EG 85: „O Haupt voll Blut und Wunden“

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Predigtreihe „Passion im Lied“ | Karfreitag | 13. April 2001 | EG 85: „O Haupt voll Blut und Wunden“ | Ernst Arfken |

Liebe Gemeinde!

Was können wir tun, um diesen Karfreitag recht zu begehen und des Sterbens von Jesus Christus zu gedenken? Wir sind es gewohnt, im Gottesdienst eine Predigt über einen Bibeltext zu hören. Heute lädt der Dichter Paul Gerhardt uns ein zu einer Betrachtung seines bekanntesten Passionsliedes, „O Haupt voll Blut und Wunden“. Der Karfreitag ist im Lauf des Jahres zweifellos ein besonderer Tag. Da ist es sinnvoll, auch etwas Besonderes, nicht Alltägliches zu tun. Lassen wir uns also einmal auf die Betrachtung dieses Liedes ein, das wiederum auch eine Betrachtung ist.

Die Überschrift des Liedes wirkt auf uns heute sehr eigenartig, vielleicht sogar abstoßend. Denn diese Dichtung steht nicht für sich allein, sondern ist eine von „Sieben Hymnen auf die Gliedmaße Jesu Christi“, wie es in dem ursprünglichen Titel heißt. Dieses Lied besingt, wie schon die erste Zeile erkennen lässt, das Haupt des Gekreuzigten; ein anderes seine Füße, eins die Hände, eins die Seite usw. Davon haben sich in den Gesangbüchern bis heute nur das Lied über das Haupt und das über die Füße erhalten. Wie fremdartig dem Menschen unserer Zeit diese Betrachtungsweise ist, zeigt sich am deutlichsten daran, dass den Herausgebern des Badischen Gesangbuches, das noch bis 195O gebräuchlich war, die Zeile „Diese Füße will ich halten auf das Best’ ich immer kann“ zu unappetitlich war. Sie schrieben stattdessen „Dich, dich will ich ewig halten“, wodurch allerdings die eigentliche Absicht des Liedes verloren ging.

Zunächst waren diese Lieder in lateinischer Sprache abgefasst. Lange Zeit galt der französische Bischof Bernhard von Clairveaux als ihr Verfasser. Neuere Forschungen haben aber ergeben, dass sie auf den belgischen Bischof Arnulf von Löwen zurückgehen, der um 12OO n.Chr. geboren wurde.

Wenn es uns auch sehr merkwürdig erscheint, die einzelnen Körperteile des Gekreuzigten zu besingen, so bedeutet doch Paul Gerhardts Lied einen Höhepunkt in der Passionsdichtung und lohnt sehr, dass wir uns näher mit ihm beschäftigen. – Die Melodie stammt übrigens von einem weltlichen Liede: „Mein Gemüt ist mir verwirret von einer Jungfrau zart.“ Wer aber bedenkt, wie kunstvoll z. B. Johann Sebastian Bach dieses Lied mit Paul Gerhardts Texten in seine großen Passionsmusiken einbezogen hat, vergisst dabei das ursprüngliche Liebeslied.

O Haupt voll Blut und Wunden,

voll Schmerz und voller Hohn,

o Haupt, zum Spott gebunden

mit einer Dornenkron,

o Haupt, sonst schön gezieret

mit höchster Ehr und Zier,

jetzt aber hoch schimpfieret:

Gegrüßet seist du mir! (Str. 1)

Es entspricht der lateinischen Briefsitte, mit einer Anrede zu beginnen und die Anrede durch ein „O“ zu kennzeichnen. (32 Lieder unseres Gesangbuches beginnen mit solchem „O“.)

Dreimal wird hier das Haupt des Gekreuzigten angesprochen. Dann folgt der Gruß, der gewissermaßen einen doppelten Boden hat: „Gegrüßet seist du mir!“ Mit den Worten „Gegrüßet seist du, lieber Judenkönig!“ hatten die Soldaten Jesus verspottet. Paul Gerhardt nimmt ihre Worte auf und wendet sie ins Positive, als wollte er jenen Spott wieder gut machen: „Gegrüßet seist du mir!“ Dann wendet er sich von dem dornengekrönten Haupt zum Gesicht:

Du edles Angesichte,

davor sonst schrickt und scheut

das große Weltgewichte,

wie bist du so bespeit,

wie bist du so erbleichet!

Wer hat dein Augenlicht,

dem sonst kein Licht nicht gleichet,

so schändlich zugericht?

Die Farbe deiner Wangen,

der roten Lippen Pracht

ist hin und ganz vergangen;

des blassen Todesmach

hat alles hingenommen,

hat alles hingerafft,

und daher bist du kommen

von deines Leibes Kraft. (Str. 2 u.3)

Wie mag das Gesicht von Jesus ausgesehen haben? Eine Frage, die sich hauptsächlich die Maler stellen. Marc Chagall hat danach in der Form eines Gedichtes gefragt. Darin heißt es:

Du hast meine Hände erfüllt

mit Farben und Pinseln.

Ich weiß nicht, wie ich dich malen soll.

Gilt es, die Erde zu malen,

den Himmel, mein Herz?

Die Städte im Feuer?

Die fliehenden Menschen?

Meine Augen in Tränen?

Wohin fliehen? Wohin fliehen?

Der hier unten das Leben gibt,

der den Tod aussendet,

vielleicht wird er es fügen,

dass mein Bild leuchtet.

Liest man, was in den Evangelien von Jesus erzählt wird, so ahnt man, dass eine gewisse Hoheit von seinem Gesicht ausging. Viele Menschen fassten sofort Vertrauen zu ihm. Die Soldaten, die ihn verhaften sollten und mit Spießen, Stangen und Stricken kamen um einen Verbrecher zu fangen, waren über seinen Anblick so erschrocken, dass sie zu Boden fielen.

Das Gesicht ist eigentlich der weitaus schönste und ausdrucksvollste Teil des Körpers. Es ist erstaunlich und erschreckend zugleich, was Menschen alles erfinden, um andere Menschen zu quälen und zu verunstalten, wie es Paul Gerhardt hier beschreibt. Die Geißel, die dazu dient, die Haut blutig zu schlagen, ist wohl aus der Mode gekommen. Statt dessen hört man immer wieder von Berichten, dass bei Folterungen brennende Zigaretten auf der Haut der Opfer ausgedrückt wurden. Nicht weniger erfinderisch ist der Mensch, wenn es darum geht, andere Menschen zu töten oder gar in Massen zu vernichten.

Die nächste Strophe beginnt mit einer Feststellung, die uns heute ganz überraschend und kaum glaubhaft erscheint:

Nun, was du, Herr, erduldet,

ist alles meine Last;

ich hab es selbst verschuldet,

was du getragen hast.

Schau her, hier steh ich Armer,

der Zorn verdienet hat.

Gib mir, o mein Erbarmer,

den Anblick deiner Gnad. (Str. 4)

„Ich hab es selbst verschuldet“, was andere vor fast zweitausend Jahren Verbrecherisches getan haben? Wie kommt das zustande? Millionen von Christen haben durch die Jahrhunderte geglaubt, dass Jesus Christus, wie es heißt, „für unsere Sünden gestorben ist“. Aber wer glaubt das heute noch? Nur – was tun wir, wenn wir von vornherein erklären, „wir sind nicht schuld“? Wir folgen damit der allgemeinen menschlichen Neigung, jede Schuld von sich abzuwälzen. Schon auf den ersten Blättern der Bibel wird das beschrieben: Adam sagt zu Gott: „Die Frau, die du mir gegeben hast, hat mich verleitet.“ Dabei sollte er seine Frau doch eigentlich lieben, statt sie zu „verpetzen“! Und Eva sagt: „Die Schlange betrog mich.“ Treffender und anschaulicher kann es kaum beschrieben werden. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs haben Menschen millionenfache Schuld auf sich gehäuft in einem Ausmaß, das alles Denken übersteigt. Ein Sprichwort sagt: „Hinterher will es keiner gewesen sein.“ Und so war es denn auch. Da tauchte das Wort von der „Kollektivschuld“ auf, weil doch nicht nur von Vereinzelten, sondern auch massenweise Böses getan wurde. Doch dieses Wort wurde bald wieder vom Tisch gewischt. Auffällig ist aber, dass es bis heute immer wieder einmal auftaucht, als wollte es uns verfolgen. Die Frage, wieweit wir schuldig oder unschuldig sind, ist ungewöhnlich schwierig und verwickelt. Wenn wir so schnell und selbstbewusst uns für unschuldig erklären, setzen wir uns selbst zum obersten Richter, der genau weiß, was gut und böse ist. Aber sind wir wirklich so klug? Ein Wort aus den Psalmen lautet: „Wer kann merken, wie oft er Fehler macht? Verzeihe mir, Herr, die verborgenen Fehler.“ Ein ungewöhnlich heilsames und befreiendes Gebet! Denn wer es nachsprechen kann, der wird frei von dem hässlichen Zwang, sich dauernd rechtfertigen zu müssen und Beweise für seine Unschuld zu suchen. Der kann es auch ertragen, wenn Paul Gerhardt schreibt: „Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“

Von der Betrachtung des Gekreuzigten wendet sich das Lied nun mehr und mehr zu den Gedanken an das eigene Sterben. Diese erreichen ihren Höhepunkt in den beiden letzten Strophen. Unendlich vielen Menschen sind sie zur Hilfe in ihrer Sterbestunde geworden. Wer in hohem Alter stirbt, wünscht sich wohl, dann die Last des Lebens abwerfen zu können. Wer sein Leben gar zu früh beschließen muss und gern noch geblieben wäre, hat es leichter, wenn ihm einer Beistand leistet und seine Hand hält. Doch das ist nicht jedem vergönnt. Mancher stirbt einsam oder gar von vielen medizinischen Apparaten umgeben. Paul Gerhardts Worte können allen Sterbenden Trost geben. Wo kein Mensch mehr mit uns gehen kann, da lässt er uns darum bitten, dass Jesus Christus uns begleitet und in das ewige Leben führt. “Wer so stirbt, der stirbt wohl.“

Amen

Wenn ich einmal soll scheiden,

so scheide nicht von mir;

wenn ich den Tod soll leiden,

so tritt du dann herfür;

wenn mir am allerbängsten

wird um das Herze sein,

so reiß mich aus den Ängsten

kraft deiner Angst und Pein.

Erscheine mir zum Schilde,

zum Trost in meinem Tod,

und lass mich sehn dein Bilde

in deiner Kreuzesnot.

Da will ich nach dir blicken,

da will ich glaubensvoll

dich an mein Herz drücken.

Wer so stirbt, der stirbt wohl. (Str. 9 u.1O)

( Anm.: Es empfiehlt sich, die Liedstrophen von einer

zweiten Person lesen oder von der Gemeinde

singen zu lassen.)


Ernst Arfken

18556 Altenkirchen

Tel.: 038391-12326