
Der mutige Sohn
Predigt über Lukas 15,11-32 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Poul Joachim Stender | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |
Der verlorene Sohn war kein verlorener Sohn. Er war ein mutiger Sohn. Leider hatte der verlorene Sohn nicht wie dänische Jugendliche die Möglichkeit, Geld zusammenzusparen für einige Sabbatjahre, indem man einige Jobs annimmt. Er musste seinen Vater um einen Erbvorschuss bitten. Und als er den bekommen hatte, machte er sich auf den Weg. In der Erzählung über ihn steht, dass er in ein Land weit weg ging und dort sein Erbteil „mit Prassen“ durchbrachte. Das war noch bevor wir Korona bekamen. Und sogleich hat man daran gedacht, dass er all sein Geld für Dirnen, Trinken und übermäßiges Essen ausgab. Hoffentlich hat er das auch getan! Es ist ein wesentlicher Teil des Lebens, dass man nicht nein Danke sagt zu Erotik, spannenden Weinen und gutem Essen. Aber niemand außer dem Bruder des verlorenen Sohnes behauptet, dass er das Erbe nur für solche Dinge ausgegeben habe. Der verlorene Sohn kann in der Fremde sein Geld auch dafür ausgegeben haben, die Natur, Kultur und die Sehenswürdigkeiten des fremden Landes kennenzulernen. Er kann sein Geld dafür verwandt haben, die Einwohner kennenzulernen. Und zweifellos hat der verlorene Sohn, der zuhause bei seinem Vater ein hartes Leben gehabt hatte, auch Zeit und Geld für nichts verwendet. Er hat geglotzt, geträumt, nachgedacht, gebetet, philosophiert und sich inspirieren lassen. Etwas, was wir anderen auch hin und wieder tun sollten, ohne damit verlorene Söhn und Töchter zu werden. Wenn die dänische Bibel von einem „ausschweifenden“ Leben redet, ist dabei vielleicht nicht dasselbe gemeint, was wir darunter verstehen. Vielmehr ist daran gedacht, dass es ein ausschweifendes Leben ist, nicht ein fleißiger und eifriger Sohn zu sein, der zuhause bleibt und seine Pflichten wahrnimmt. In einem alten dänischen Gedicht von Christian Wilster wird deutlich, wie man vielleicht einmal, und vielleicht immer noch, Leute betrachtet hat, die wie der verlorene Sohn ins Ausland gehen. Das Gedicht hat den Titel: „Der Bauer und sein Sohn“. In der ersten Strophe ist deutlich, wie kritisch man Leute sieht, die im Ausland gewesen sind. Sie lügen grob und sind hochmütig geworden. In einer Hinsicht redet das Gedicht vom Bauernjungen. Aber in einer anderen Hinsicht sagt es viel mehr von dem Bauernjungen, der zuhause blieb: „Ein Bauernjunge, der Hans hieß. Er war ein Jahr lang im Ausland mit dem Sohn des Gutsbesitzers. Kam nach Hause zum Hof des Vaters. Und in dem kleinen Bauerndorf erzählte er nun stolz und keck, zum Vergnügen für Groß und Klein, was er alles im fremden Land gesehen hatte. Aber auch wenn vieles davon wahr war, war doch auch manches gelogen. Den zwei Dinge lernt man auf einer Reise: Grob zu lügen und sich aufzuspielen. Und Hans verstand es so stark zu lügen, wie ein Pferd rennen und ein Vogel fliegen kann“.
Reagieren wir auch so, wenn Leute zu uns kommen, die im Ausland gewesen sind und das Leben ändern wollen, das wir leben? Die lügen wie ein Pferd rennen und ein Vogel fliegen kann. Es war ein großes Unglück für den verlorenen Sohn, dass da in dem Land, in dem er sich aufhielt, einer Hungersnot ausbrach. Die Lage wurde so schlimm, dass er von seiner Auszeit heimkehren musste, so wie junge Dänen auch früher als geplant von ihrer Reise zurückkehren mussten, weil ihnen das Geld ausging. Er aber wurde mit außerordentlich großer Freude und Begeisterung empfangen von seinem Vater, der ihm entgegenlief. Das Zentrum in der Geschichte ist nicht der verlorene Sohn, sondern der liebende Vater, ein Bild für den vergebenden, liebenden Jesus Christus. Und dennoch soll man das nicht unterschätzen, was man von dem verlorenen Sohn lernen kann. So wie der Vater ein großzügiger Mann war, weder zu geizig, um den Sohn sein Erbe zu geben, noch zu geizig, um ihm liebevoll zu empfangen, als er zurückkehrte, ganz so war auch der verlorene Sohn durchaus großzügig. Vater und Sohn ähnelten sich, und da der Vater in der Geschichte Gott ist und der Sohn der Mensch, sind wir also Gott in vieler Hinsicht gleich. Die Großzügigkeit ist einer dieser Ähnlichkeiten. Der verlorene Sohn hatte den Mut, sein Leben für etwas anderes einzusetzen als für die Vermehrung des väterlichen Eigentums und die täglichen Pflichten. Er hatte den Mut, einem Traum nachzugehen, einer Sehnsucht, und er ist sicher zu seiner Familie als ein anderer Mensch zurückgekehrt mit vielen neuen Gedanken. Haben wir den Mut, dasselbe zu tun? Können wir aufbrechen von unseren Gewohnheiten, von unseren Vorurteilen, unseren Alltag – und uns in unbekannte Bereiche des Lebens begeben? Haben wir den Mut, um einen Vorschuss für das Leben zu bitten, so wie der Sohn seinen Vater um einen Erbvorschuss bat? Wer sagt, dass der verlorene Sohn ein junger Mann war? Die Erzählung sagt nichts über sein Alter. Sein Vater könnte sehr alt gewesen sein. Abraham war 100 Jahre alt, als er seinen Sohn Isaak bekam. Vielleicht war der verlorene Sohn über 50 Jahre alt, seine Kinder waren erwachsen, und er zog mit seiner Frau los und hatte zusammen mit ihr einige phantastische, ergiebige, inspirierende Jahre, ehe die Hungersnot in dem Land ausbrach, wo sie sich aufhielten.
Aber da ist eine Person in der Geschichte, die besonders sauer ist und sich benachteiligt fühlt. Er konnte einfach nicht verstehen, dass der Bruder, der all das getan hatte, was er sich selbst nicht getraut hatte, von dem Vater wie ein Held empfangen wurde. Und vielleicht lebt dieser Bruder weiter in uns, die wir dieses Gleichnis heute gehört haben. Der Sohn Gottes, Jesus Christus, ist uns gegenüber sehr freigiebig gewesen. Er hat uns das Leben gegeben. Unseren Lieben. Er vergibt uns unsere Sünden. Sollten wir nicht auch großzügig sein und frei das Leben gebrauchen. Das wir bekommen haben. Lieber jetzt einen Vorschuss auf das Leben nehmen als es auf ein Konto zu setzen, bis wir einmal Zeit haben, es zu leben. Vielleicht sollten wir, wie der verlorene Sohn, fortgehen in ein fremdes Land, ein neues Denken, einen anderen Blick bekommen auf unser Leben. Und sollten wir uns nicht freuen über Gelingen und Erfolge, die wir erleben – über die, die etwas wagen, auch wenn es vielleicht in einem Fiasko endet. Wenn Gott großzügig ist und vergibt, können auch wir großzügig sein und vergeben. Wir sind nach seinem Bilde geschaffen. Amen.
Pastor Poul Joachim Stender
DK 4060 Kirke Såby
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