
EG 81,5-6 „Herzliebster Jesu“
Predigtreihe „Passion im Lied“ | Reminiscere | 11.3.2001 | EG 81,5-6 „Herzliebster Jesu“ | Bernd Eberhardt |
Gedanken zu zwei Strophen des Liedes „Herzliebster Jesu“
Der Fromme stirbt, der recht und richtig wandelt, der Böse lebt, der wider Gott gehandelt; der Mensch verdient den Tod und ist entgangen, Gott wird gefangen.
O große Lieb, o Lieb ohn alle Maße, die dich gebracht auf diese Marterstraße! Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden und du mußt leiden. (EG 81, 5-6)
Schwere Kost sind diese beiden Strophen aus Johann Heermanns „Herzliebster Jesu“, das uns in Verbindung mit der wunderschönen Melodie Johann Crügers vielleicht vertraut ist.
Um den Grundeffekt dieses Liedtextes zu erfassen, muß man nicht alle Strophen lesen, tut man es dennoch, stellt man fest, daß von den insgesamt elf Strophen die ersten sechs ungewöhnlich drastisch, teils in bildhafter Form die Leiden Jesu beschreiben. Wobei in den ausgewählten Strophen eine Stimmung (der Musiker spricht von „Affekt“) erreicht wird, die wir heute als depressiv bezeichnen würden. Es werden im ursprünglichen Wortsinne perverse Zustände beschrieben: Der Fromme stirbt, der recht und richtig wandelt, der Böse lebt, der wider Gott gehandelt; der Mensch verdient den Tod und ist entgangen, Gott wird gefangen…Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden, und du mußt leiden. Die fünf stufenweise abwärts schreitenden Schlußtöne der Crüger-Melodie, in der nach moderner Musiktheorie als „Moll“ zu definierenden Tonart auf „Gott wird gefangen“ bzw. „und du mußt leiden“, verstärken diese Stimmung.
Das Lied beantwortet in den nachfolgenden fünf Strophen die Frage nach dem Sinn des Leidens: Jesus büßt für die Sünden der fehlbaren Menschheit! Die Liebestaten können nichtim Werk erstattet werden (Strophe 8), sondern durch den Geist (Jesu) der mich regiere zum Guten führe. Die endgültige Erlösung erfolgt erst nach der eigenen Beendigung des irdischen Daseins, beim Übertritt in das Reich der Unfehlbarkeit: Wann, o Herr Jesu, dort vor deinem Throne wird stehn auf meinem Haupt die Ehrenkrone, da will ich ihr, wenn alles wird wohl klingen, Lob und Dank singen (Strophe 11).
Kann uns diese Theologie heute noch vertraut erscheinen? Jahr für Jahr begehen wir die Passionszeit; singen wir dieses und ähnliche Lieder. Jahr für Jahr laden Kirchengemeinden wöchentlich – oder in der Karwoche vielleicht sogar täglich – zu Passionsandachten ein.
Wollte ich unsere Frage nach der Vertrautheit oder – besser gesagt – gesagt nach der Wichtigkeit der Botschaft vom Sühnetod Jesu Christi am Besuch der genannten Veranstaltungen zu beantworten suchen, so müßte ich unsere Frage eindeutig mit „Nein“ beantworten.
Die „Tristesse“ unserer Passionsandachten und Gottesdienste der Passionszeit spiegeln offensichtlich nicht die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft (selbst der Menschen, die noch Mitglied unserer Kirche sind) wider.
Doch das Zeugnis der Evangelisten über das Leiden und Sterben Jesu ist wichtig – jetzt und heute! Übrigens, es gibt auch heute noch Zeichen großer Anteilnahme an diesem Thema. Denken wir an den guten Zuspruch des „Kreuzweg der Jugend“ oder den immer noch überwältigenden Besucherandrang bei Aufführungen wie beispielsweise der „Passionen“ Johann Sebastian Bachs.
Wir würden es uns zu einfach machen, würden wir uns von den etwas unbequemen, teils intimen Texten zu diesem Thema trennen und sie von unseren Gottesdiensten fernhalten.
Um sich den Zugang zu Texten, wie Heermanns „Herzliebster Jesu“ zu verschaffen bzw. zu erhalten, muß man meines Erachtens immer auch einen Blick in die Geschichte der Entstehungszeit werfen. Dem dient ein kleiner Exkurs mit drei Blickrichtungen auf diesen Text.
- Die Leidensgeschichte Christi inmitten des „Dreißigjährigen Krieges“, der Entstehungszeit des Gedichtes.
- „Herzliebster Jesu“ aus der Sicht Johann Sebastian Bachs.
- Was kann die Geschichte vom Sühnetod Jesu Christi im beginnenden 21. Jahrhundert bewegen?
- Führen wir uns einmal vor Augen, in welcher Zeit Johann Heermann dieses Gedicht geschrieben hat und welch persönliche Beziehung er zum Thema „Leiden“ hat. Als fünftes Kind einer Kürschnerfamilie aufgewachsen, ab dem 33. Lebensjahr fast ständig krank, an häufigen Erstickungsanfällen leidend erlebte er die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die 1623 seinen Wohnort Köben besonders heimsuchten. 1629 kam er aufgrund des Restitutionsediktes persönlich in Gefahr und mußte sich einige Zeit verbergen.
Spätestens jetzt wird deutlich, daß die Beschreibung des Leidensweges Jesu damals wohl nicht in dem Kontrast zur gegenwärtigen Lebenssituation stand, wie wir es heute erleben. Erscheint uns heute die Passionsgesichte als etwas weit entferntes, so stand der Generation Heermanns die Jesusgeschichte viel näher. Jesus wird zum Leidensgenossen. Und jetzt ist auch leicht verständlich, woher die intensive, persönliche Anbindung rührt. Jesus wird zum Freund, zum Wegbegleiter, zum Hoffnungsträger … ich machs wie er, denn er hats geschafft: Ich werde dir zu Ehren alles wagen, kein Kreuz nicht achten, keine Schmach und Plagen, nichts von Verfolgung, nichts von Todesschmerzen nehmen zu Herzen. Weils aber nicht besteht in eignen Kräften … so gib mir deinen Geist, der mich regiere, zum Guten führe (Strophen 9 u.10).
Sicherlich lassen sich die Leiden des Gottessohnes niemals mit den Leiden der Menschheit direkt vergleichen. Dies bringt auch Johann Heermanns Liedtext zum Ausdruck – die Unterscheidung bleibt gewahrt. Der Hirte leidet für die Schafe; die Schuld bezahlt der Herre … für seine Knechte (Strophe 4).
Trotzdem ist der Zugang zu Christus als Hoffnungsträger, als „wahrem Menschen“, für den Leiderfahrenen leichter als dem Bürger der modernen Wohlstandsgesellschaft. Das bestätigt auch die Betrachtung des zweiten Beispiels.
- Obwohl Johann Crüger, der Komponist unseres Liedes seine Weise in Form eines wunderbaren vierstimmigen Satzes mit zwei obligaten Instrumentalstimmen veröffentlicht hat (eine damals neue, an der Gesellschaft orientierte Musizierpraxis), ist nicht sein Choralsatz, sondern sind die Sätze Johann Sebastian Bachs, besonders die der „Johannespassion“ am meisten bekannt.
Bach leistet in seinen Textvertonungen immer auch einen Beitrag zu ihrer Ausdeutung. Betrachten wir einmal die Vertonung der 8. Strophe, hier in der Johannespassion die Nr. 7, inmitten der Festnahme Jesu.
Die Tonart g-Moll steht bei Bach nahezu immer für den der Passion typischen Affekt. Die bei Bach sehr wichtige Tonartencharakteristik, geprägt durch die Affektenlehre des 17. Jahrhunderts, symbolisiert von vorn herein bestimmte Stimmungszustände. Weitere Stilelemente kommen zum Einsatz: der Abschnitt die dich gebracht auf diese Marterstraße wird unter Anwendung einer typisch barocken, rhetorischen Figur vertont die Bässe singen bzw. spielen bei auf diese Marterstraße fünf chromatisch, d.h. in Halbtonschritten abwärtssteigende Noten. In der barocken Figurenlehre ist dies die Firgur des sog. „assus duriusculus“, der schwere Gang“, die vielleicht stärkste rhetorische Figur zum Ausdruck von Schmerz, Leiden und Pein. Die Schlußkadenz ist geprägt durch verminderte, fallende Intervalle (verminderte Quart und verminderte Quint) auf und du mußt leiden.
Würde man Bachs Gesamtwerk – auch die reine Instrumentalmusik – nach ihrem Affektgehalt auflisten, würde sich ein Großteil unter der Rubrik „Passionsaffekt“ einordnen lassen. Bach fällt es offensichtlich leicht, sich mit diesem Thema zu beschäftigen bzw. sich künstlerisch und theologisch mit Leiden und Tod zu konfrontieren.
Und wieder fällt auf, daß Bachs Biographie – ähnlich der Johann Heermanns – massiv geprägt ist von Tod und Leiden (früher Tod der Eltern, Verlust seiner ersten Frau, Verlust zahlreicher Kinder im Kindesalter).
Dieser „ganz normale Wahnsinn“ läßt sich doch nur ertragen, wenn man eine Leitfigur hat, die für die eigene Lebenssituation Glaubwürdigkeit vermittelt. Johann Sebastian erzog seine Kinder streng religiös, aber mit mäßigem Erfolg. Könnte dies damit zusammenhängen, daß einige von ihnen z.B. Carl Philipp Emanuel in der aufgeklärten Gesellschaft viel leichter Fuß fassen konnten als der Vater? Im 18. Jahrhundert war Carl Philipp wesentlich bekannter als sein Vater. Überhaupt scheint die Theologie des leidenden, defensiven Jesus im 18. Jahrhundert an Attraktivität zu verlieren. Die Kirchenmusik zumindest bestätigt dies. Die wenigen Vertonungen der Passionsgeschichte aus dieser Zeit – von Telemann bis Beethoven – geben Jesus in ihrer Charakterisierung immer etwas heldenhaftes – sie versuchen die Christusfigur dem aufstrebenden Geist der Aufklärung ein wenig anzugleichen.
- Ist das vielleicht auch unser Problem. Der zu Beginn der Passionszeit wieder etwas verminderte Gottesdienstbesuch auch in der Göttinger Johanniskirche könnte ein Zeichen dafür sein, daß diese Gesellschaft in Wahrheit einen anderen Christus sucht, nämlich einen erfolgreichen, starken, streitbaren Christus. Der überwältigende Zuspruch der selbsternannten sog. Erfolgstrainer macht mich immer wieder stutzig. Namhafte Firmen schicken ausgewachsene Mitarbeiter in Veranstaltungen, bei denen diese dann – durch welche Kräfte auch immer beflügelt – barfuß über glühende Kohlen oder Glasscherben laufen und dabei angeblich Kräfte sammeln für die Herausforderungen der rauhen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft.
Welche Chance hat hier noch die in unseren Kirchen vergleichsweise schwach glimmende Botschaft vom geschändeten Jesus, der der Sohn Gottes sein soll, dem Gott, der der Schöpfer und Herrscher der gesamten Welt sein soll?
Doch gerade deshalb bin ich der Meinung, daß der leidende Jesus Christus in unserem gegenwärtigen Leben verkommen muß. Gerade in unserer selbstherrlichen, von starkem Selbstbewußtsein geprägten Gesellschaft hat dieser Jesus seinen Platz! Denn, daß die Gesellschaft, sowohl als Individuum als auch in ihrer Gemeinschaft, sich immer wieder Fehler leistet, dürfte wohl unbestritten sein. Und daß es immer ein Regulativ gibt, quasi ein Gegenüber, daß für diese Fehlleistungen büßen muß, ist auch unbestritten. Schließlich erleiden derzeit Millionen von Mitgeschöpfen durch ihre Notschlachtung die Fehlleistungen unserer Gesellschaft und ihrer Individuen, die gerne jeden Tag viel Fleisch für wenig Geld auf dem Tisch stehen haben.
Natürlich kann auch hier das Töten von Schlachtvieh nicht in direkten Zusammenhang mit dem Sühnetod Jesu Christi gebracht werden. Aber beide Phänomene deuten auf den selben Sachverhalt hin, auf die Fehlbarkeit der Menschheit. Und deshalb brauchen wir eine Leitfigur, die die Folgen von zu großer Selbstherrlichkeit aufzeigt, die ein gewisses Maß an Bescheidenheit und Selbstkritik auch in einer erfolgsorientierten Gesellschaft einfordert. Ich will hier bestimmt nicht eine Theologie der Schwäche vertreten, denn die Nachfolge Jesu Christi ist kein Zeichen von Schwäche, im Gegenteil: In unserer Gegenwart bedeutet sie Mut und Stärke.
Der Kreuzestod Jesu Christi ist hochaktuell. Deshalb möchte ich abschließend etwas frei aus Heermanns Lied zitieren: Gerade weil wir „in Lust und Freud“ leben dürfen, laßt uns „Lob und Dank singen“!
Anmerkung zur Predigt:
Als ich von Herrn Prof. Nembach, dem Initiator der Reihe an Internetpredigten der Universität Göttingen gefragt wurde, einen Beitrag für den Sonntag „Reminiscere“ zu leisten, wollte ich dieser Anfrage zunächst nur zögerlich nachkommen. Ich bin mir bewußt, daß ich mich als Kirchenmusiker, als der ich in Göttingen tätig bin, hiermit auf eine schwere Aufgabe eingelassen habe, bewege ich mich doch hier auf dem Terrain von „Profi-Theologen“. Die Unnachgiebigkeit des Auftraggebers und das Angebot einen Liedtext den geforderten Ausführungen zugrunde zulegen, führt dann endlich zu meiner Zusage.
Bernd Eberhardt (Organist der St. Johanniskirche Göttingen und Leiter der Göttinger Stadtkantorei)
Chemnitzer Str. 2
37085 Göttingen
Tel./Fax: 0551 / 790 7766