
EG 87 „Du großer Schmerzensmann … “
Predigtreihe „Passion im Lied“ | Palmsonntag | 8.4.2001 | EG 87 „Du großer Schmerzensmann … “ | Heinz Fischer |
Liebe Christen,
heute ist der erste Tag der Karwoche. Viele Menschen haben auch in ihrer eigenen Lebenserfahrung verinnerlicht, dass ein „Hosianna“ der Massen bald in das „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!!“ umschlagen kann. Viel schwerer ist es zu verinnerlichen, dass das Leiden und Sterben Jesu für mich geschehen sein soll und mir zugute kommt.
Das wird nicht nur in der Bibel mehrfach deutlich ausgedrückt, sondern auch in dem Lied, das wir gesungen haben: „Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu, dir sei Dank für alle deine Plagen.“ Dieses Lied ist ein großartiges Beispiel dafür, wie sich Theologie, Melodie und Lebenswirklichkeit durchdringen. Sicher, es ist kein Beispiel unserer Zeit, es eignet sich nicht für einen Hochglanzprospekt der Kirche. Wir sind auch kein erfolgreicher Autokonzern, der die Freuden der Mobilität in seiner Autostadt feiert. Wir sehen mit diesem alten Lied eben auch die Kreuze am Straßenrand und die vielen unerrichteten Kreuze neben unserem Lebensweg.
Zu Beginn der Karwoche betrachten wir dieses Lied und Bild vom Schmerzensmann. Die sechs Strophen des Liedes haben zwei Schwerpunkte: Dank (Str. 1 – 3) und Bitte (Str. 4 – 6).
Das Leiden Christi in seiner ganzen Tiefe und heilenden Kraft erfahren wir nur, wenn wir uns diesem Kernstück des Glaubens in einer doppelten Betrachtungsweise nähern. Martin Luther hat uns dazu eine großartige Anleitung gegeben. In seiner Auslegung des 22. Psalmes (1521) sagt er über das Leiden Jesu: Es ist „Sacramentum und Exemplum“! Durch beide Begriffen ist diese doppelte Betrachtungsweise ganz deutlich!
Sacramentum (Zeichen der Gegenwart Gottes) bedeutet, dass durch dieses Leiden Gottes Gnadengabe zu uns kommt und ein „seliger Tausch stattfindet“: Christus übernimmt von uns Sünde, Knechtschaft und Friedlosigkeit und schenkt uns dafür seine Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden. Dabei haben wir als Menschheit sein Leiden verschuldet und jeder Einzelne hat immer auch einen persönlichen Anteil daran.
Exemplum (Beispiel) ****bedeutet, dass wir mit der Sache nicht fertig sind, sondern im Glauben diese Gabe annehmen und nach seinem Vorbild auf dem Weg der Nachfolge auch unser Kreuz und unser Leiden auf uns nehmen und positiv akzeptieren (vergl. 1. Petr. 2, 21 ff. ).
In unserem Wochenlied „Du großer Schmerzensmann … “ haben diese beiden Gedanken Gestalt gewonnen:
„Herr Jesu, dir sei Dank für alle deine Plagen. … (Str. 1)
Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben. … Dein Kreuz ist unser Trost, dein Blut das Lösegeld“ (Str. 3).
In dem Lied werden wir vor die mittelalterliche Plastik eines „Schmerzensmannes“ geführt: Der gefesselte Christus sitzt auf einem Holzblock, hat die Dornenkrone auf dem Haupt und einen Stecken als „Zepter“ in der Hand. In dem Lied wird dieses Bild aber zugleich auch von theologischen Aussagen begrenzt. Sein Leiden geht von Gott aus, „vom Vater so geschlagen“. Die Souveränität Gottes, der uns im Leiden keine Legionen Engel schickt, wird hier so ernst genommen, daß die Peiniger mit keinem Wort erwähnt werden. Der Passionsweg steht schon vor aller Zeit und Welt in Gottes Plan. So wird im Heidelberger Katechismus (Frage 37; EG 807) gesagt, dass Christus „an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden, sonderlich aber am Ende desselben, den Zorn Gottes wider die Sünde des ganzen menschlichen Geschlechts getragen hat“.
Sein Leiden wird uns heute zum ganz tiefen Trost, wenn es uns gelingt, Gethsemane auf unsere eigene „Seelenangst“, seine Gefangennahme auf unsere eigene „Band und Not“, die Gerichtsverhandlung mit ihren „Begleitumständen“ auf eigene „Geißelung“ und auf die fortwährende Folter in der Welt zu beziehen. Zum „bittren Tod“ gehört dann auch alles sinnlose Sterben durch Mord, Krieg, Unfall, Leichtsinn und Fahrlässigkeit. Über solch eine Welt entbrennt der Zorn Gottes und nicht nur der Zorn sensibler Zeitgenossen! Wir modernen Menschen sind von unserer eigen Gottesferne „verdorben“ und kommen in unserem Glauben höchstens bis zu dem „lieben Gott“, den wir akzeptieren, solange er uns in Ruhe läßt und eben darin „der liebe Gott“ ist, den man beliebig mißachten oder zu besonderen, schönen Stunden herbeizitieren kann. Weil wir den Zorn Gottes nicht ernst nehmen, können wir auch nicht mehr wahrnehmen, dass die Flamme seines Zornes nicht uns trifft, sondern seinen eigenen Sohn. Wenn wir diesen „seligen Tausch“ begriffen haben, dann können wir Gott nur jeden Tag auf Knien danken, dass wir leben und so gut leben dürfen! „Herr Jesu, dir sei Dank für alle deine Plagen!“ Echter Dank führt zum eigenen Sündenbekenntnis. Nur über das Sündenbekenntnis finde ich den Pfad zur Versöhnung. Im Wort „Versöhnung“ ist der Begriff „„Sohn“ neu gefüllt. Das Lied kommt in seiner dritten Strophe zum Höhepunkt. Früher gab es noch eine Strophe mehr, da wurde dieser Höhepunkt unter sieben Strophen deutlicher, weil die heutige dritte damals als vierte Strophe genau in der Mitte stand: „Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben. Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil, dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.“
Wie in diesen Gegensätzen solche alten Lieder für uns heute lebendig werden! Die glatten Erfolgsgeschichten unserer Zeit gehen am Leben vorbei und so ein altes Lied trifft mitten ins moderne Leben. Umwerfend!
Wenn wir soweit in das Denken Gottes vordringen und unsere Situation so klar vor Augen haben, dann können wir diesen Gott auch ganz konkret bitten. Das drückt der zweite Teil des Liedes aus. Das sind nicht die billigen Wünsche nach einem guten Leben und „Hauptsache Gesundheit!“, wobei die Leidenden und Kranken vergessen werden, die ihr Leiden und ihre Krankheit annehmen und bewältigen. Nein!
Hier wird die Lebenslage des Dichters in der schlesischen Gegenreformation und im Gefolge des dreißigjährigen Krieges deutlich! Jeder Evangelische konnte damals über Nacht gefordert werden, sich „zum Kampf und Leiden zu wagen.“ Das haben wir fast verlernt und dürfen es doch nicht verlernen, damit wir auch „unter unsrer Last des Kreuzes nicht verzagen!“ Großartige Bitten: „Hilf tragen mit Geduld durch deine Dornenkron, wenn`s kommen soll mit uns zum Blute, Schmach und Hohn“ (Str. 4).
In den beiden letzten Strophen wird die Betrachtung unserer Angst vertieft und doch immer als notwendige Nachfolge auf dem Weg zum Heilung verstanden
„Laß uns im Tode siegen … “ ist ein großes Wort, denn es meint: Laß uns unserer irdisches Leben nicht höher einschätzen als das Bekenntnis zu dir! Auch in unserem Leid werden die Gegner, die Leute, die das verursachen, nicht genannt. Leiden kommt von Gott über uns, sagt das Lied. „Bind uns, wie dirs gefällt“. Der Gedanke entlastet uns von der Suche nach dem Schuldigen. Mußte nicht auch der Menschensohn das alles leiden, Züchtigt nicht Gott diejenigen, die er lieb hat? Hiob hat das im Leiden erkannt. Ob wir erkennen, dass bei allem die alte Weisheit gilt: Gott keinem mehr auferlegt, als er tragen kann? Die abschließende Bitte höre ich besonders genau: „Laß uns ja nicht verloren sein!“ Darin ist die Sorge eingeschlossen, daß der Tod Jesu vergebliche Liebesmüh` Gottes an den stolzen Menschenherzen sein könnte!
In einer ganz einfachen Strophenform wird das alles ausgedrückt. Die war im Barock sehr beliebt und wurde „Alexandriner“ genannt. Wir kennen diese Form aus vielen Liedern z. B. aus „Nun danket alle Gott!“ Die Form ist nicht so wichtig, aber die Einfachheit und Verständlichkeit bis heute. So einfach kann Dichtung sein und so tief, so nahe an uns dran und so theologisch zugleich!
Von dem Bild des Schmerzensmannes läßt Gott Trost und Segen für uns ausgehen!
Amen.
Propst Heinz Fischer
E – Mail: Propstei_Helmstedt@hotmail.com
ANHANG:Dichter, Komponist, Bilder und Symbole, Liturgie
Adam Thebesius (Textdichter)
Der Textdichter zu dem Lied kommt aus der schlesischen Tradition des 17. Jhd. Im Ev. Gesangbuch ist darüber unter der Nr. 956.3 etwas gesagt. Die Überschrift im EG deutet nur die liedgeschichtliche Einordnug an: „Konfessionalismus und Barock – Kultur“. Im Handbuch zum EG Bd. 2: ´Komponisten und Liederdichter des EG` (Göttingen 1999. S. 323) ist mehr über den Dichter des Textes gesagt. Nur dieses eine Lied von ihm fand Eingang in das EG.
Adam Thebesius (* 6.12.1596 in Seifersdorf bei Liegnitz; + 12.12.1652 in Liegnitz) stammte aus einer schlesischen Pfarrerdynastie, schloß sein Studium in Wittenberg mit dem Magisterexamen ab, kehrte 1619 zu seinem kranken Vater nach Seifersdorf zurück und wurde im selben Jahr Pfarrer von Mondschütz im nahen Fürstentum der Piasten, in Wohlau. 1621 heiratete er, vier seiner acht Kinder und seine Frau (+1629) starben. Die Not des Dreißigjährigen Krieges und die Pest haben sein Leben geprägt. Mir 31 Jahren wurde er schon Senior des Prarrkreises Wohlau und wenig später nach Liegnitz an die Kirche St. Petri und Pauli in der Oberstadt (Oberstadtkirche) berufen. Thebesius war als Prediger seiner Zeit bekannt. Er bemühte sich um einen logischen Aufbau seiner Predigten und um Verständlichkeit. Er verzichtete auf lateinische Ausdrücke. Seine Predigtweise wurde nachgeahmt und als „Methodus Thebesiana“ bekannt. Ein Zeitgenosse schreibt, dass er „nicht einer von denn war, die ihre Predigten aus dem Ärmel schütteln, sondern es mußte alles von ihm wohl erwogen, wohl überlegt und richtig eingefügt werden“!
Martin Jan [Jähne] ( Komponist )
Der Komponist ist etwas jünger als der Liederdichter, gehört aber in dieselbe Zeit wie Adam Thebesius und ist in ähnlicher Weise mit Schlesien verbunden.
Um 1620 wurde er vermutlich in Merseburg (Sachsen) geboren, er starb um 1682 in Ohlau / Schlesien. Wenige Lebensdaten von Martin Jähne (Jan) sind bekannt. 1644 schreibt er sich in Königsberg (Ostpr.) in der Universität ein, das in den Jahren vom Krieg weniger berührt war. Sechs Jahre später wirkt er als Kantor im schlesischen Sorau und veröffentlicht dort 1652 eine Sammlung von Passionsliedern in erster Auflage, die nicht erhalten ist. Darin ist vermutlich schon die Melodie des Liedes 87 enthalten. Die zweite um das Mehrfache erweiterte Auflage ist 1663 in seiner Saganer Zeit (Rektor und Kantor) entstanden und erhalten. Dieses „Passionale Melicum“ ist die älteste Quelle für die Melodie zum Lied „Du großer Schmerzensmann … “. Von der Gegenreformation wurde er 1668 vertrieben und starb um 1882 als Kantor in Ohlau an der Oder, wo er schon vorher gelebt hatte. Auch für ihn stehen hinter der Melodie reale Erlebnisse von Krieg, Vertreibung und Seuchen, die für die textlichen und melodischen Aussagen dieses Liedes authentisch sind.
Bilder und Symbole
Der „Schmerzensmann“ ist in der Kunst aller Jahrhunderte immer wieder abgebildet worden, gerade auch in der modernen. Manchmal ist das Motiv nur der Kopf mit der Dornenkrone (Dürer), oft das Kreuz und der Gekreuzigte in unzähligen Varianten, auch der Marterpfahl mit dem Gebundenen oder Christus in der Kelter, ausgepreßt bis zum Letzten.
In der Liedpredigt ist durchaus eine Bildbetrachtung enthalten, die auf ein konkretes Bild bezogen werden kann. Wer ein passendes Bild zur Hand hat und für die Gemeinde vervielfältigen kann, sollte das tun.
Liturgie
Das neue Ev. Gottesdienstbuch (EGb.) stellt drei Tagesgebete (Kollektengebete) für den Palmsonntag bereit (S. 307 ). Wenn Abendmahl gefeiert wird, bietet sich die Präfation für die Passionszeit (S. 296 f) und ein Dankgebet nach dem Abendmahl (S. 297) an. Bei einer Liedpredigt muß der Liedauswahl insgesamt ein kreatives Augenmerk geschenkt werden. Wer die Predigt mit dem Lied 87 einrahmt, sollte vorher die Strophen 1 + 2 mit der Gemeinde singen und nach der Predigt die Strophen 3 – 6. Dann kann an der Stelle des Wochenliedes Nr. 90 sinnvoll sein: „Ich grüße dich am Kreuzesstamm … .
Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß man an der Stelle des Wochenliedes auch wirklich, wie gedacht, Lied 87 singt, und zwar nur die Str. 1 + 2, vor der Predigt dann die Strophen 3 – 6 und nach der Predigt aus dem Adventslied Nr. 11 (Wie soll ich dich empfangen … ) die Strophen 6 – 8 „Das schreib dir in dein Herze … “
Als Eingangslied bieten sich dann einige Strophen des Liedes 91 an „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken … “ (z. B. die Str. 1 – 6) und vor dem Abendmahl könnte man Nr. 219 singen „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut … “ (Str. 1 – 3 nach der Mel. „Aus tiefer Not… “, EG 299 II)