
Ambiguitätstoleranz
(dänische Perikopenordnung)
Wir müssen in irgendeiner Weise in der Zweideutigkeit leben, müssen damit leben, daß es genauso gut anders sein könnte. Daß man es aus einer anderen Perspektive sehen kann. Daß wir keine klaren Antworten geben können auf die vielen Antworten des Daseins.
Die wichtigsten Dinge im Leben kann man nicht direkt aussprechen – so wie die Juden heute Jesus dazu bringen wollen, es auszusprechen: „Bist du der Christus, so sage es frei heraus“.
Die entscheidenden Dinge im Leben kann man nicht in einer so eindeutigen Weise aussprechen, denn dann verlieren sie die Tiefe, die Dimension, die sie gerade zum dem Entscheidenden und Wesentlichen im Leben macht.
Mann kann sich aber dennoch sehr wohl dabei ertappen zu denken, daß es doch schön wäre, wenn alles viel einfacher wäre und nicht so kompliziert. Und es gibt auch viele Beispiele im Laufe der Geschichte, daß dieser Drang realisiert worden ist in der Form von eindeutigen Beschreibungen der Wirklichkeit.
Im Bereich des Politischen führt dieses eindeutige Denken zu totalitären Regimen. Im Bereich der Religion führt dieses eindeutige Denken zu fundamentalistischen Lebensregeln. Aber auch in unserer modernen sogenannten freien Welt finden wir die Eindeutigkeit: Z.B. wenn man sich so sehr auf den ursächlichen Zusammenhang konzentriert zwischen der eigenen gesunden oder ungesunden Lebensweise im physischen wie psychischen Sinne und dem Leben, das sich daraus ergibt. Das wird dann so dargestellt, als sei das alles ganz einfach und als ginge es nur darum, ökologische Mohrrüben zu essen und Streß zu vermeiden.
Aber diese eindeutige Beschreibung der Gesellschaft oder des Religiösen oder des guten Lebens führt fast stets zu Unterdrückung und Verurteilungen, nicht zuletzt Selbstverurteilungen, zu Verschlossenheit, Stagnation und Mangel an Neudenken.
Ein Autor wie Milan Kundera, der sein Land, die Tschechoslowakei, erlebt hat, wird von Eindeutigkeit in der Form marxistischer Ideologie bedrängt. Er will in seinem gesamten Werk zeigen, wie gefährlich es ist, die Vielfalt der menschlichen Lebenswelt einer festen Deutung zu unterwerfen. Kundera hat in seinen Romanen beschrieben, welchen Preis der Mensch für die Eindeutigkeit zahlt: die Angst vor dem Fehltritt, die Angst, zu viel zu sagen, mißverstanden zu werden, die Angst vor dem Vorwurf des Verrats, die Angst, ausgeschlossen zu werden.
In der heutigen Erzählung wird das sehr gut veranschaulicht. Hier steht nämlich, daß sie einen Kreis um Jesus schließen und darauf bestehen, daß er direkt sagt, wer er ist.
Denn diese beiden Dinge gehören zusammen. Will man Eindeutigkeit, mauert man die Wahrheit ein. Dann schließt man sich ein in seine eigene Wahrheit.
Und eben dies versuchen sie, die ihn umringen mit der Frage nach Eindeutigkeit. Sie schließen ihn ein, um einen Begriff davon zu erhalten, wer er ist. Um ein für allemal Klarheit zu gewinnen – geradeheraus gesagt in einem Satz, ob er Christus ist. So als handele es sich um ein Gerichtsverfahren: Schuldig oder nicht schuldig.
Aber Christus ist das, was sich nicht in die Eindeutigkeit einschließen läßt.
Christus ist das Lebendige, das, was in Bewegung ist.
Christus ist Tat. Christus ist das, was Leben schenkt.
Christus kann man nicht einschließen in einem Ring. Er wird sich einen Weg heraus aus diesem Ring bahnen.
Und eben dies tut Jesus auch, indem er ihnen sagt, daß er es ihnen schon gesagt hat, sie haben es nur nicht geglaubt.
Er hat ja viele Taten vollbracht, und diese Taten zeugen davon, daß er von Gott gesandt ist, daß er also Christus ist.
Und nun haben sie mit ihrer Anfrage also gezeigt, daß sie das nicht verstanden haben, was er getan hat, und damit zeigen sie auch, daß sie nicht an ihn glauben.
Sie glauben, man könne sich der Wahrheit leicht bemächtigen, indem ihnen – direkt – mitgeteilt wird, ob er nun auch wirklich Christus ist. Nicht indem man sich zu ihm verhält, indem man auslegt, versteht, sondern nur indem man zur Kenntnis nimmt. Wie ein Gesetz.
Aber so läuft es nicht. Ihnen wird bedeutet, daß es hier darum geht, ob man seine Taten annimmt, sein Leben versteht als ein leben von Gott gesandt. Also eine Frage nach Glauben. Also etwas, was einen in hohem Maße persönlich betrifft.
Alles ist eine Frage nach Glauben. Aber nicht jeden beliebigen Glauben.
Der Christusglaube ist nicht ein Glaube an die Eindeutigkeit, sondern der Glaube, der uns mit der Zweideutigkeit leben läßt, die in dieser vielfältigen Welt ist, uns mit ihr leben läßt als einem Gut – die Möglichkeiten sehen läßt, die darin liegen. Eben dies, daß immer mehr zu sagen ist als nur das, was sich geradeheraus sagen läßt.
Sich dazu zu bekennen, daß man glaubt – das ist die Art und Weise, in der wir mit der Zweideutigkeit leben können, leben können mit der Tatsache, daß es auch anders hätte sein können, daß wir keine eindeutigen Beweise haben, daß wir nicht mit eindeutiger Sicherheit feststellen können – weder ob wir glauben oder nicht glauben, noch ob wir schuldig sind oder uns vergeben ist.
Wenn wir nun einen Drang mach Eindeutigkeit und Einfachheit haben, so deshalb, weil wir meinen, es mache Angst, mit dieser Unsicherheit zu leben, daß alles auch anders sein könnte oder gar nicht sein könnte.
Aber der Christusglaube läßt uns die Unsicherheit zugute kommen. Da ist mehr zu sagen. Da ist die Möglichkeit der Veränderung. Da ist die Möglichkeit, daß sich das Leben erneuern kann. Da ist die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Nichts liegt fest. Christus ist der Lebendige, der in Bewegung ist, der handelt, der Leben schafft.
Ja, das ist in der tat das Einzige, was man feststellen kann – daß man Christus nicht festhalten kann. Der Christusglaube nahm seinen Anfang in der Tatsache, die freilich niemand sah, daß Jesus das Grab sprengte, in das er gelegt war.
Christusglaube ist Auferstehungsglaube.
Nicht einmal der Tod und der große schwere Grabstein konnten ihn in dem festhalten, was das Eindeutigste von allem ist: dem Tod.
Tod ist wohl Tod. Hier gibt es nichts zu diskutieren. Hier können wir direkt reden. Entweder-oder. Nicht Einerseits-andererseits.
Aber dennoch, so sehr sprengt der Christusglaube Grenzen. Er trotzt wirklich der Eindeutigkeit. Er setzt wirklich alle Hoffnung darauf, daß das, was mit diesem Menschen geschah, deshalb geschah, weil Gott zu uns reden wollte, uns rufen wollte, zu den grünen Augen führen wollte, zum frischen Wasser, wo es keine Zweideutigkeit gibt, sondern wo wir alle eins sind.
Das Bild von Jesus als dem Hirten, dem guten Hirten, der seine Schafe hütet, sie ruft und aus der Gefahr errettet zum frischen Wasser, zum Paradies – dieses Bild weist genauso sehr auf uns, die Schafe, wie auf ihn als Hirten. Das Bild bezieht uns mit ein. Wir sind genötigt, uns und unser Verhältnis zu Gott in diesem Bild zu spiegeln.
Es geht ja darum, seine Stimme zu hören, mit ihr vertraut zu sein. Das ist das Zeichen dafür, ob man zu seinen Schafen gehört, geht aus dem hervor, was Jesus im heutigen Text sagt.
„Ich habe es Euch gesagt“, sagt er zu ihnen, die eine klare Antwort wollen: „Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben“.
Hier müssen wir alle aufhorchen!
Gehören wir nun zu seinen Schafen? Höre ich seine Stimme, höre ich ihn rufen, tue ich das, was ich soll – folge ich ihm in der Weise, in der ich mein Leben führe, in der Weise, in der ich zusammen mit meinem Nächsten lebe?
Das ist die Unsicherheit, die Zweideutigkeit, in die wir hineingezwungen werden – wenn wir uns zu dem Herren bekennen, der nicht in Eindeutigkeit festgehalten werden kann, um den wir keinen Ring schlagen können.
Es existiert wahrlich eine Scheidelinie in der Erzählung zwischen denen, die eine klare Auskunft wollen, und dann denen, die tatsächlich seine Stimme hören als den Ruf Gottes. Aber auf welcher Seite wir sind, jetzt, hier in meinem Leben, wie ich es von hier aus sehe – das bleibt im Ungewissen, in der Zweideutigkeit. Hier können wir nur auf die Gnade Gottes vertrauen.
Aber etwas ist wichtig, es muß hier gesagt werden: Wir sind es, die in der Zweideutigkeit leben. Nicht Christus und seine Taten, nicht seine Liebe und nicht sein Glaube.
Seine Botschaft ist sein Leben, ebenso ist seine Identität, ob er Christus ist oder nicht, sein Leben Und das ist so einfach und eindeutig – sein Leben: Das war ein Leben in Liebe und aus Liebe. Ein Leben, das nur das Gute wollte, das nicht in etwas Bösem wurzelte, das ohne Sünde war, ohne Hintergedanken, ohne Selbstsucht, ein Leben, daß den Zorn nicht zurückhielt oder nachtragend war, ein Leben, das es als seine Aufgabe ansah, daß niemand verloren geht, daß niemand uns aus der Hand Gottes reißen sollte.
Das ist so eindeutig wie etwas nur eindeutig sein kann, das ist seine Botschaft. Sie ist überdeutlich. Das sollen wir glauben, daß die Liebe Gott gehört. Das sollen wir tun, wir sollen sie hier bei uns lebendig sein lassen.
Der Hirte ist nicht mehr hier, um uns zu leiten, so daß wir davon befreit wären, selbst zu denken, und ihm nur wie unmündige Schäfchen zu folgen brauchten. Er hat es uns selbst überlassen. Er glaubt an uns. Leuchtet für uns, ruft uns, hat die Liebe in unsere Herzen gelegt, so daß wir wissen, was wir glauben und tun sollen:
Das Geheimnis deines Kreuzes
glaub ich, Herr, kraft deines Geistes!
Hilf, will mich der Feind verderben!
Reich mir deine Hand im Sterben!
Sprich: „Wir gehn ins Paradies“! (Grundtvig)
Amen.
Pastorin Eva Tøjner Götke
Platanvej 10
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Tel.: ++ 45 – 66 12 56 78
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