
EG 88, 1-6 „Jesu, deine Passion“
Predigtreihe „Passion im Lied“ | Invokavit | 4.3.2001 | EG 88, 1-6 „Jesu, deine Passion“ | Klaus Raschzok |
Der Nürnberger Barockdichter Sigmund von Birken verfaßt 1663 eine in kunstvoll-schlichter Sprache gestaltete Anleitung, Jesu Leidensweg persönlich zu betrachten und mit dem gottesdienstlichen Erleben zu verbinden. Die erste Strophe von „Jesu, deine Passion“ beschreibt die Voraussetzungen dieses Meditationsweges. Mit dem bewußten Gebrauch der Worte „ich“ und „jetzt“ gelingt es Sigmund von Birken, die singende Gemeinde unmittelbar in die beschriebene Erfahrung mit hineinzunehmen:
„Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken; wollest mir vom Himmelsthron Geist und Andacht schenken. In dem Bilde jetzt erschein, Jesu, meinem Herren, wie du, unser Heil zu sein, littest alle Schmerzen.“ (EG 88,1)
Die Meditation des Leidens Jesu beginnt mit der persönlichen Anrede: „Jesu, deine Passion“. Ein vertrautes Verhältnis wird so geschaffen. Passionsbetrachtung überwindet die Distanz. „Jetzt“ wird Jesu Leiden betrachtet. Aber zugleich mit der vergegenwärtigten Erinnerung an Jesu Weg zwischen Palmsonntag und Karfreitag spielt noch eine weitere Zeitebene eine Rolle: „wollest mir vom Himmelsthron Geist und Andacht schenken.“
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als die drei Zeitformen sind in der Passionsbetrachtung miteinander verbunden. Die Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu gilt keinem nur ausschließlich historischen Geschehen. Sie erfolgt in Verbindung mit dem auferstandenen Christus, der, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heißt, zur Rechten des Vaters sitzt und von dort „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Indem Sigmund von Birken bereits mit der ersten Strophe auf diese Weise die Zeiten verbindet, führt er in der Passionsbetrachtung zur grundlegenden Erfahrung jedes Gottesdienstes: daß wie für einen Augenblick die Zeit aufgehoben scheint, und gegenwärtige, vergangene und zukünftige himmlische Gemeinde im Lob und in der Anbetung verbunden sind.
„In dem Bilde jetzt erschein, Jesu, meinem Herzen“: Der leidende Herr nimmt Gestalt ein. In meinem Inneren formt sich ein Bild aus ganz unterschiedlichen Elementen: Bildeindrücke aus der Kunst, biblische Szenen, Wortfetzen aus Liedern oder Gebeten. Auf diese Weise entsteht mein ganz persönliches Bild des leidenden Herrn. Künstlerinnen und Künstler tun nichts anderes, nur daß sie diesen Vorgang nach außen kehren und sichtbar für andere machen.
Das im Inneren ganz persönlich geformte Bild des leidenden Herrn wird durch Sigmund von Birken noch näher bestimmt: „… wie du, unser Heil zu sein, littest alle Schmerzen.“ Der Leidende und Gekreuzigte leidet alle Schmerzen. Alle lasten auf ihm, bis an das Ende der Zeit. Erst dann wird Jesu Leidensweg endgültig zum Abschluß gekommen sein. Und er trägt alle Schmerzen als „unser Heil“. Für uns, uns zugute. Sigmund von Birkens Worte führen uns als singende Gemeinde hinein in die Spannung zwischen dem leidenden Herrn, der die Sünde der Welt trägt, und dem Auferstandenen, der seiner Gemeinde in Brot und Wein gegenwärtig ist.
Die Strophen 3 bis 5 des Liedes beschreiben diesen Betrachtungsvorgang noch näher. Sie benennen, wie meine eigene Schuld und die von Jesus getragenen Schmerzen in tiefer Weise zusammenhängen. Sie leiten darüber zur Reue und Buße an und beschreiben Christus als den Heilsmittler, der vor Gott für mich eintritt. Die sechste Strophe nimmt das bis in unsere Alltagssprache hinein noch spürbare Wort vom Nachtragen des Kreuzes auf:
„Gib auch, Jesu, daß ich gern dir das Kreuz nachtrage, daß ich Demut von dir lern und Geduld in Plage, daß ich dir geb Lieb um Lieb. Indes laß dies Lallen – bessern Dank ich dorten geb –, Jesu, dir gefallen.“ (EG 88,6)
Das „Tragen des Kreuzes“ vollzieht sich bei Sigmund von Birken in einer bewußt schlichten Weise – im Erlernen der Demut und der Geduld, dort, wo dieses Verhalten unumgänglich ist.Joachim Scharfenberg, der verstorbene Kieler Pastoralpsychologe, hat in seiner Arbeit als Seelsorger immer Wert auf eine wichtige Unterscheidung gelegt. Es gehe darum, im Seelsorgegespräch mit dem Gesprächspartner danach zu fragen, ob es sich um vermeidbares oder um unvermeidbares Leid handle. Gegen vermeidbares Leid sei mit aller Macht anzukämpfen. Unvermeidbares Leid jedoch müsse im Sinne der Kreuzesnachfolge in „Demut“ und „Geduld“ getragen werden. Sträflich sei es aber, auf die Unterscheidung zwischen vermeidbarem und unvermeidbarem Leid zu verzichten!
Das Nachtragen des Kreuzes wird bei Sigmund von Birken als körperbezogener Vorgang beschrieben. In der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender erweist es sich als hilfreich, dem Kranken ein kleines Kreuz aus Holz oder Metall in die Hand zu geben, um im Berühren und Spüren über die Hände und ihre hohe Sensibilität dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn nahe zu sein.
Doch alle diese Versuche werden bei Sigmund von Birken aus tiefer Einsicht heraus selbstkritisch als „Lallen“ bezeichnet. Sie sind Christus gegenüber wie erste Versuche eines kleinen Kindes, Worte zu formen und zu bilden. Aber, so bittet die sechste Liedstrophe: Jesus möge sich dieses „Lallen“ gefallen lassen, als einen ersten Dank. „… bessern Dank ich dorten geb“, heißt es dann weiter. Auf diese Weise kommt es über dem Einstimmen in das Lied wie in der ersten Strophe zur Erfahrung der aufgehobenen Zeit. Erst die Vollendung ermöglicht das, was wir Christus an Dank schuldig sind.
Über dem Singen vollzieht sich mit diesen Worten jedoch zugleich ein Übergang. Der Blick über die Zeit hinaus wird ermöglicht, als Einübung in die Perspektive göttlicher Vollendung. Die singende Gemeinde ist schon dort, weiß ihren Ort. Und so schließt Sigmund von Birkens Passionslied mit der in der Eingangsstrophe bereits angeklungenen Erfahrung jedes Gottesdienstes. Erinnerung, Gegenwart und Zukunft fallen für einen Augenblick ineinander vor Gott. Gegenwärtige, vergangene und zukünftige himmlische Gemeinde vereinen sich in der Feier des Heiligen Abendmahls im Lobgesang der Engel: „Heilig, heilig, heilig, ist der Herre Zebaoth. Alle Land sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe.“
Professor Dr. Klaus Raschzok
Lehrstuhl für Praktische Theologie
Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 1
07743 Jena