
1.Mose 28,10-19a
Biblischer Traum – kein Albtraum! | 14. So. n. Trinitatis | 21.09.2025 | 1.Mose 28,10-19a | Klaus Wollenweber |
Liebe Gemeinde,
Ende Juni dieses Jahres fand hier in Bonn die „10. Bonner Kirchennacht“ statt. Gemeinsames Thema für die fast 50 geöffneten Kirchen war: „Nacht der Träume“. Ganz Unterschiedliches wurde in den Kirchen zu diesem Thema angeboten. Ich persönlich war u.a. in der altkatholischen Kirche, in der ein Psychotherapeut mit den anwesenden Zuhörenden über persönliche Träume diskutierte. Es kamen überwiegend Albträume zur Sprache, die den Schrecken und die Verstörtheit der Träumenden offenbarten und mitempfinden ließen.
Ebenso wird von dem Erzvater Jakob im 1.Buch Mose von einem Traum erzählt, über den er ziemlich erschrak. Es ist die erste Erzählung eines biblischen Traums, dem noch in der hebräischen Bibel und im Neuen Testament viele andere folgten. Ich lese aus dem 1.Buch Mose aus dem 28.Kapitel:
10 Jakob machte sich auf den Weg von Beerscheba nach Haran. Er kam an einen Platz und übernachtete dort, weil die Sonne gerade untergegangen war. Hinter seinen Kopf legte er einen der großen Steine, die dort umherlagen. Während er schlief, sah er im Traum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel* stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, andere kamen zur Erde herunter. Der HERR selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: »Ich bin der HERR, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Sie werden so unzählbar sein wie der Staub auf der Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden. Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.« Jakob erwachte aus dem Schlaf und rief: »Wahrhaftig, der HERR ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!« Er war ganz erschrocken und sagte: »Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das Haus Gottes, die Tür des Himmels!« Früh am Morgen stand Jakob auf. Den Stein, den er hinter seinen Kopf gelegt hatte, stellte er als Steinmal auf und goss Öl darüber, um ihn zu weihen. Er nannte die Stätte Bet-El (Haus Gottes).
Liebe Gemeinde,
Träume haben häufig mit der Zukunft unseres Lebens zu tun. Heute – in unserer gegenwärtigen Zeit und Welt, die von Krisengeschehnisse erschüttert wird, fehlen mir visionäre Träume, die zu Problemlösungen hilfreich sein können. Stattdessen wird in harten, festgefahrenen Blöcken gedacht und gehandelt. Da gibt es wenig bis gar keine Visionen, die Denkmauern und Machtkämpfe verändern und durchbrechen. In der biblischen Erzählung verhält es sich anders. Jakob hatte seine traumhafte Vision von einer Verbindung Gottes zu ihm. Er sah im Traum eine Treppe (wörtlich keine „Leiter“), die vom Bereich Gottes zum Bereich der Erde reichte und auf der Boten Gottes hin- und hergingen; er hatte eine Vision, deren Bilder auch entsprechend von uns Menschen zu Gott führten. Und diese eine bildhafte Vision war mit einem ganz positiven Versprechen des Gottes der Erzväter Abraham und Isaak verbunden: „Siehe, ich werde dir beistehen; ich beschütze dich, wo du auch hingehst.“
Liebe Gemeinde, wir können wohl erst nachvollziehen, was für eine Bedeutung diese Zusage Gottes im Traum für Jakob bedeutete, wenn wir uns daran erinnern, dass Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau ist. Denn er, Jakob, hatte ja seinem Bruder Esau den Segen des Vaters für den Erstgeborenen mit einer List weggenommen; und Esau ist in seiner Empörung darüber entschlossen, seinen Bruder Jakob umzubringen. Jakob ist also auf der Flucht, ohne Dach über seinem Kopf, ohne Schutz in der Dunkelheit der Nacht. Eine furchtbare Lebenssituation!
Genauso berichten heute Flüchtlinge von den schrecklichen Nächten mit der Angst vor all dem, was auch immer in solchen kriegerischen Notsituationen passieren kann. Denken wir beispielhaft an die russischen, nächtlichen Drohnenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine oder an die verzweifelten Flüchtlinge im Gazastreifen, die vor den israelischen Bomben-Angriffen hin- und hergetrieben werden und nie wissen, ob sie nicht doch von den Bomben getötet werden. Gottes Zusage an Jakob „ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.“ – dies ist wahrhaftig eine traumhafte Verheißung, wie es sich alle Flüchtlinge erhoffen und wünschen!
Jakob erwacht vom Traum. Er erschrickt! Da ist noch keine Freude über die ihm zugesagte, zukünftige Rettung. Ja, er erschrickt, weil er spürt, dass er an einer besonderen Stelle hier auf der Erde die göttliche Traumvision erlebt hat. Neben der Vision von der Treppe hat er auch das Bild von der himmlischen Tür vor Augen. Eine Tür zu Gott! Da wandelt sich der Schrecken in Ehrfurcht! Jakob erkennt einen Zugang zu dem Herrn und Schöpfer, der ihn behüten will auf allen seinen Wegen.
Die Tür ist in vielen Religionen ein Sinnbild für den Übergang von dem menschlichen zum göttlichen Bereich, vom Diesseits zum Jenseits. Sie steht für den Zugang zum Schöpfergott und bietet neue Möglichkeiten der Begegnung. In Träumen werden Türen auch Symbole für Übergänge von Lebenssituationen und Entscheidungen wie Geburt, Elternschaft und Tod. Türen stehen für Verbindung und zugleich Trennung, für Hoffnung und Enttäuschung, Einladung und Ausgrenzung. In unseren Redewendungen spiegeln sich die unterschiedlichen Deutungen: „vor der eigenen Tür kehren“; „die Türe vor der Nase zuschlagen“; „einen Fuß in der Tür haben“; einer Sache „Tür und Tor öffnen“; durch die Tür eintreten oder besser draußen bleiben. Mit „Tür“ und „Tor“ kann eine sinnbildliche Welt verbunden sein, die zugleich von tiefsten Ängsten und von größten Hoffnungen von uns Menschen erzählt.
Von dem auferstandenen Christus wird in dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea übermittelt: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten …“ (Offbg. 3). Wie hören wir dies in den gegenwärtigen großen, politischen Auseinandersetzungen? Wir wünschen uns doch, dass Türen in Konfliktlösungen geöffnet werden und dass noch vorhandene Zugänge offen bleiben für mehr Gerechtigkeit. Erinnern wir uns an den Herbst 1989 in Berlin: die plötzliche Öffnung der Türen in einer vorher undurchdringlichen Mauer macht Mut und bringt Hoffnung.
Liebe Gemeinde, Die Treppe und die himmlische Türe sind für Jakob so eindrucksvoll, dass er diesen Platz als Ort Gottes bezeichnet, als „Haus Gottes“, als Wohnstatt Gottes, als Beth-El. Dieser Ort „Bethel“ existiert bis heute in Israel. Einigen von uns ist das Wort „Bethel“ ein Begriff durch die diakonischen Einrichtungen in Bethel bei Bielefeld, die Wohnungen für behinderte Menschen jeden Alters, für behinderte Werkstätten, Krankeneinrichtungen und für die einzigartige Sammelstelle für Briefmarken. Bethel = Haus Gottes mit offenen Türen. Dieses haben wir im übertragenen Sinn heute in vielen gesellschaftlichen Problemfeldern nötig.
Auf der biblischen, traumhaften Treppe mit der himmlischen Tür stellt sich Gott selbst dem Jakob in den Weg. Dort auf der Flucht – bei Nacht an einem einsamen Ort -, dort begegnet dem hinterlistigen Betrüger Jakob der lebendige Gott. In dieser biblischen Erzählung liegt ein enormer Trost für uns heute: Gott kommt uns entgegen, wann und wo er will! Wo immer wir Gott suchen oder wohin wir auch von Gott weg wollen und uns in unwegsame Gedankengänge des Glaubens verstricken, – Gott ist da und lässt uns nicht im Stich! „Wahrhaftig! Der HERR ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!“ Jakob hat die Nähe Gottes erfahren; es gibt eine Verbindung zwischen seinem Fluchtweg und dem Bereich Gottes. Jakob ist nicht allein auf seiner Wanderung des Lebens durch unbekanntes Land.
Das ist ein befreiender Traum, kein Albtraum, liebe Gemeinde. Das kann uns ermutigen; denn das ist in der Bibel eine beispielhafte Erzählung. So gilt uns: Gott begleitet uns auf unserer Lebenswanderschaft auch gegen unsere Angst und Resignation, die uns mit Recht befällt angesichts der Kriege in unserer Zeit mit Millionen Toten, Flüchtlingen und Hungernden. Wir können gar nicht überall helfen, auch wenn wir noch so über menschliche Machenschaften entsetzt sind. Unsere eigenen Kräfte und Möglichkeiten sind begrenzt. Dennoch können wir auch nicht unsere Hände in den Schoß legen und alles weitere unserem Begleiter Gott überlassen. Jakob ist nach seinem Traum nicht liegengeblieben und hat sich über die frohe Botschaft seines Lebens gefreut. Nein! Er ist aufgebrochen. Und damit ermutigt er uns, genauso die nächsten eigenen Schritte verantwortungsvoll zu tun, Schritte, die uns in unserem Bereich möglich sind. Natürlich sieht dies bei jeder und jedem von uns anders aus; es gibt kein allgemeines Rezept für eigenes Engagement. Denn wir leben in der eigenen Lebensgeschichte an unterschiedlichen Erfahrungspunkten.
Aber aller Einsatz geschieht ohne Angst und Hemmungen – so wie Jakob kein Wort des Strafgerichts für vergangenes Tun hört, kein Wort des Vorwurfs und keine tadelnde Missbilligung seiner vorausgegangenen Schurkerei. Wir können nur staunen und aufmerken: Das ist Gottes barmherziges, aktives und hilfreiches Handeln für uns. Er behaftet uns Menschen nicht bei unserer möglicherweise dunklen Vergangenheit, sondern öffnet uns eine Tür im Licht der gegenwärtigen Lebenssituation. Und auch Jakob antwortet Gott nicht mit einer herausragenden Leistung; er nimmt den Stein, den er zum Schutz seines Kopfes nachts dorthin gelegt hatte, und bestimmt diesen als Denkmal zur Erinnerung an diese Begegnung Gottes mit ihm. Was ihm gleichsam vor den Füßen lag, das bekommt eine neue Bedeutung. Unser Lebensalltag bietet uns ebenso genügend Möglichkeiten, Gott für seine Begleitung, für seine Bewahrung und für sein barmherziges, liebevolles Einschreiten Dank zu sagen.
Liebe Gemeinde, bei der Berufung der ersten Jünger im Johannes-Evangelium findet sich ein Ausspruch Jesu, der diese Traumvision des Jakob nach Jahrzehnten wieder aufnimmt. Jesus sagt zu Nathanael: „Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Boten Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn.“ (Joh. 1, 51). So ist Jesus Christus selbst zu dieser Treppe und Tür, dieser Verbindung zu Gott geworden. Er ist gleichsam die Brücke zwischen dem himmlischen Bereich Gottes und dem irdischen Bereich von uns Menschen. Gott lässt uns nicht verloren gehen: er kommt uns als rettender Begleiter entgegen. Er wird uns nicht verlassen, auch wenn wir es anders spüren. Gottes Nähe zu uns ist kein Albtraum, sondern eine befreiende Ermutigung zum alltäglichen Leben im Miteinander. So bewahre uns auf unserer Lebenswanderschaft der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft; er bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserm Herrn. Amen
Lieder: EG Nr. 361: Befiehl du deine Wege …
EG Nr. 171: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, …
Psalmgebet: Psalm 126
Bischof em. Klaus Wollenweber
53129 Bonn
E-Mail: Klaus.Wollenweber@posteo.de
Viele Jahre Gemeindepfarrer in der Ev. Keuzkirchengemeinde Bonn; ab 1988 theologischer Oberkirchenrat in der Ev. Kirche der Union (EKU) Berlin (heute: Union Ev. Kirchen (UEK) in Hannover); ab 1995 Bischof der „Ev. Kirche der schlesischen Oberlausitz“ mit dem Amtssitz in Görlitz / Neiße (heute: „Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz“ (EKBO); seit 2005 im Ruhestand wohnhaft in Bonn. Häufig aktiv in der Vertretung von Pfarrerinnen und Pfarrern in Bonn.