
Markus 8,31–38
Estomihi | 2. März 2003 | Mk 8,31–38 | Friedrich-Otto Scharbau |
Liebe Gemeinde,
das Bekenntnis zu Christus ist das Bekenntnis zu dem Gekreuzigten und
Auferstandenen. Nicht nur zum Auferstandenen, sondern eben zum Gekreuzigten
und Auferstandenen. Wir feiern nicht einen triumphalen Gottesheld, dem
die Welt zu Füßen liegt, auch nicht den, der aus Steinen Brot
und sich die Reiche dieser Welt gefügig macht; sondern wir feiern
den Gottesknecht, der leidet, der verworfen wird, der ans Kreuz gebracht
wird und der stirbt. Der in keine Gottesvorstellung hineinpasst und der
gleichwohl und vielleicht gerade deshalb das Bild Gottes unter den Menschen
ist: gegenwärtig in Leid und Angst, in Mühsal und im Scheitern
und auch noch in der Gottesferne: der tröstende, barmherzige, der
auf uns wartende Gott. Paulus spricht von der Torheit nach den Maßstäben
menschlicher Vernunft – wer würde sich einen solchen Gott ausdenken?
Aber eben in dieser Torheit verbirgt sich Gottes Kraft. Paulus sagt nicht
Gottes Weisheit, der wir nur auf die Spur kommen müssten, sondern
er spricht von der Gotteskraft, d. h. von dem, was uns aufrichtet und
stärkt und am Leben hält und das wir mit dem Herzen begreifen.
Das Bekenntnis zu Christus ist das Bekenntnis zu dem Gekreuzigten und
Auferstandenen, und Leben in seiner Nachfolge ist Teilhabe an seinem Weg:
in dem Verzicht auf Weltläufigkeit und Glanz, d. h. dass ich in der
Nachfolge Jesu mit Unverständnis und Geringschätzung und manchem
müden Lächeln rechnen muss; wir erleben das ja, wie kirchliche
Einstellungen zwar zu Wort kommen in der Öffentlichkeit, aber sie
gelten nicht viel; die Kirche ist gefragt als Trägerin sozialer Aktivitäten,
aber darin soll sie religiös nach Möglichkeit neutral bleiben
und keinesfalls missionarisch wirken. Die Verkündigung der Kirche,
ihre Botschaft ist wenig gefragt, findet kaum öffentliches Interesse,
ist zur reinen Privatsache geworden und wenn jemand von der Nachfolge
Jesu spricht und damit sein Verhalten und seine Einstellungen begründet,
kann es ihm leicht passieren, dass man in ihm ein Mitglied einer etwas
weltfremden Gemeinschaft oder gar einer Sekte sieht. Man weiß nicht,
was das ist: Nachfolge Jesu und in der Nachfolge Teilhabe an seinem Weg.
Wissen wir es?
Die Nachfolge Jesu hat ihren Ernst, weil Jesus selbst sie in den Zusammenhang
seines Leidens stellt. Um dieses Zusammenhangs willen ist Nachfolge mehr
als eine Gesinnung oder eine Einstellung, sie ist eine Haltung, Lebensentscheidung
für Christus, christliche Existenz. Und es ist wie eine Warnung an
jeden, der das Leiden Jesu ausklammern will aus seinem Glauben, wenn Jesus
sagt: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme
sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Niemand wird gezwungen,
aber wer sich in die Nachfolge Jesu begibt, der begibt sich auf seinen
Weg. Es ist der Weg zum Leben. Daran lässt Jesus keinen Zweifel,
aber diesen Lebensgewinn erfährt nur, wer preisgibt, was er hat,
und sich ganz dem anvertraut, der durch sein Kreuz das Leben schafft.
Dietrich Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang von der „teuren
Gnade“, die allein in der Nachfolge erfahren wird und die so leicht
unter Wert gehandelt wird, eben als billige Gnade, wo wir für uns
selbst und insgesamt in der Kirche Christsein zu ermäßigten
Bedingungen für möglich halten und in Anspruch nehmen. (Dietrich
Bonhoeffer, Nachfolge, 6. Aufl. 1958, S. 1 ff.) „Gott nimmt dich
so an, wie du bist“ ist eine solche moderne Halbwahrheit, mit der
wir uns und anderen das Evangelium begreiflich machen wollen.
Manchmal, wenn ich nachmittags in einer unserer großen Einkaufsstraßen
die vielen Menschen sehe, die da unterwegs sind, denke ich: Gott meint
sie alle mit seiner Liebe, mit dem Evangelium, mit dem Kreuz Christi:
Alte und Junge, Gesunde und Kranke, die Traurigen und die Fröhlichen,
die Kauflustigen und die, die sich das alles gar nicht leisten können,
die Bepackten und die mit leichtem Gepäck, Männer und Frauen,
Gläubige und Ungläubige. Gott meint sie alle, ohne Unterschied,
er sortiert sie nicht und er sucht sich keinen besonders heraus.
Gott sagt bedingungslos Ja zu mir, das ist ja wahr. Aber Gottes Ja zu
mir realisiert sich doch als Ruf zur Umkehr, zur Buße. Eben nicht:
Weiter so! Sondern. „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich
selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Also radikale
Infragestellung dessen, der ich bin oder der zu sein ich glaube, und Umkehr
zu Jesus. Und es nützt überhaupt nichts, diesen Ruf in die Nachfolge
gleichsam auszuklammern und so Menschen auf billige Weise eben um die
Erfahrung der Nachfolge Jesu bringen, was ja tatsächlich die Erfahrung
der Buße ist und dadurch die Erfahrung von Freiheit und Erneuerung
meines Lebens: Wer sein Leben erhalten will – auch vor Gott erhalten
will, indem er daran festhält: ich bin so wie ich bin und so will
ich auch bleiben – also: Wer sein Leben erhalten will, der wird
es verlieren. Und er wird nicht erfahren, was die Wahrheit der Verheißung
Jesu ist: Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums
willen, d. h. wer auf Christus setzt und dem Evangelium glaubt, der wird
das Leben gewinnen. Tugenden wie Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Selbstzufriedenheit
und Selbstbewusstsein werden infrage gestellt, sofern sie unser Selbstwertgefühl
und unsere Selbstbehauptung vor Gott beschreiben sollen, und an die Stelle
des Selbst tritt Christus, auf den ich mich vor Gott berufe. Dass ich
jedenfalls vor Gott ehrlich bin und weder ihm noch mir selbst etwas vorzumachen
versuche. Ehrlich vor Gott: Dass wir nicht festhalten an einem ganz bestimmten
Bild von uns, einer Art Wunschvorstellung, und wir wissen im Grunde doch
ganz genau, dass wir tatsächlich gar nicht so sind. Wer Gott sein
Herz nicht ehrlich öffnet, wird nie ganz erfahren, wer Gott ist.
Ehrlich vor Gott: in einem Gebetbuch, das vor ziemlich genau fünfzig
Jahren auf den Markt kam, las ich den folgenden Dialog zwischen einem
Beter und Gott: „Herr, hörst du mich? Ich leide entsetzlich.
Verriegelt in mir selbst, Gefangener meiner selbst, höre ich nichts
als meine eigene Stimme, sehe nichts als mich selbst, und hinter mir gibt
es nur Leiden. Herr, hörst du mich? Befreie mich von meinem Leib,
… befreie mich von meinem Herzen, … befreie mich von meinem
Geist…. Herr, hörst du mich?“ Und Gott antwortet: „Kind,
ich habe dich gehört. Du jammerst mich. Schon lange sehe ich deine
verschlossenen Fensterläden: Mach sie doch auf, mein Licht wird dich
erleuchten. Schon lange stehe ich vor deiner verschlossenen Türe:
Tu sie doch auf, du wirst mich auf der Schwelle finden. Ich erwarte dich,
die anderen erwarten dich, aber du musst aufmachen, aber du musst dich
von dir freimachen.“ (Michel Quoist, Herr, da bin ich, 27. Aufl.
1962, S. 129 ff.)
Freiwerden von sich selbst: Der Ruf Jesu in seine Nachfolge ist sein
Ruf in diese Freiheit. Paulus spricht von der herrlichen Freiheit der
Kinder Gottes, wo die Mühen der Vergänglichkeit aufgehoben sind
in der Gewissheit der Gegenwart Gottes, die uns das neue Leben schenkt.
Bei aller Verheißung von Freiheit und neuem Leben – ist das
alles letztlich nicht doch eine sehr düstere Perspektive: Leiden,
Tod, Selbstaufgabe, Lebensverlust, Vertröstung auf eine nicht überprüfbare
Wirklichkeit jenseits eines Lebens im Hier und Jetzt? Typisch christlich,
höre ich manchen sagen, und gemeint ist: weltfremd, pessimistisch,
depressiv. Und da ist ja etwas dran: Die Welt, in der wir leben, reden
wir uns leicht zurecht als Jammertal mit Elend, Hunger, Leiden, Krieg,
Scheitern, Schuld usw. Als ob wir nicht auch gern in dieser Welt lebten,
als ob es nicht auch so etwas wie unbefangene Lebensfreude und unverstelltes
Lebensglück darin gäbe oder auch Erfolge und Ideale, die für
uns, für unser Zusammenleben wichtig sind. Und das müssen wir
vor Gott nicht verstecken und so tun, als sei das alles angesichts des
Reiches Gottes gar nicht erlaubt.
Und in diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die andere Frage, die
mit der Leidensankündigung Jesu verbunden ist: Warum ist das eigentlich
so und warum will Gott das? „Der Menschensohn muss viel leiden und
verworfen werden und getötet werden.“ Das kann er sich also
nicht aussuchen, sondern so will es Gott. Braucht der den Tod eines Menschen?
Und warum gerade den Tod dieses Menschen Jesus? Warum nicht eines anderen,
z. B. Barrabas? Der war ohnehin dran. Aber hätte es nicht überhaupt
auch ohne Blut abgehen können?
Das sind nicht etwa moderne Fragen. Petrus fragt so. Das kann doch nicht
sein, wendet er ein: Eben noch hat er Jesus als den Christus identifiziert,
d. h. den von Gott zur Erlösung Israels verheißenen Messias.
Nicht Name ist der Begriff hier, sondern Titel: Der Christus, verheißen,
erwartet, geglaubt. Verborgen, gewiss; warum haben die Jünger das
eigentlich nicht früher schon entdeckt und nicht erst jetzt, sozusagen
im letzten Augenblick? Aber jetzt ist es ihnen klar geworden: Jesus ist
der Christus, offenbar und unverkennbar. Endlich! Und Petrus spricht es
aus für alle.
Und dann solch unsinniges Zeug: Leiden und Tod. Petrus hält dagegen,
setzt seine Vernunft gegen das Gottesgeschehen: Das kann doch nicht sein,
das wäre nicht sinnvoll. Steht dieser Jesus nicht unmittelbar vor
dem Durchbruch? Was also soll diese Rede von Leiden und Tod? Petrus ruft
Jesus gleichsam zur Vernunft und es kommt zu einem äußerst
heftigen Disput zwischen beiden. Jesus bedroht diesen Erzjünger:
„Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich,
sondern was menschlich ist.“ D. h.: Du hast überhaupt nicht
begriffen, worum es geht und worauf es jetzt ankommt. Darin ist Petrus
dem Satan gleich, dass er der Vernunft das Wort redet. Das tut der Teufel
immer, in der Bibel genau so wie in Goethes Faust; der redet nicht unvernünftig,
der kann auch Gott verneinen mit Gründen der Vernunft. Nicht, dass
die Vernunft an sich vom Teufel wäre; im Gegenteil: ich wünschte
mir oft genug mehr Vernunft im privaten und im politischen Alltag und
weniger Beharren auf vorgefassten Meinungen und ideologischen Besetzungen.
Nur: der Satan redet gern vernünftig daher und wenn es sein muss
auch fromm, wie die Geschichte von der Versuchung Jesu zeigt – und
steht nicht ein für sein Wort. Und darum ist es ohne Verheißung.
Das Tun überlässt er uns – und lässt uns allein mit
den Folgen unserer Tat. Das ist der Unterschied zwischen Gott und Satan:
Gott steht ein für sein Wort. Und für uns. Und das ist seine
Verheißung in seinem Wort.
Der Weg Jesu lernt sich schwer. Natürlich kann man alle diese Fragen
nach der Vernunft im Handeln Gottes stellen – und hält sich
damit Gott auf Distanz. Und man vergisst, wie sehr man selbst involviert
ist in dieses Tun Gottes: Ich selbst steck ja mitten drin in dieser Geschichte,
bin verstrickt in das, was da geschieht: mit Eigensinn und Schuld und
faktischer Gottesleugnung. Es geht um mich: Damit ich begreife, wohin
ich gehöre, damit ich eine Zuflucht habe aus der Vergänglichkeitserfahrung,
aus Lebensangst und Lebensüberdruss, aus Selbtzweifel und diesem
ewigen Zwang zur Selbstbehauptung. Und damit ich Quelle und Grund meiner
Lebensfreude und meiner Zuversicht entdecke und darin meine Gewissheit
habe und eine verlässliche Perspektive. Gott lässt das alles
ja nicht geschehen, um sich damit zu rechtfertigen und klar zu machen,
dass in jedem Fall er das Sagen hat. Sondern das lässt Gott geschehen,
um uns zu rechtfertigen, um gegen unsere Gottvergessenheit diese Gotteserinnerung
zu stellen, über alle Vernunft der Gnade zum Durchbruch zu verhelfen
und uns eine Gottesanschauung zu geben: fremd und unheimlich – und
uns doch so nah: „Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere
Schmerzen…auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden
sind wir geheilt.“ heißt es beim Propheten Jesaja. Darauf
kommt es also an: Sich selbst in dieser Geschichte zu entdecken und dem
nicht auszuweichen. Und dann wird man begreifen, warum es geschieht und
warum es so geschieht. Es ist Gott ernst mit uns. Darum geht es.
Erstaunlich genug, dass die christliche Überlieferung die Erinnerung
an diese schroffe Auseinandersetzung zwischen Jesus und Petrus nicht nur
bewahrt, sondern ihr sogar eine zentrale Stellung im Gesamtzusammenhang
des Evangeliums zugewiesen hat: am Anfang des Passionsberichtes. Und zwar
nicht als Bericht über den Irrtum eines Menschen über Jesus,
an dem dieser dann schließlich gescheitert wäre, sondern als
Bericht über den Willen Gottes, durch den sich erfüllt, was
er verheißen hat und worauf die Menschheit wartet.
Christus tritt zwischen Mensch und Gott, er ist der Mittler, nicht der
Vermittler, der, selbst unbeteiligt, einen Konflikt moderiert; er bringt
uns Gott nahe und setzt sich selbst dabei aufs Spiel. Ob das Ganze auch
anders hätte gehen können? Ich weiß es nicht. Und wenn
man seine Schwierigkeiten hat mit dem Opfer und dem Blut: Petrus hat es
nicht begriffen und die anderen wahrscheinlich auch nicht. Aber als sie
in dem Auferstandenen den Gekreuzigten erkannten, gab es für sie
keinen Zweifel mehr: In ihm hat Gott Frieden mit uns gemacht. Und in diesem
Frieden bin ich geborgen.
Amen
Friedrich-Otto Scharbau
F.O.Scharbau@t-online.de