EG 98 „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“

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Predigtreihe „Passion im Lied“ | Laetare | 25.3.2001 | EG 98 „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“ | Wolfgang Petrak |

Die Orgel spielt zunächst zum Einhören eine Strophe vor

Liebe Gemeinde,

ein neues Lied zur Passionszeit. Wir haben diese Melodie gehört. Sie kommt mir vertraut vor und fremd zugleich: wie sich von einem Ton zum anderen die Stimmung verschiebt, wie aus dem traurigen Moll mit einem Mal Dur-Klänge erwachsen, verhalten zwar, doch irgendwie fröhlich und hoffnungsvoll. Leicht kommt die Melodie daher, kurz und prägnant; kaum hat sie angefangen, ist sie schon zu Ende, um sich dann aber aufs neue fortzusetzen, sicher und gewiss. Dieses Lied zur Passion ist wie die Lebenszeit selbst, mit ihren Höhen, mit ihren Tiefen und mit ihrer Schnelligkeit, die schlagartig Gewesenes vor Augen stellt und mich zugleich fragen lässt, wie es weiter geht. Woher komme ich, wo gehe ich hin?

Ich weiß noch, wie das war, 1953. Der strenge Winter war vorüber. Schlagartig einsetzendes Tauwetter hatte Schnee und Eis ein Ende gesetzt. In der Schule hatten wir“Im Märzen der Bauer“ bei geöffnetem Fenster gesungen. Am liebsten hätte ich kurze Hosen angezogen, was aber vor Ostern nicht erlaubt war, hätte so gern die dunkle, an den Knien geflickte ‚Schi-Hose‘ ( so schrieb man es damals) mit nur schwach erkennbaren Bügelfalten gegen die Lederhose eingetauscht, egal, denn: „Komm“, sagte der Vater, „wir machen einen Spaziergang“. Wir machten das häufiger damals. Meistens durch die Herrenhäuser Gärten in Hannover, dieses Mal aber fuhren wir mit der Straßenbahn nach Empelde. Ich durfte vorn beim Fahrer auf der Plattform stehen, sah zu, wie er die Kurbel betätigte; einige Male mußte er auch aussteigen, um mittels einer Stange per Hand die Weichen zu stellen. Dann ging es quietschend weiter. Bei der Endstation (vielleicht würde ich bei der Rückkehr hier eine Sinalco bekommen?) stiegen wir aus und gingen in Richtung Benther Berg, schweigend. War es, weil Vater, der Polsterer war, noch immer keine Aufträge hatte? War es, weil der Großvater, der bei uns zu Haus lebte, krank war? Denn der hatte entgegen seinen Gewohnheiten am Ofen gesessen und der Arzt war gekommen: Ich traute mich nicht, dem Vater Fragen zu stellen. Schweigend gingen wir an einem Bauernhof vorbei, die Miste dampfte, ich roch das ganz gern, blieb auch stehen, um dem Bauern zuzusehen, wie der seinen Lanz-Bulldog mit Hänger rückwärts rangierte. „So ein Bauer hat es gut“, sagte der Vater, „wenn der die Saat drinnen hat, braucht er nicht mehr viel zu tun. Hier siehst du“, Vater wies auf die frisch gepflügten Furche mit der fetten Calenberger Erde hin, „man muss den Boden pflegen, düngen, aussäen: tief in den Boden hinein, wegen des Nachtfrostes. Oder wegen der Vögel. Na klar, dass muss gemacht werden. Aber dann wächst es von selbst“.

Heute verstehe ich, was Loslassen bedeutet. Man muss weggeben, ohne etwas dagegen tun zu können. Ich kann nur darauf vertrauen, dass nichts und niemandverloren ist. Und: dass Neues aus der Tiefe werden wird.

Wir singen das. „Korn, das in die Erde…“ (EG 98,1)

Ich weiss noch, wie das war. 1967. Die Zeit der 68ziger hatte längst begonnen, nicht nur, weil wir Studenten unsere Haare und Bärte wachsen liessen; nicht nur, weil wir gegen die Bildung der Großen Koalition vor der Aula auf dem Wilhelmsplatz , gegen den Abriss des Reitstallgebäudes auf der Weender, gegen den Vietnam-Krieg auf dem 82iger-Platz in Göttingen demonstriert hatten. Sondern weil alles, wofür die Generation der Eltern, der Lehrer, auch der Pastoren gestanden hatte, kritisch hinterfragt wurde: „Kampf den Autoritäten!“. Überhaupt: Das Hinterfragen war das Schlüsselwort. Und so zogen wir nach dem Philosophieseminar (Existenzialismus, bei Prof. Ed. Meyer) noch ins linke Audi-Min am Papendieck oder gingen gleich, weil dort länger auf und das Bier billiger war, in den Kleinen Ratskeller und redeten dort an blanken Tischen über Gott und die Welt, hinterfragten also und diskutierten. Meistens lief es dann so, wenn man sein Gegenüber nicht kannte, daß man ihn (sie weniger) zunächst fragte: „Was studierst‘e denn so“? Und wenn dann die Antwort kam: „Theologie“, dann gab es auch mal Grinsen oder Gelächter, Äußerungen wie: „Falsches gesellschaftliches Bewusstsein; Opium des Volkes; dogmatisches Denken, das nicht zu hinterfragen wagt…“. „Ne, ne“, sagte Klaus, der Freund, der bereits im 8. Semester war und sich deshalb auskannte, „ das ist nicht so, auch wir Theologen sind kritisch, radikal kritisch“. Und dann holte er aus und erklärte, während vom verstimmten Klavier ‚Yesterday‘ herüber wimmerte, wie es sich mit dem historischen Jesu verhielte: dass ein großer Teil der Evangelien Gemeindebildung sei, überlieferter Ausdruck des Selbstbewußtseins anfänglich der urchristlichen, später dann der hellenistischen Gemeinden; und dass hingegen alles, was keine Entsprechung in der jüdischen und griechischen Umwelt habe, auf den historischen Jesus zurückzuführen sei. „Was bleibt dann noch“? fragte unser Gegenüber. „Wie sich Jesus verhalten hat“, wußte ich, „die radikale Praxis“. „Und das Kreuz“ ergänzte Klaus. „ Und wisst ihr, was Nietzsche gesagt hat?“, sagte unser Gegenüber. „Gott ist tot. Franz, noch ein Bier“. „ Was ihr saget“, mischte sich ein anderer im breitesten Schwäbisch ein, „ischt Gebafel (Unfug). Kritische Vernunft: etwas für Philosophen. Oder Naturwissenschaftler. Mr tätet was anders brauche. Mr muesset Hoffnung habe“.

Heute glaube ich zu verstehen, was dieser Unbekannte meinte: Dass dieses kalte Auseinandernehmen der biblischen Botschaft in die Sackgasse führen kann. Auf der Suche nach Entsprechungen und Analogien bleibe ich im Netz der eigenen Anschauung gefangen. Wer Steine sucht, findet nur Steine. So wie die Frauen, die damals zu seinem Grab gegangen waren und ihn nicht gefunden hätten, wenn nicht ein anderer das Richtige gesagt hätte. Einer ist für uns dahin gegeben, damit wir das wahre Leben finden. Es ist die Hoffnung, die den Lebendigen finden läßt.

Wir singen das. „Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab…“(98,2)

Ich weiß noch, wie das war. Zwei Jahre nach der Wende. Wir waren von unserem Partnerkirchenkreis ins Erzgebirge eingeladen worden. Die Akademie dort heizte noch mit Braunkohle; auf dem Parkplatz standen zumeist Trabis, und das Zimmer mit Waschbecken war mit fünf anderen Amtsbrüdern zu teilen: „Das ist hier eben so“, hatte der Tagungsleiter gesagt. Auf dem Tagungsprogramm standen ‚Erfahrungen nach der Wende‘ an. Die Pastoren aus Sachsen berichteten von ihren Enttäuschungen, hatte doch die Kirche eine tragende Rolle in der Zeit davor eingenommen. Sie hatten nach jener letzten Wahl den friedlichen Protest gegen den Wahlbetrug formiert; sie hatten durch die jungen Gemeinden den Öko- und Friedensgruppen Raum , d.h. ein schützendes Dach gegeben; sie hatten sich aktiv an den ‚Runden Tischen‘ beteiligt und Verantwortung gezeigt: Die Kirchen hätten sich für die Aufgaben der Gesellschaft geöffnet und nun, zwei Jahre danach, wären die Kirchen wieder leer. Wir sollten von unseren Erfahrungen berichten. „Kirche im Kapitalismus“ bemerkte einer zu meinem Referat. Denn ich erzählte von der Bedeutung der Medien; wie sozusagen der Bildschirm ein dazu zwinge, sich selbst die Welt zu deuten; wies auf die zu erwartende Vernetzung der Rechner hin und dass wir neue Formen der Verständigung lernen müssten, auch in den Kirchen, liess dabei auch die Bedeutung der Wirtschaft für effektive kirchliche Arbeit in Betracht kommen, sodass Stichworte wie ‚Management‘ und ‚Motivation‘ und ‚cooperate identity‘ so nebenbei einflossen..Da sagte einer, der am Morgen die Andacht mit gregorianischen Melodien und mit Worten der Kirchenväter gehalten hatte, der also sagte: „ Das mag ja ganz schön sein oder auch nicht. Wir brauchen aber keine Rezepte, sondern etwas ganz anderes. Das Wort Gottes ist nämlich so, wie wenn ein Landmann Samen aufs Land wirft, und der eine Teil fällt auf felsigen Boden und verdorrt, der andere unter die Dornen und wird erstickt; und anderes fällt auf gutes Land und geht auf, dreißigfältig, sechzigfältig, hundertfältig.“

Heute verstehe ich das so: Wir müssen uns nicht um uns selbst sorgen, sondern ganz einfältig offen sein für den, der uns sein Wort gibt.

Wir singen das: Im Gestein verloren (98,3). Und sagen dann:Amen.


P.Wolfgang Petrak

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