1.Mose 28,10-19a

· by predigten · in 01) 1. Mose / Genesis, 14. So. n. Trinitatis, Aktuelle (de), Altes Testament, Archiv, Beitragende, Bibel, Deutsch, Dörte Gebhard, Kapitel 28 / Chapter 28, Kasus, Predigten / Sermons

Dass der Mann so schlafen kann! | 14. So. n. Trinitatis | 21.09.2025 | 1.Mose 28,10-19a | Dörte Gebhard |

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis, am Schweizerischen Dank-, Buss- und Bettag, am 21. September 2025 um 9.30 Uhr in der Reformierten Kirche in Kirchleerau/Schweiz über 1. Mose 28, 10-19a: «Dass der Mann so schlafen kann!»

 Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus. Amen.

 Liebe Gemeinde

Hören wir auf eine der berühmten Gute-Nacht-Geschichten von Jakob aus dem Buch Genesis, aus dem 28. Kapitel:

 10 Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. 11 Er kam an einen bestimmten Ort und übernachtete dort, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. 12 Da hatte er einen Traum: Siehe, eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Und siehe: Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. 13 Und siehe, der HERR stand vor ihm und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich nach Westen und Osten, nach Norden und Süden ausbreiten und durch dich und deine Nachkommen werden alle Sippen der Erde Segen erlangen. 15 Siehe, ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. 16 Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. 17 Er fürchtete sich und sagte: Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. 18 Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. 19 Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El – Haus Gottes. (Einheitsübersetzung, 1. Mose 28, 10-19a)

 

I Der erste Blick: Jakob hat es etwas unbequem auf der Durchreise

Jakob ist unterwegs. Das ist eine Selbstverständlichkeit für einen Nomaden mit viel Vieh im 2. Jahrtausend vor Christus. Diese Tatsache allein ist der Überlieferung nicht wert …
Aber Jakob schafft es nicht, vor Einbruch der damals totalen Dunkelheit ein Zelt aufzustellen und muss diesmal unter freiem Himmel nächtigen. Einen Stein sucht er sich gerade noch, um sich aufs Ohr zu legen. Ziemlich unbequem. Dass der Mann so schlafen kann! Vermutlich erschöpft von der Tagesreise schläft er gleich ein, «träumt was Schönes», wacht früh am Morgen auf und stellt seinen «Kopfkissenstein» auf, damit er später die Stelle wiederfindet, falls er je ein zweites Mal genau dort vorbeikommen sollte.

II Der zweite Gedanke: Was man nicht sieht  

Jakob ist in Wahrheit auf der Flucht und es geht um sein Leben. Ausgerechnet vor seinem eigenen Zwillingsbruder muss er fliehen, den er zweimal übel betrogen hat: erst um das Erbe und dann um den Segen. Einmal mit einem Linseneintopf, dann mit Fellverkleidung, um ganz hinterhältig seinen alten, fast blinden Vater zu täuschen. Seine eigene Mutter, Rebekka, hatte ihm zur Flucht geraten, denn sie kennt ihre Söhne beide und befürchtet zu Recht Mord oder Totschlag unter ihnen. Besonders sympathisch ist Jakob also nicht: ein listiger Vortäuscher falscher Tatsachen, ein Lügner, ein Betrüger, dazu ein Wiederholungstäter … vor noch Schlimmerem bewahren ihn Gott und seine Mutter.

Jakob hat an diesem Abend nach Sonnenuntergang alles bei sich, was man für eine schlaflose Nacht braucht: Angst vor unmittelbarer Verfolgung, kein Dach über dem Kopf und völlige Ungewissheit, wie dieser Onkel Laban in Haran ihn empfangen wird, wenn er es denn überhaupt bis dahin schafft.

Die Wunder in dieser Geschichte fangen schon an, lange bevor die traumhafte Himmelsleiter in den Blick kommt.

[Jakob] nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Das kann ich fast nicht glauben in seiner Situation, dass der Mann so schlafen kann!

Dabei ist das Einschlafen immer und für uns alle wundersam und geheimnisvoll zugleich. Das Geheimnis des Einschlafens hat vor einiger Zeit der Philosoph Peter Sloterdijk in poetische Worte gefasst, die zu Jakob passen – und zu uns auch, wenn wir denn gut einschlafen können …
Wenn wir uns nicht hin- und herwälzen wie die Gedanken im Kopf, wenn wir unser Kopfkissen nicht wie einen unbequemen Stein empfinden, wenn wir nicht hellwach sind bei jedem Geräusch, wenn wir nicht jede Viertelstunde der Kirchturmuhr und ihrem Schlag lauschen …

Sloterdijk schreibt, als wüsste er vom uralten Jakob:
«Der Schlaf, ich weiß, löst kein Problem, er wird den Problematischen entwaffnen. Wo sind die Themen, die auf der Tagesbühne dringend waren? – sie gehen mich nichts mehr an. […] Die Welt hält mich nicht länger hier – sie geht aus mir fort, wie eine Schwester mit Flügelhaube und weiten Gewändern, die hinter sich das Licht ausmacht. Was kann ich anderes tun, als gutgläubig sie gehen zu lassen?
Dass ich ein Weltkind bin, trotz allem – zeigt es sich nicht daran, dass mein Vertrauen ausreicht, um den Weltuntergang ohne Panik hinzunehmen? Bis morgen bin ich unsterblich. Die Welt, sie wird doch wiederkommen – wie ein alter Stern und ein neues Versprechen …»[1]

Jakob schläft ein und gibt alles auf: sein Selbstbewusstsein samt dem schlechten Gewissen wegen der Untaten an seinem Bruder; alles, was er hat und weiss und kann, alles, was er liebt und hofft und glaubt, alles entschwindet ihm. Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes. Jedes Einschlafen ist auch ein kleines Sterben-üben. Wir alle üben auf diese Weise viel, durchschnittlich viel mehr als die Menschen zu Jakobs Zeiten.

«Im Jahr 2024 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von männlichen Neugeborenen in der Schweiz 82,5 Jahre; bei den weiblichen Neugeborenen waren es 86 Jahre.»[2]
Männer erleben das «kleine Sterben», das abendliche Einschlafen also, durchschnittlich ungefähr 30’000 Mal in ihrem Leben, natürlich abhängig davon, wie viele Nächte sie durchmachen.

Frauen schlafen selbstverständlich auch nicht jede Nacht, aber sie erleben es statistisch etwas öfter, ca. 31’400 Mal, erleben oder erleben gerade nicht, wie es ist, Sinn und Verstand und alles, was eine Person ausmacht, zu verlieren und ohnmächtig und verletzlich dazuliegen und dann zu träumen. Ein Drittel unserer Lebenszeit verschlafen wir und sind «nicht da», völlig unabhängig davon, was wir jeweils zuvor getan haben, als wir wach waren.

Die Welt hält Jakob nicht länger auf, er schläft jetzt.
Noch einmal Peter Sloterdijk über den Menschen als immer wieder schlafendes Wesen:
«Nicht wir machen eine Pause, wenn wir schlafen, sondern die Welt hat Pause, wenn der Schlaf uns vorübergehend von ihr entfernt. […] In Wahrheit ist unser ‘Aufenthalt’ in der Welt ein ständiges Pulsieren zwischen Dasein und Fortsein.»[3]
Aber Gott weiss, wo er uns finden kann! Tagsüber hat Jakob zu tun, nachts ist er zu finden.

Wir alle sind Nomaden wie Jakob, immer unterwegs zwischen Dasein und Dort, zwischen Hier und Fort. Wir ziehen hin und her zwischen Tag und Traum mit allem, was uns bewegt. Wenn es auch keine grossen Viehherden sind, so vielleicht riesige Gedankenkreise, die uns umgeben und verfolgen. Wenn wir auch nicht so dreist betrogen haben, so gehen uns dennoch gewisse Worte nach, die wir zu jemandem gesagt haben, die wir bereuen, aber nicht wieder einfangen können. Dazu liegen wir immer wieder wie Jakob auf dem steinharten Boden der Tatsachen, aber verlassen ihn auch immer wieder, so oft wir auch nur schlummern. Denn schlafen müssen wir, sonst sterben wir.

III Der dritte Moment: Ein Traum

In Nächten wie diesen, in jener Nacht, von der die Genesis erzählt, erwarte ich, dass einer wie dieser Jakob einen Albtraum hat. (Ich selbst bin immer wieder geplagt von Albträumen, schon von Kindesbeinen an, seit ich ans Träumen zurückdenken kann.)

Aber Jakob «träumt was Schönes».
Siehe, eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Und siehe: Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.

Davon haben sie in Nordnorwegen, wohl in einer Polarlichtnacht, auch geträumt – und nach dem Aufwachen Jakobs Himmelsleiter nachgebaut.

In Alta, einer Stadt im hohen Norden, in der Finnmark, gelegen an einem Fjord des Polarmeeres, haben sie eine ganz neue Kirche gebaut, die sog. Nordlichtkathedrale. Zu Beginn unseres 21. Jahrhunderts, in dem manche Kirchen leer stehen, aufgegeben werden oder schon längst umgenutzt, verkauft oder vermietet sind, ist eine ganz neue Kirche ein Wunder für sich. Es war jedenfalls die neueste Kirche, in der ich je in meinem Leben war. Erst 2013 wurde sie eingeweiht.

Im Kirchenschiff gibt es einen hohen, hohlen Innenturm, in dem eine goldene Leiter gen Himmel führt. Die Leiter sieht nicht besonders stabil aus, aber für die Boten Gottes, die ganz unbeschwert unterwegs sind, ist sie gewiss tauglich. Für Menschen ist sie allerdings unbesteigbar – sie scheint zu schweben.

Denn das Betreten auch nur der untersten Leitersprosse gen Himmel bleibt auch Jakob verwehrt. Er sieht die Engel hinauf- und hinuntersteigen, der Verkehr zwischen Himmel und Erde ist rege in beide Richtungen. Aber er selbst kann nicht hinauf. Der Himmel steht ihm offen, aber vorerst nur zum Schauen, nicht zum Begreifen, vorerst nur zum Vor-sehen, nicht zum Hinaufgehen.
Jakob sieht die Boten Gottes, aber er kann nichts tun, um dazuzugehören.

Gott kann nicht einmal ein so gerissener Typ wie Jakob austricksen, da hilft keine Fellverkleidung. Gott ist auch nicht zu übertölpeln für etwas zu essen. Gott ist auch vom grössten Betrüger nicht zu betrügen, von einem Lügner nicht zu belügen. Das tröstet mich, wenn ich sehe, wie auf Erden gelogen und betrogen wird, wie Leute über den Tisch gezogen und für dumm verkauft werden, wie Mächtige es sich leisten können, böse Märchen in die Welt zu setzen, weil niemand zu widersprechen wagt.

Der Himmel ist Gottes Reich, da kann sich kein Jakob und bis heute niemand sonst selbst Zutritt verschaffen.
Jakob aber bekommt eine Verheissung Gottes, die das Leben auf Erden betrifft. Gott stellt sich vor und gibt Jakob die gleiche Verheissung, mit der er schon Abraham zum Aufbruch bewegt hat. Gott verspricht Land und Nachkommen und Segen und sicheres Geleit bis zur Heimkehr.

 Jakob bekommt nicht nur viel mehr als er verdient hat,
er bekommt sogar viel, viel mehr, als er sich gewünscht hat,
er bekommt so viel von Gott, dass er es sich nicht einmal vorstellen kann.
Die Versprechen Gottes sind zu gross für ein einzelnes, individuelles Menschenleben.

IV Der vierte Augenblick: Kein böses, sondern das beste Erwachen

Jakob hat am anderen Morgen gut ausgeschlafen, steht auf und erinnert sich an seinen Traum vom offenen Himmel. Wir würden eine Markierung auf der digitalen Landkarte machen, er richtet ein Steinmal auf. Wir würden womöglich morgens die Tageslosung lesen, er giesst Öl über den Stein. Wir würden Selfies von allen Seiten machen, Jakob gibt dem Ort einen neuen Namen: Bet-El, Haus Gottes.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Gott erfüllt seine Verheissungen an Jakob, er findet Land und hat Nachkommen, er empfängt Gottes Segen und kehrt nach langer Zeit heil heim.

Gott erfüllt seine Verheissungen bis auf den heutigen Tag, sonst sässen wir heute nicht hier in einem Bet-El, in einem Haus Gottes und wüssten nichts vom offenen Himmel. Daran muss ich denken, wenn dieser Tage irgendwo eine Leiter an einem Apfelbaum lehnt …

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.


PD Dr. Dörte Gebhard, Pfarrerin in Schöftland/Schweiz
Mail: doerte.gebhard@web.de

 

Fussnoten:

[1] Sloterdijk, Peter: Wie rühren wir an den Schlaf der Welt. Vermutungen über das Erwachen, in: ders.: Weltfremdheit, Frankfurt am Main 1993, S. 331f.

[2] Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/18667/umfrage/lebenserwartung-in-der-schweiz/, abgerufen am 14. 9. 2025.

[3]  Sloterdijk, Schlaf, S. 373f.