Der Mensch denkt und Gott lenkt

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Welche Befreiung muss das gewesen sein! Hart urteilt der Apostel über
die Zeit vor seiner Bekehrung.
„Ich habe es für Schaden, für Dreck erachtet.“
Genauer übersetzt müsste es das Wort sein, das mit Sch beginnt
und das wir unseren Kindern verbieten auszusprechen.
Da hat er sich um ein Leben bemüht, den Ansprüchen Gottes
gerecht zu werden. Hat die Forderungen Gottes, seinen Willen, zu erfüllen
versucht. Er ist gescheitert. Er konnte nur dahinter zurück bleiben.
Sein Ärger über das Misslungene ist größer als
die Freude am Gelingen.
Ein Mensch lässt sich darauf ein, was von ihm gefordert ist. Aber
die geringste Abweichung vom geregelten wirft ihn aus der Bahn. Abweichung
wird mit Ächtung durch das System bestraft. Das ganze endet in
Selbstverachtung.
Glaube wird anfällig für Neurosen und Depressionen. Er verkehrt
sich ins Gegenteil.

Ich kann das gut nachempfinden. Mein persönliches Glaubensleben
hat mit diesem Konflikt begonnen. Ohne irgendeinen kirchlichen Bezug
bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hatte ihren Glauben, zeigte ihn aber
nicht. Sie redete davon nicht. Das tat man nicht als bescheidene Bauersfrau
in Ostfriesland. Nach einem konservativ geprägten Konfirmandenunterricht
packte es mich. Ich meinte, in vielen kleinen Dingen Gottes Willen erfüllen
zu müssen. Die Art zu beten, die Auswahl der Texte, die Zeiten.
Das kleine Soldatengesangbuch, das mein Bruder abgelegt hatte, war mein
Gebetsbuch. Ich betete unter mir selbst aufgezwängten Zeiten, kniend
vor meinem Nachttisch. Ich muss da alles tun. Sonst falle ich tot um
und werde schuldig. Es führte mich in skurrilste Handlungen. Ich
sammelte Strohhalme auf, um sie auf dem Hof vor dem Zertreten zu retten.
Ich schäme mich heute noch, es zu erzählen. Mit 17 hatte das
etwas gutes. Es führte mich in die Stadtbibliothek, in die Welt
der Bücher. Unter vielen entdeckte ich bald ein theologisches Buch,
las es, arbeitete es durch, verstand vieles nicht, las es dreimal ganz
durch. Es war der kleine Römerbrief-Kommentar von Karl Barth. Die
Botschaft von der befreienden Gnade Gottes.
Welche Befreiung muss das für den Apostel gewesen sein, damals
nach seiner Bekehrung. Ich bin nicht gerecht vor Gott, indem ich seine
Forderungen erfülle. Gott spricht mich frei aus Liebe.
Nur, die Frage des Apostels ist heute nicht mehr die meine. Oder ist
sie Ihre Frage?
Wie werde ich gerecht vor Gott?
Wir müssen sie anders formulieren.
Wie steht es um meinen Selbstwert? Wie wird mein Selbstwertgefühl?
Der Mensch hat so seine Strategien.
Ich tue, was andere wollen, ich bin lieb. Mancher hat das früh
gelernt: Wenn du das und das tust, dann geschieht dir gutes.
Es allen recht machen wollen. In einer Diskussion zuhören, lauschen,
was die andere denken und dann in ihrem Sinne argumentieren.
Ein Mensch tut viel, um angenehm zu sein, sich Anerkennung zu holen
und seinen Selbstwert zu pflegen.
Wenn mich jemand bittet, etwas zu tun, es tun, am besten, ehe es ausgesprochen
ist. Keinen Widerspruch, anderen günstig und günstlich sein.
Idealer Schwiegersohn.

Oder eine Kasperrolle spielen. Der Witzbold sein, der sich in den Vordergrund
spielt. Den Humorvollen wird man doch ertragen und ihm nicht die Liebe
entziehen.
Oder etwas besonders leisten, an dem andere nicht vorbei sehen können.
„Donnerwetter, das hast du geleistet.“ Das verschafft Achtung.

Ein harter Kampf ist das. In unserer Gesellschaft bekommst du immer
weniger Vorschuss an Achtung durch deinen Stand, die Verantwortung für
den eigenen Wert ist immer mehr in die Hand des Individuums gelegt.
Das kann nur in der Verzweiflung enden.
Entweder bist du nicht mehr erkennbar oder du bist überfordert.

Die Entdeckung des Paulus: Du musst von Gott ausgehen, wenn du zu dir
selber kommen willst.
Nicht meine Gerechtigkeit ist wesentlich, sondern die aus dem Glauben
kommt, die Gott zurechnet. Die reformatorische Wieder-Entdeckung.

Das ist zunächst nur ein Kopfgedanke. Nur wer sich geliebt weiß.
braucht keine Erläuterung. Gott spricht dir Wert zu, ehe du überhaupt
eine Voraussetzung erfüllen kannst. Das wesentliche kannst du nicht
verdienen.
Warum waren denn gerade die Kranken und Angeschlagenen so hellhörig
für die Botschaft Jesu! Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen.

Ich will die Erkenntnis und Erfahrung des Apostels in einen Rat umsetzen.
– Unterwirf dich nicht deinem Selbsturteil! Wir sind sonst wie Jugendliche,
die nur ihr eigenes Urteil über sich selbst gelten lasen. Das ist
oft ungnädig und vernichtend.
– Mach dich nicht von der Gunst anderer abhängig! Du gibst sonst
deine Freiheit auf. Du wirst stromlinienförmig. Wer meint, er würde
geliebt, wenn er es allen recht gemacht hat, liegt falsch. Du bist nicht
mehr erkennbar. Was soll man an dir lieben?

Das hat nichts mit Protzen zu tun. Christus gewinnen heißt alle
Versuche des Selbstdefinierens aufzugeben.
Bonhoeffer hat den Prozess des Apostels bezogen auf seine eigene Erfahrung
zusammengefasst: „Später erfuhr ich, dass man erst in der
Diesseitigkeit glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet,
aus sich selbst etwas zu machen, sei es einen Heiligen, einen bekehrten
Sünder, einen Kirchenmann, einen Gerechten oder Ungerechten, Kranken,
oder Gesunden – dies nennen ich Diesseitigkeit, in der Fülle
der Aufgaben, Fragen, Erfolge, Misserfolge, Erfahrungen leben, dann
wirft man sich Gott ganz in die Armen, dann nimmt man nicht mehr die
eigenen Leiden, dann nimmt man Gottes Leiden in der Welt ernst.“
Ich denke, das ist Glaube.
Das geht natürlich nur in großem Vertrauen. Das setzt gewiss
eine Erfahrung oder eine Erkenntnis voraus: Ich will an einem anderen
Leben teilhaben.
Die Frage ist also die von Angst und Vertrauen, nicht die von Sünde,
Heiligkeit, Tugend, Laster, Ordnung oder Chaos.
Es ist kein Haben. „Ich jage ihm aber nach“, sagt der Apostel.
Wo finde ich meinen Wert? Er ist mir ins Herz gelegt von Gott, unangreifbar
für andere.
Das ist meine Grundlage, mein Fundament.
Der Glaube wird sich nie ganz mit dem zufrieden geben, was ist. Die
Schönheit, die Gott für den Menschen vorgesehen hat, ist nur
in Andeutungen gefunden. Der Christ kann nie zu Hause sein in den gültigen
Denkfiguren, den angebotenen Identitäten.
Er ist subversiv, weil er sich seines Wertes bewusst ist. Das wirkt
gegen alle Erstarrung. Er gewinnt die Kraft des Auferstandenen. Du gehst
einen Weg, der dem Weg Christi durchs Leiden zum Auferstehen gleichgestaltet
ist. Diesen Vergleich wählt der Apostel.

Ich schließe mit einer Geschichte aus der Tradition, die mit
Augenzwinkern von der Befreiung von den Fesseln erzählt.
Einmal im Jahr verlässt Benedikt sein Kloster, seine Schwester
Scholastika zu besuchen.
Dann reden sie über die Freuden des geistlichen Lebens, sie essen
und trinken zusammen. Benedikt achtet als regeltreuer Bruder darauf,
dass er am Abend wieder im Kloster zurück ist.
Einmal sitzen sie wieder zusammen, sie loben Gott und sind fröhlich
miteinander. Es ist schon spät geworden. Da bittet Scholastika
ihren Bruder, die Nacht zu bleiben. „Was forderst du Unmögliches
von mir,“ sagt er.
Es ist ein schöner Abend, der Himmel ist heiter. Sie ist getroffen
von der Härte ihres Bruders. Sie legt ihren Kopf in die Hände,
weint und betet. Als sie den Kopf hebt, blitzt und donnert es. Es fängt
draußen an zu gießen, dass Benedikt keinen Fuß mehr
vor die Tür tun kann. „Was hast du getan, Schwester,“
fragt er entsetzt. „Ich habe dich gebeten und du hast mich nicht
erhört. Ich habe Gott gebeten und er hat mich erhört,“
antwortet sie, „Und jetzt verlass mich doch, wenn du kannst.“
Was er freiwillig nicht tun wollte, tut er nun gezwungermaßen.
Er bleibt.
Er will dem Leben dienen mit dem Befolgen der Regel. Herrschaft, Angst,
Ordnung, Unfähigkeit zum Leben gehen oft zusammen. Er will das
Leben verschieben auf das nächste Jahr. Im nächsten Jahr,
so schließt die Geschichte, ist die Schwester tot.
Du kannst das Leben nicht verschieben, nicht aufsparen.
Darum finde ich die Entdeckung des Paulus so umwerfend und befreiend.
Geh von Gott aus, wenn du zu dir selber finden und auferstehen willst.

Superintendent Heinz Behrends
Entenmarkt 2
37154 Northeim
Heinz.Behrends@evlka.de