundertelang als Hausgemeinden bzw. erweiterte Hausgemeinden. Bis heute können wir dankbar sein für Familien, die sich ganz in den Dienst einer Gemeinde, landeskirchlichen Gemeinschaft oder eines CVJMs stellen. Sie geben viel und bekommen viel. Church is a lifestyle, sagt dazu eine jugendorientierte freie Gemeinde in meiner Stadt.
(2) Familie ist auch ein Grundmotiv der Gemeindearbeit: in Mutter-Kind-Gruppen und Frauenkreisen, und in anderer Weise bei Kinder-/ Jugendgruppen oder der Hausaufgabenbetreuung. Und in noch größerem Rahmen bieten kirchliche Kindertagesstätten, Seniorenheime, Diakonie, Werkstätten vielfältige Entlastung für Familien. Gemeinde als Familie, das ist hilfreich, wenn Frauengruppen gemeinsam alt werden oder Seniorinnen sich im Alter stützen. Man teilt Themen, Schicksale, Geheimnisse und Gewohnheiten. Es wäre schön, wenn das auch für Männer gelten könnte und für Singles.
(3) Am Ende noch eine kleine Mahnung. Die Gemeinde ist nicht einfach die Wohlfühlgemeinschaft derer, die sich mögen. Nicht bloß eine Wahlverwandtschaft. Gemeinde ist so lange Familie Jesu, wie sie im Kern auch eine religiöse Gemeinschaft ist
Amen
Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Für diese Predigt noch gut zu wissen: Dr. Hansjörg Biener hat 1990-1994 im Curriculum Apologetik der Evang.-Luth. Kirche in Bayern eine Ausbildung zum nebenamtlichen apologetischen Berater gemacht und als Gemeindepfarrer diese Aufgabe auch ausgeübt. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)
Literaturschau
Die in meiner Studienzeit maßgeblichen Exegeten betrachteten Mk 3,20-21.31-35 als zusammengehörig, divergierten aber besonders in der Beurteilung von V. 35 und in der Beurteilung der Historizität. Aus meiner Perspektive nimmt V. 35 dem V. 34 die Schärfe, „Denn: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ bietet eine religiös akzeptable Begründung für Jesu ungehöriges Verhalten.
Dschulnigg, Peter: Das Markusevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Band 2), Stuttgart: Kohlhammer, 2007, S. 121 „V. 20f entwirft eine nicht näher lokalisierte Hausszene und den Aufbruch der Seinen zu Jesus, welcher am Schluss in einem kurzen Negativurteil in direkter Rede begründet wird. Auch wenn die Seitenreferenten diese kurze Szene nicht überliefern, ist schwerlich an eine rein redaktionelle Bildung zu denken, vielmehr ist hier traditionelles Wissen um die Ablehnung Jesu durch die Seinen aufbewahrt.“
Meiser, Martin: Das Evangelium nach Markus (Das Neue Testament Deutsch, Band 2), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2024, S. 66: „Schon Matthäus und Lukas lassen den Stoff von Mk 3,20f aus; einige Handschriften zum Markustext lassen ebenfalls erkennen, dass man den Verwandten Jesu das in V. 21 beschriebene Verhalten nicht zutrauen wollte. Mk 3,31-35 lässt im Gegenzug auch bei Jesus Distanz erkennen. Ein afamiliales Ethos hat sich auch sonst in der Jesuserinnerung erhalten.“
Söding, Thomas: Das Evangelium nach Markus (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Band 2), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, S. 102: „Die Episode hat eine historische Referenz. Da sich die Familie Jesu – mit dem Herrenbruder Jakobus an der Spitze – durch ihr starkes (nachösterliches) Engagement in der Jüngerschaft, speziell von Jerusalem, hohes Renommee verschafft hat, wäre eine Erfindung ähnlich unwahrscheinlich wie im Fall der Verleugnung Jesu durch Petrus. Durch literarische Gestaltung hält Markus eine historische Erinnerung fest. Keiner aus Jesu Familie gehört zu den Zwölf (Mk 3,16-19). Dass der Glaube Familien spalten kann (vgl. Mt 10,43ff. par Lk 12,51ff.), zeigt sich auch in Jesu Familie – ebenso wie der Umstand, dass der Dissens überwunden zu werden vermag (Mk 10,28ff.)“.
Guttenberger, Gudrun: Das Evangelium nach Markus (Zürcher Bibelkommentare), Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2017, S. 91 „Die Frage der Zugehörigkeit wird räumlich inszeniert. Diese Unterteilung in eine Gruppe von Menschen, die draussen stehen (und Jesus nicht richtig verstehen) und solchen, die drinnen sind (und von Jesus unterwiesen werden), findet sich bald wieder […]. Das neue Kriterium setzt die damals und auch heute als natürlich empfundene Zusammengehörigkeit innerhalb der Familie ausser Kraft und ersetzt sie durch ein Kriterium, das man unabhängig von seiner Herkunft erfüllen kann. Die Szene erklärt, wieso man sich in den Jesusgemeinden als ‚Schwester‘ und ‚Bruder‘ anspricht und Loyalitätspflichten sich verändern. […] Im Kontext der Leserschaft werden deren familiäre Probleme in der Szene gespiegelt (13,12): Wie Jesus erleben sie Konflikte in der Familie, die auf ihren Gehorsam gegen Gottes Willen zurückgehen. Sie erfahren auch, dass die Gruppe der Jesusanhänger ein Ersatz für die Familie werden kann und soll (vgl. auch 10,30).“