Betrachtung der Marien-Ikone „Hodegetria“

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Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Predigtreihe „Maria“
15. Sonntag nach Trinitatis (1. Oktober 2000)
Betrachtung der Marien-Ikone „Hodegetria“
13. Jahrhundert, Kloster Vatopedi auf Athos
Petra Savvidis


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Maria, die Mutter. Sie hält Jesus zärtlich im Arm, umfängt ihn mit ihrer Hand. Wie in einer Wiege liegt er in ihrer Armbeuge, sanft gehalten. Ihr Kopf ist ihm zugeneigt, ihr Blick sucht seinen Blick und geht doch auch nach innen. Ihre Augen sind rätselhaft, ein Lächeln kaum angedeutet, ihr Gesichtsausdruck verhalten zärtlich. Und noch etwas anderes schwingt mit.
Das Kind schaut zu ihr auf. Aufmerksam ist der Blick, ganz auf die Mutter gerichtet. Halb liegend, ruhig in den Arm gebettet, nur der Kopf ist aufgerichtet.

Auch die Hände der beiden sind ganz einander zugewandt. Die beiden linken Hände berühren sich fast an der Seite des Kindes, die Hand der Mutter stützt das Kind, dessen Hand hält eine Schriftrolle. Die beiden rechten Hände sind wie in einer Bewegung, zeigen zueinander hin, eine große und eine kleine Hand.

Nur wenige Farbnuancen weist das Bild auf, die Gesichter, die Hände und die Kleidung sind ganz in erdigen Farben gemalt, rötlich braun und orangebraun. Nur wenige Details lenken ab von der klaren Ausrichtung des Bildes auf die beiden Personen.

Ein lebensnahes Bild, erdverhaftet, unaufdringlich. Harmonisch, fast idyllisch könnte es auf uns wirken, wenn da nicht diese gewisse Fremdheit wäre. Der Blick der Mutter ist rätselhaft, eine leise Wehmut liegt darin, die nicht zu der Szene passen will. Das Gesicht des Kindes ist viel zu erwachsen, ausgeformt, dem Alter nicht angemessen, seine Haltung mit dem erhobenen Kopf unnatürlich.

Die stilisierte Maltechnik von Ikonen löst in unseren Augen, die ganz an westliche Malerei gewöhnt sind, Befremden aus. Sie entzieht sich dem unmittelbaren, spontanen Begreifen.

Ikonen werden nach Vorlagen gemalt. Die schreiben das Motiv, das Thema, die Komposition des Bildes und die Details vor. Für die Ikonenmaler bleibt eine kleine Freiheit, bestimmte Einzelheiten, die Mischung der Farben, den Gesichtsausdruck auszugestalten. Jedes Detail ist dabei bedeutungsvoll.

Diese Ikone ist sehr alt, ins 13. Jahrhundert wird sie datiert, und sie stammt aus einem Athos-Kloster. Ihr Motiv gehört zu den am weitesten verbreiteten und verehrten Marien-Ikonen. Hodegetria wird sie genannt, nach dem Kloster Hodegon, in dem eine erste Ikone diesen Typs gefunden wurde. Hodegetria heißt übersetzt „Wegweiserin, Wegführerin“.

Ganz typisch für alle Ikonen, die dieses Motiv zeigen, ist, dass Maria das Kind auf ihrem linken Arm trägt und die rechte Hand in einer Bewegung hin zum Kind ist.
Wie ein Hinweis, wie ein Fingerzeig.
Hier ist Marias rechte Hand geöffnet, nach oben hin, wie um zu empfangen. Und zugleich weist sie auf das Kind in ihrem Arm.
Jesus hebt seine rechte Hand, der Hand der Mutter entgegen, fast, wie um sie zu berühren. Drei Finger sind zusammengelegt zur Geste des Segnens.
Wie die Augen der beiden sind auch ihre Hände ganz aufeinander ausgerichtet.
Aber während die Augen im Bild bleiben, sich suchen und ganz bei sich bleiben, weisen ihre Hände nach außen und öffnen das Bild.
Die Hände nehmen den Betrachtenden hinein.

Ikonen sind nach dem Verständnis der Ostkirchen Bilder, die nach außen weisen: Fenster zum Himmel, in Farben gemaltes Evangelium, verkündigende Bilder, die das Göttliche und Ewige im Zeitlichen spiegeln.

Maria weist auf das Kind: „Seht her, hier ist der, den Gott geschickt hat, der Welt zum Heil. Seht her, in diesem Kind ist Gott stark und gegenwärtig. Er ist es, der gekommen ist, um Erfüllung zu bringen und Frieden und Gerechtigkeit und Gottes Himmel auf die Erde. Schaut her, er ist Gottes Sohn und doch mein Kind, mir von Gott geschenkt und anvertraut, von mir geboren, geborgen in meiner Umarmung.

Nichts anderes tun Ikonen. Sie wollen hinweisen auf Christus, auf Gottes lebendige Gegenwart.

Nichts anderes tut jede Predigt, die mit Worten verkündigt: Sie malt das Evangelium vor Augen, öffnet die altvertraute Botschaft für die Gegenwart: „Seht her, er ist es, von dem ich rede. Ich stelle euch Christus vor Augen. In ihm steht der Himmel uns offen, in ihm gewinnt Gott für uns klare Konturen und leuchtende Farben.“

Die Farben der Ikone beschreiben das: Das dunkle Braun des Gewandes, mit Purpur angereichert, versinnbildlicht Erde und Himmel, das Menschliche und das Göttliche. Das Orange entsteht, wo Licht und Materie sich verbinden. Heller wird der Farbton nach oben hin, im Nimbus, der Marias Kopf in ein Goldgelb taucht und die ganze Szene in den Widerschein des göttlichen Lichts stellt.

Ein Schattendasein fristet Maria in den evangelischen Kirchen. Krass war der Bruch in der Reformationszeit, als ein tiefes Misstrauen gegen die Heiligen und ihre Bilder dazu führte, dass sie fast überall verschwanden. Zu nahe lag die Gefahr des Missbrauchs, dass die frommen Bilder, nahe am Empfinden der Menschen, ablenkten von dem „Christus allein“, das die reformatorische Theologie stark machte. Und gerade auch Maria betraf das. Zu viele Bilder wurden von ihr gezeichnet, zu viele Legenden gedichtet, die sich entfernt hatten von den biblischen Grundlagen. Zu viele Dogmen kamen später nach, Maria, die Sündlose, Maria, die ewige Jungfrau. Als Frau aus Fleisch und Blut war sie unkenntlich, ungefährlich daher und zum Gegenbild zu Eva stilisiert. Immer noch herrscht Streit über Maria im Gespräch der Konfessionen.

Aber: die Wiederentdeckung auf evangelischer Seite steht an. Maria wird als Frau wiederentdeckt, jenseits alter Stereotypen. Als Schwester im Glauben, die der weiblichen Dimension von Gottesverbundenheit Gestalt gibt. Mit ihrem bewegten Herzen, mit ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit, voller guter Hoffnung den Weg zu gehen, den Gott ihr zeigt.

Und so wird sie selbst zur Wegweiserin, hier in diesem Bild. Mit ihrer geöffneten Hand, die zugleich empfängt und uns hineinnimmt und den klaren Fingerzeig gibt: „Seht her, das ist mein Kind, welch ein Mensch, und Gottes Sohn zugleich! Auf ihn schaut, ihm allein bleibt zugewandt, ihn habt im Herzen und lasst ihn wachsen in euch.“ Eindeutige, verlässliche Verkündigung, sehr evangelisch, die allein Christus vor Augen stellt.

Ikonen kommen mit wenigen, aber bedeutungsvollen Details aus, um ihre Botschaft zu verdichten. Sie wollen gelesen werden, in allen Einzelheiten. Und so gibt es hier in dieser Ikone noch mehr zu entdecken, wenn wir uns Marias Fingerzeig genauer anschauen.

Ihre Hand weist auf das Kind in ihrem Arm. Das ist so seltsam jung und alt zugleich, geborgen wie ein Baby und doch erwachsen. In der linken Hand die Schriftrolle, Hinweis darauf, dass Christus das lebendige Wort Gottes ist. Mit seiner rechten Hand segnet er Maria, seine Mutter, die ihn hält und der er doch schon entwachsen ist. Das Gesicht scheint zu alt für den kleinen Körper. Jesus ist als Kind-Greis dargestellt. Die ganze Spannbreite des Weges, den er ging, liegt in dieser Gestalt, zwischen Anfang und Ende, zwischen Leben und Tod. Im Augenblick der kindlichen Geborgenheit ist das kommende Leiden schon angedeutet.

Wenige Details genügen als Hinweis auf die Passion: Die halb liegende Haltung, die gekreuzten Beine und die nackte Fußsohle, die aus dem Gewand ragt. Sie gehören in der Ikonographie zu den Darstellungen der Leidensgeschichte.

Fast vertraulich und sanft scheint diese Mutter-Kind-Szene beim ersten Betrachten, beim näheren Hinsehen erschließt sich die ganze Fülle des Evangeliums:

Marias Hand weist uns auf den ganzen Christus: auf das Menschenkind, von einer Frau geboren und umarmt, und doch Gottes Sohn, in dem sich Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde berühren. Sie weist hin auf das Kreuz, das er auf sich nahm, damit wir Versöhnung finden, und auf seine lebendige Gegenwart als Wort Gottes, das mitten unter uns auf Verkündigung wartet.

Maria, die Wegweiserin.
Wir haben diese Ikone allmählich für uns entdeckt und ihre Botschaft nach-gelesen.So fremd sie erst wirkt, so fern uns diese Maria auch sein mag, so vertraut und so evangelisch ist das, was sie mit dem Wink ihrer Hand andeutet.

Der Wochenspruch für die kommende Woche könnte als Überschrift über dieser Ikone stehen: „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“ Allein in Gottes Sohn liegt unser Heil. Maria weist uns auf das, was wir immer schon zu predigen haben.

Im Lauf der Kirchengeschichte hat sie viele Gesichter gehabt. In der Bibel begegnet sie uns als Frau, die von Gott bewegt wird, die voller Hoffnung auf ihn und seine Zukunft für die Welt ihr Leben verändern lässt und in aller Freude und allem Schmerz ihm verbunden bleibt. Und sie begegnet uns als Mutter, die früh begreifen muss, dass das, was Gott ihr anvertraut hat, nicht ihr allein gehört, sondern allen Menschen.

Maria, die Wegweiserin.
Wenn wir uns auf ihren Weg mitnehmen lassen, dann werden auch wir Gottes Sohn der Welt nicht vorenthalten, sondern eindeutig und klar und voller Liebe auf ihn zeigen. Seinen Blick suchend, ihm zugewandt, mit offenen Händen, um zu empfangen und weiterzugeben.

Möge Gott uns den Mut und das Vertrauen dazu schenken.
Und möge die rechte Hand des Kindes, die bereit ist zum Segnen, auch uns berühren.

Amen.

Dr. Petra Savvidis, Immermannstr. 22, 58453 Witten
e-mail savv@ngi.de


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