
Wohnen im Worte Gottes
Kantate – 10.5.2020 | Johannes 8,28-36 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Margrethe Dahlerup Koch | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |
Kann man in einem Worte bleiben? Ja, das hat Jesus gesagt in dem Wort, das wir gerade gehört haben. „Wenn ihr bleiben werdet in meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger“[1], sagt er.
„Wenn ihr bleibt“ – und nun müsst Ihr einen Augenblick mit mir im Lexikon nachschauen, denn das griechische Wort, dass hier mit „bleiben“ übersetzt wird, bedeutet auch „sich aufhalten“ bzw. „wohnen“. Also: „Wenn ihr euch in meinem Wort aufhaltet, in ihm wohnt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger“. So hätte man es auch übersetzen können.
Man kann sich in verschiedenen Worten aufhalten. Da sind die ängstlichen, vorsichtigen Worte – „was nun, wenn …, das macht mir Sorgen“. Wenn wir uns in den Worten aufhalten, wird der Raum um uns enger. Da ist es eng um einen. Die Gardinen sind vorgezogen. Und man wagt sich nicht gerne weiter weg, als dass man wieder zum Melken zuhause sein kann.
Oder man kann sich in den tröstenden, fürsorglichen Worten aufhalten. Das tun die, die sagen: „Soll ich helfen …, willst du lieber …, du wirst sehen, morgen …“. Der Aufenthalt in diesen Worten schafft einen warmen Raum hinter Fenstern mit kleinen Sprossen, die die Welt für einen aufteilen in kleinere überschaubare Ausschnitte. Gemütliche und ruhige Wohnungen, in denen man sich geborgen fühlt und Kräfte sammelt.
Da sind auch die großen Worte. Die Worte, die verurteilen und beurteilen – die mit großen Buchstaben geschrieben werden und nicht zur Debatte stehen, sondern gerne auf Titelseiten in bestimmter Form stehen: „Der Generationenkonflikt“, „der Flüchtlingsstrom“, „die perversen Mörder“, „die leichten Mädchen“. Hält man sich in diesen Worten auf, das ist man gleichsam in einem großen leeren Saal mit hartem Fußboden und leeren Wänden. Es hallt, und die eigenen Schritte hallen nach. Man kann verschwinden und sich selbst verlieren in diesen Worten.
Und dann sind da die verpflichtenden und stolzen Worte. Wohnt man in ihnen, wohnt man in festmöblierten, stilreinen Räumen zusammen mit „immer“ und „niemals“. Das sind Worte wie diese: „Wir in Westjütland waren nun schon immer der Meinung …“, „in unserer Familie kennen wir keine Scheidungen“, „man pflegt seine Ausbildung fertigzumachen“, oder auch: „Wir sind Nachkommen Abrahams und waren niemandem untertan“.
Das sind gute und starke Worte, in denen man sich aufhalten kann. Ist man in ihnen, kann man frei ein- und ausgehen, denn man weiß, zu Hause ist es am schönsten, und draußen ist das etwas anderes, das sicherlich ganz gut sein kann – für andere.
Aber dann sind da auch die Worte Jesu. In denen kann man sich auch aufhalten. Und wenn man das tut, dann geschieht etwas. In dem Augenblick, wo man sich in ihnen niederlässt, ist man etwas, was man vorher nicht war. Dann ist es möglicherweise gut, aber nicht genug, „Nachkomme Abrahams“ zu sein oder „Westjütländer“ oder „treuer Ehegatte“ oder „tüchtiger Gymnasiast“. Und dann ist möglicherweise Grund für Besorgnis, und man braucht Trost. Da kann sehr wohl etwas sein, über das man sich schämt, Dinge, für die man verurteilt werden kann. Aber das ist nur nichts von dem, was etwas darüber sagt, wer man ist und was man kann. Denn wenn man sich in den Worten Jesu aufhält, dann ist man ein Jünger, sagt er: „Wenn ihr in meinem Worte bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger“.
Dann ist man eben dies. Und dies, was man kann. Trotz Ängstlichkeit, Scham, das eigene Urteil oder das Urteil anderer, trotz eines soliden Hintergrunds und vernünftiger Schuhe: „Wenn ihr in meinem Worte bleibt, seid ihr, seid ihr wahrhaftig meine Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“.
Die Wahrheit. Im Johannesevangelium ist Wahrheit nicht gleichbedeutend mit: „die korrekte Antwort auf die Rätsel des Lebens und unbeantwortete Fragen“. Wahrheit hat bei Johannes etwas damit zu tun, wie man sieht und einsieht. Vielleicht kann man sagen, dass Wahrheit im Johannesevangelium bedeutet, dass man sehen kann, wie Gott sieht.
Wenn man sich also in dem Wort Jesu aufhält und damit die Wahrheit kennenlernt, dann bedeutet das nicht, dass man Erklärungen und Antworten erhält. Aber man erhält einen Blick für etwas. Man sieht etwas, sieht etwas ein.
Man hält sich in einem Wort auf, das die Wände verschwinden lässt, das Dach wird höher, man kann frei in die Welt blicken. Und sehen, dass sie Gott gehört. Denn man kann sehen, dass der Himmel nirgends die Erde loslässt.
Wie in einer Übung im Zeichnen, wo man nicht die Dinge, den Menschen oder die einzelnen Teile der Landschaft zeichnet, sondern den Himmel darum herum, und dadurch kommt alles zum Vorschein. Man bekommt einen Blick dafür, dass der Himmel überall ist und manchmal alles. Der neugepflanzte Baum draußen an der Ecke, die Häuser, die Bank drunten im Park, auf der sie sitzen, die die es nicht aushalten können, in anderen Räumen zu sein. Der Himmel ist um sie herum mit ihren Tüten und das Kind im Kinderwagen, der vorbeirollt. Der Himmel umschließt den Sterbenden oben im Krankenhaus und die, die dabei sitzen und warten. Und der Himmel berührt den Taxifahrer mit der Zigarette und dem fremden Akzent, und die beiden, die sich bei offenen Fenstern streiten.
So sieht es dort aus, wo wir uns in dem Wort Jesu aufhalten und deshalb seine Jünger sind. Das gleich völlig der Welt, die Gott so geliebt hat, dass der seinen Sohn hingab. Und der Sohn gab sein Leben, und deshalb ist das Leben nun hier in der Welt, der er sein Leben gegeben hat.
Es liegt deshalb nun an uns, dass wir die geborgenen, kleinen, leeren und ordentlichen Räume verlassen, um hinauszugehen zu all den anderen. Aufenthalt nehmen in einem unerwarteten Gespräch oder den wunderbaren eines Liedes.
Sich in dem Wort Jesu aufhalten und ein Jünger sein, das heißt sich eine Zeitlang an seinem Küchentisch oder einer Kirchenbank niederlassen. Die Zeit teilen, zuhören, fragen, sich stören, überraschen, sich erschüttern lassen, klüger werden. Oder ganz einfach: fröhlicher.
„Ihr sollt wahrhaft frei werden“. So beschreibt Jesus, was das bedeutet, in seinem Wort zu sein, Jünger zu sein und einen Blick zu haben für die Welt Gottes. In einer anderen Lesung diesen Sonntags (2. Kor. 5,14-21) beschreibt er Apostel Paulus die Freiheit mit einem bemerkenswerten Ausdruck. Ernennt die Freiheit einen Zwang. „Die Liebe Christi zwingt uns“.
Die Liebe zwingt. Zwingt dazu, nicht gleichgültig zu sein. Das weiß man, wenn man ein Kind hat, das nachts schreit, einen kranken Geliebten oder einen unglücklichen Freund. Die Liebe zwingt, dass einem die Furcht, das Unglück, die Verletzbarkeit oder die Dummheit des anderen nicht gleichgültig sein kann. Man muss aufstehen, beistehen, Zeit aufwenden, widersprechen. Das ist nicht etwas, was man gewählt hat, und deshalb ist der andere auch nachher keine Dankbarkeit schuldig.
Denn es war die Liebe, die einen gezwungen hat, weil die Liebe nie gleichgültig sein kann.
Deshalb redet Jesus im Imperativ zu den Menschen und sagt Worte wie dies: „Geht, glaubt, kehrt um, öffnet euch, kommt heraus, steht auf, erhebt euch“.
Aber er sagt nie: „Setz dich hin, bleib stehen, bleib liegen“, und nur zu den Dämonen sagt er: „Halte den Mund“. Er ruft die Menschen stets zur Bewegung, der Bewegung hinaus in die Welt. Und er tut dies in einem unbedingten Imperativ.
So zwingt und befreit die Liebe Christi in derselben Bewegung.
Zwingt die Liebe Christi – macht uns der Sohn wirklich frei, so dass wir einen Blick dafür bekommen, dass die Welt und die anderen und wir selbst Gott gehören. Dann brauchen wir uns nicht mehr selbst zu behaupten und die anderen als unsere Gegner zu betrachten, die uns betrügen, ausnutzen und lächerlich machen wollen. Wir brauchen nicht mehr in den kleinen, verschämten und ängstlichen Isolationszellen zu leben.
Dann geht es nicht darum, ob wir Liebe, Vergebung, Glaube und Hoffnung bei uns selbst und den anderen hervorbringen können. Denn das ist alles schon da. Und wir leben mitten drin. Wir können dem so gesehen nicht entgehen, ihm nicht entgehen.
Hört gut zu auf das, was wir beim Abendmahl hören im Eingangsgebet: „Du, Christus, bist selbst unter uns mit allem Reichtum deiner Liebe“.
Es war am Ostermorgen. Christus stand auf von den Toten. Und jetzt ist der ganze Reichtum seiner Liebe hier. Bei uns. Zur freien Verfügung und Weitergabe. Amen.
Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
DK-6950 Ringkøbing
Email: mdkoch(at)mail.dk
[1] Die Luther-Übersetzung hat: ”an” meinem Worte, die dänische Übersetzung übersetzt mehr wörtlich wie die Zürcher Bibel: „in“ meinem Worte.