EG 82 „Wenn meine Sünd mich kränken … “

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Predigtreihe „Passion im Lied“ | Okuli | 18.3.2001 | EG 82 „Wenn meine Sünd mich kränken … “ | Paul Kluge |

Wenn meine Sünd mich kränken …

Er sah auch im Alter noch gut aus: Groß und stattlich, von gerader Haltung, volles, leicht gewelltes Haar. Er trug Jeans und einen blauen Leinenkittel, an einem Lederband ein kleines Holzkreuz vor der Brust. So waren auch die anderen gekleidet, die mit ihm den heruntergekommenen Hof wieder aufgebaut hatten. Angefangen hatten sie zu zweit, neben ihm ein Aussteiger. Nach und nach waren andere dazugekommen. Menschen, die für ein paar Tage eine Bleibe suchten und Aufnahme fanden, Unterkunft und Essen gegen Arbeit. Die meisten zogen bald weiter, aber einige blieben. Lernten ein Leben kennen, daß ihnen bis dahin fremd war: Ihre Vergangenheit spielte keine Rolle, sie wurden, wie sie waren, angenommen. Bekamen Verantwortung übertragen für die Gänse oder für die Schweine, für den Gemüsegarten oder – im Winter – für die Heizung. Das tat ihnen gut, und manches, was ihnen vorher so wichtig erschien, wurde nichtig und klein. Z. B tranken sie Früher ihr abendliches Bier bis alles schwankte; jetzt reichte auch Tee. Hatten sie sonst, wenn etwas Brauchbares herumlag, dieses an sich genommen, brachten sie es nun an seinen Platz. Manchmal verstanden sie selbst nicht, was für Menschen sie geworden waren.

Dann waren da diese Kinder. Sie kamen von weit er, waren schwer krank. Jeweils sechs Wochen blieben sie, und die Leute vom Hof kümmerten sich um sie. Schraubten aus Sperrmüllteilen brauchbare Fahrräder zusammen, organisierten Ausflüge, spielten Fußball mit ihnen oder Tischtennis. Bevor sie auf den Hof kamen, hätten die Männer sich das nicht vorstellen können. Nun war es ihnen selbstverständlich geworden. Wie auch die regelmäßigen Gebetsstunden, an die sie sich nach anfänglichem Sträuben gewöhnt hatten und die manchem schon fehlte, wenn einmal eine ausfiel. Aber das kam selten vor.

Natürlich war das Miteinander nicht immer einfach, und ab und an dachte der eine oder andere daran, seine Sachen zu packen und abzuhauen. Das kam auch vor. Aber die meisten machten sich vorher klar, was das bedeuten würde: Wieder auf der Straße leben, um Essen Diebereien begehen, und sicherlich auch wieder Knast. Da blieben sie dann doch lieber auf dem Hof und bei ihm. Er sorgte für sie, wenn sie selbst es nicht konnten, er traute ihnen zu, etwas zu können und – vor allem – er vertraute ihnen. Sie bekamen immer wieder zu spüren, wie sehr er in und aus seinem Glauben lebte.

Das war bei ihm nicht immer so. Sein Elternhaus war weder fromm noch unfromm gewesen. Als Kind und Jugendlicher war er ein ziemlicher Rabauke, hatte nach der Schule ein Handwerk gelernt, war dann zur See gefahren. Verlockungen war er gern gefolgt und Streitereien hatte er mit seinen starken Fäusten geregelt, manchmal auch mit dem Messer. Er hatte dann geheiratet, eine Arbeit an Land angenommen, Kinder gezeugt und die Abende in Kneipen verbracht. Seine enttäuschte Frau geschlagen und auch die Kinder. Zum Trinken kam bald das Spielen, und das Geld wurde knapp. Er verhökerte Sachen aus seinem Betrieb, wurde erwischt, entlassen und angezeigt. Bewährungsstrafe. Seine Frau ließ sich scheiden.

Dann kam die Krankheit. Langsam, fast schleichend kam sie über ihn. Als er sie nicht mehr ignorieren konnte, ging er zum Arzt: Hirntumor, inoperabel. „Das hast du nun davon,“ schoß es ihm durch den Kopf. Später fiel ihm eine Geschichte ein, die er als Konfirmand einmal gehört hatte: Jesus hatte einem Kranken die Sünden vergeben, und der war daraufhin gesund geworden. Damals hatte er darüber nur gegrinst. Wie über alles, was ihm da erzählt wurde. So etwas gab es einfach nicht, das waren doch Märchen, und überhaupt: Was hatte denn dieser Jesus mit ihm zu tun! Daß der für seine Sünden gestorben sein sollte, verstand er nicht, damit wußte er nichts anzufangen. Pastorengeschwätz halt; die mußten ja so reden, weil sie dafür bezahlt wurden. Für ihn hatte das keine Bedeutung. Damals nicht und jetzt auch nicht.

Oder doch? Sollte seine Krankheit etwa mit seinem Leben zusammenhängen? Könnte er vielleicht gesund werden, wenn ihm seine Sünden, seine Schuld vergeben würden? Er überdachte sein Leben, und manches fiel ihm ein, an das er sich gern und mit Freuden erinnerte: Zeiten, in denen er gut verdiente und sich vieles leisten konnte. Menschen, mit denen ihn Freundschaft oder Liebe verbunden hatten. Fröhliche Stunden beim Becherklang. Doch da gab es auch vieles, das er besser nicht getan hätte. Das er gern ungeschehen machen würde. Wo er Menschen geschadet, sie an Leib und Seele verletzt hatte. Seine Frau, seine Kinder, auch andere. Er schämte sich.

An diesem Tag betete er zum ersten mal seit seiner Kindheit, am nächsten Sonntag ging er zum ersten mal seit seiner Konfirmation in einen Gottesdienst. Predigttext war die Heilung des Gichtbrüchigen, und der Pastor sagte: „So, wie Jesus diesem einen seine Sünden vergeben und ihn dadurch geheilt hat, hat er durch seinen Tod und seine Auferstehung unser aller Sünden ausgelöscht. Unsere Vergangenheit ist vergangen, wir dürfen neu zu leben beginnen!“

Nach dem Gottesdienst erzählte er dem Pastor seine Geschichte. Der bestätigte ihm, daß seine Schuld vergeben sei, und segnete ihn. Lud ihn in die Gemeinde ein und bot ihm Gespräche an, auch Beichte, wenn er sie wünsche.

Er nahm die Angebote an, begann, in der Bibel zu lesen, betete immer wieder. Es fiel ihm schwer, für sich anzunehmen, daß seine Schuld vergeben, seine Sünde bedeckt sei. Immer wieder dachte er, daß er bestraft werden müsse. Denn wer Böses getan hat, gehöre ja wohl bestraft. Und wenn einen keiner bestraft, muß man es eben selber tun und sich z. B. einen Tumor nehmen. So gingen seine Gedanken. Doch irgendwann, nach vielen Gebeten und vielen Gesprächen, dämmerte es ihm: Daß Jesus für mich gelitten hat, gestorben und auferstanden ist, heißt: Ich darf mit meinen Schwächen und Fehlern, darf trotz meiner Sünden leben. Sie zählen nicht. Vergangen ist vergangen. Ganz begreifen konnte er das nicht, aber er wollte es glauben.

Das Unerwartete geschah: Die Krankheitssymptome gingen zurück, verschwanden schließlich völlig, und die Ärzte schrieben ihn gesund.

Das gab seinem Leben eine neue Richtung: Er suchte und fand wieder Arbeit, sogar in seinem erlernten Beruf. Verdiente nicht schlecht, zog in eine andere Wohnung, richtete sich solide ein. Legte Geld beiseite. Anfangs war er richtig stolz auf sich, daß er das schaffte. Doch mit der Zeit nahm sein Stolz ab, er wußte immer weniger, wofür er das alles tat. Er hielt engen Kontakt zu seiner Gemeinde, doch der blieb einseitig. Er war neu und die anderen kannten sich schon lange, er kam nicht dazwischen.

Durch Zufall – später sprach er von Fügung – lernte er eine mönchische Bruderschaft kennen. Dort war er willkommen, dort wurde er wie ein Bruder angenommen, dort fühlte er sich wohl. Nach längerer Zeit, nach vielem Bedenken bat er um Aufnahme. Er wollte sich ganz in den Dienst Gottes, in den Dienst am Nächsten stellen. Er löste seine Wohnung auf, verkaufte, worauf er einmal stolz gewesen war, und zog zu den Brüdern. Betete mit ihnen, arbeitete mit ihnen, teilte ihr bescheidenes Leben. Und wurde immer zufriedener oder, mit seinen Worten, er fand seinen Frieden.

Dann entdeckte er den heruntergekommenen Hof, machte aus ihm ein Zentrum der Nächstenliebe, einen Ort der Sündenvergebung. Hier konnte er „an andern üben, was Gott für ihn getan.“

Amen

Gemeinde: EG 82, Strophen 4 – 8

Gebet: Ach Gott, wir können nicht Leben, ohne an anderen Menschen schuldig zu werden, und diese Schuld quält uns manchmal, macht uns sogar krank an Körper, Geist oder Seele. Zwar hören wir immer wieder, daß durch Leiden, Tod und Auferstehung Christi unsre Sünde, unsre Schuld vergeben ist – doch oft fällt es uns schwer, diese Vergebung für uns anzunehmen. Statt dessen rechnen wir mit Strafe und Vergeltung. Guter Gott, wir bitten dich: Hilf uns, deiner Vergebung zu glauben.

Ach Gott, manchmal fällt es uns schwer, Schuld und Sünde einzugestehen. Dann werden wir hart, dann sind wir gelähmt, zu anderen Menschen zu gehen und um Vergebung zu bitten. Dann laß du uns daran erinnern, daß du uns schon vergeben hast. Und, Gott, manchmal verweigern wir anderen die erbetene Vergebung, obwohl du schon lange vergeben hast. Darum bitten wir dich um ein wenig von deiner Güte, daß wir sie weitergeben können.

Du hast uns durch Leiden, Tod und Auferstehung deines Sohnes Heil und Heilung geschenkt. Laß uns dies Geschenk aus Dankbarkeit mit anderen teilen. So wird es noch größer, bringt auch anderen Menschen Heilung und Heil.


Anmerkung

Justus Gesenius lebte von 1601 bis 1673, war Pfarrer in Braunschweig, Schloßprediger in Hildesheim, Oberhofprediger und Generalsuperintendent in Hannover und gab gemeinsam mit seinem Freund David Denicke 1646, im Dreißigjährigen Krieg also, ein „Neu ordentlich Gesang-Buch“ heraus, das auch den von ihm verfaßten Text „Wenn meine Sünd mich kränken“ enthielt. Die Melodie hat er übernommen.

Dieser Text hat mich vor allem deshalb angesprochen, weil er – im Unterschied zu manchen anderen Passionsliedern – den „Erlösungsegoismus“ durchbricht und den Schritt vom „Für-mich“ zum „Für-dich“ geht als „Dankbarkeit für die Erlösung aus dem Elend“ (Heidelberger Katechismus) und gewissermaßen aus der Dogmatik eine Ethik entwickelt. Ferner fiel die Verbindung „Sünde – Krankheit – Vergebung – Heilung“ auf, die in Verkündigung und Seelsorge wohl seltener als in Therapeuten-Praxen angesprochen wird.

Außerdem ist der Text ziemlich frei von in Passionsliedern nicht seltener Romantisierung des Leidens (Christi). Diese (ver)führt gelegentlich zu dem Kurzschluß, eigenes Leiden als identifizierende Partizipation am Leiden Christi zu interpretieren und dann das eigene Leiden pfleglich zu behandeln und zu konservieren. Solches Verhalten aber ignoriert die Auferstehung Christi.

Schließlich hat der Text des Gesanges mich an einen Menschen erinnert, dessen Biographie mich zu der folgenden Erzähl-Predigt angeregt hat; das Wirken der Evangelischen Josephsbruderschaft in 29416 Amt Dambeck ist ebenfalls in die Geschichte mit eingeflossen.

Zum Gottesdienst

Eingangspsalm: 130

Lesung: Mk 2, 1 – 12

Vor der Predigt: EG 82, Strophen 1 – 4 singen. Danach die Gemeinde bitten, den ganzen Gesang aufmerksam und in Ruhe zu lesen.

Paul Kluge

Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der

Kirchenprovinz Sachsen

Postfach 54, 39028 Magdeburg

E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de