Einführung in den Philipperbrief

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Einführung in den Philipperbrief | September 2001 | Udo Schnelle |

In Philippi entstand die erste paulinische Gemeinde in Europa (vgl. Apg 16,11ff; Phil 4,15), der Apostel gründete sie 49/50 n.Chr. Mehrheitlich bestand die Gemeinde aus Heidenchristen (vgl. Apg 16,33b; ferner die Namen in Phil 2,25ff; 4,18: Epaphroditus, Phil 4,2f: Euodia, Syntyche und Klemens), aber auch Sebomenoi (vgl. Apg 16,14) und Judenchristen (vgl. Apg 16,13) dürften ihr angehört haben. Philippi ist ein Beispiel für den religiösen Synkretismus des 1. Jhs. n.Chr. (vgl. Apg 16,16-22), denn neben dem Kaiserkult sowie griechischen, römischen und ägyptischen Göttern erfreuten sich die einheimischen Kulte der thrakischen Urbevölkerung großer Beliebtheit, in denen vor allem Land- und Fruchtbarkeitsgötter verehrt wurden. Die Gemeinde von Philippi bildete sich in einem multireligiösen und auch sehr politischen Umfeld aus, denn Philippi war eine römisch geprägte Stadt, in der bewußt der Kaiserkult gepflegt wurde.

Der Philipperbrief ist in zweifacher Hinsicht ein spätes Zeugnis paulinischer Theologie: 1) Er wurde aus der Gefangenschaft am Ende des missionarischen Wirkens des Apostels in Rom abgefaßt. ( Vgl. zu den Einzelheiten Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 3. Auflage, Göttingen 1999, 145-158.2) Auch inhaltlich repräsentiert er ein fortgeschrittenes Stadium des paulinischen Denkens, das nicht unwesentlich durch die persönliche Situation des Apostels bedingt ist. Insbesondere die eschatologischen Aussagen des Briefes und die Bereitschaft des Apostels zum Märtyrertod lassen erkennen, daß Paulus der Meinung ist, nicht nur an den Endpunkt seines Wirkens, sondern auch an das Ende seines Lebens gekommen zu sein (vgl. Phil 1,21; 2,17). Er sehnt sich danach, unmittelbar nach seinem Tod beim Herrn zu sein.

In dieser schwierigen Situation läßt der Philipperbrief erkennen, daß Paulus seine eigene Situation immer als vehiculum für die Verkündigung des Evangeliums und die Förderung seiner Gemeinden sieht. Er entfaltet im Philipperbrief die Paradoxie christlicher Existenz an seiner eigenen Person. Ausgangspunkt ist der Dank an Gott, der in seiner Treue sowohl die Philipper in ihrem Glaubensstand erhält und fördert als auch die gegenwärtige Situation des Apostels zum Guten wendet. Mit keiner Gemeinde fühlte sich Paulus so verbunden wie mit den Philippern.

Der Philipperbrief-Hymnus (Phil 2,6-11) als theologisches Zentrum des Briefes zeigt, daß die paulinische Christologie durch einen Grundgedanken, ein Grundmodell geprägt ist: Gott hat den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein überführt. Es ereignete sich ein Statuswechsel, denn Jesus von Nazareth verblieb nicht im Status des Todes und der Gottesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der Gottgleichheit. Gott und Jesus Christus werden entschieden zusammengedacht, der Sohn hat umfassend teil an der Gottheit des Vaters. Deshalb weitet die christologische Reflexion schon vor Paulus den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz aus. Jesus Christus verläßt seine gottgleiche Stellung und begibt sich in das denkbar krasseste Gegenteil. Dieser fundamentale Vorgang wird in seinen einzelnen Etappen im Hymnus geschildert und bedacht. Jesus Christus entäußert sich selbst und nimmt einen machtlosen Status ein, nicht Herrschaft, sondern Ohnmacht und Erniedrigung kennzeichnen nun seinen Stand. Menschwerdung heißt Verzicht auf eigentlich zustehende Macht, sie bedeutet Demut und Gehorsam bis zum Tod. Die Statuserhöhung Jesu Christi vollzieht sich in der Namensverleihung (V. 9b-10), der die Einsetzung und Anerkennung als Kosmokrator folgen (V. 10-11b). Kyrios-Akklamation und kosmosweite Proskynese des Kyrios entsprechen dem Willen Gottes, zu dessen Ehre sie erfolgen (V. 11c). Der neue Status Jesu Christi ist mehr als eine bloße Rückkehr in die präexistente Gott-Gleichheit. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Kreuz gewährte die Erhöhung zum Weltherrscher, d.h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu werden, was er sein sollte.

Auf dem Hintergrund einer kolonial-römisch geprägten Gemeinde gewinnt Phil 2,6-11 auch eine politische Dimension. Ein von den Römern Gekreuzigter erhält durch Gottes direktes Eingreifen einen unüberbietbaren Status, allein ihm gebühren Proskynese und Exhomologese. Sowohl der Kyrios-Titel in Phil 2,11 als auch der Retter-Titel in Phil 3,20 enthalten imperiale Konnotationen. In einer griechischen Inschrift aus der Zeit Neros findet sich die Formulierung: „Der Kyrios der ganzen Welt Nero“ und die römischen Kaiser ließen sich besonders im Osten des Reiches als Retter preisen. Diesem politisch-religiösen Anspruch setzt der Hymnus eine neue Wirklichkeit entgegen, die jegliche irdische Macht übersteigt. Ihr Bürgerrecht empfangen die Philipper nicht von römischen Behörden, sondern aus dem Himmel (Phil 3,20f), so daß Paulus konsequenterweise ihren Wandel allein in Phil 1,27 mit dem Verbum politeuestai („als Bürger seinen Lebenswandel führen“) bezeichnet. Der in einem römischen Gefängnis inhaftierte Paulus bietet seiner Gemeinde ein Gegenmodell: Ohnmacht und Herrschaft sind in Wahrheit völlig anders verteilt als es der erste Blick nahezulegen scheint.

Einen einzigartigen Einblick in das Selbstverständnis des Apostels bietet Phil 3,2-11, wo Paulus sich vehement gegen in die Gemeinde eingedrungene feindliche Missionare wendet. Paulus verbindet mit dieser Attacke eine grundlegende Deutung seiner Geschichte und Existenz, die die Leser auf sich beziehen sollen. An Paulus vollzog sich, was jede christliche Existenz auszeichnet: Die Neuheit der durch Christus bestimmten Lebens, in dessen Schein das alte Sein trotz seiner Vorzüge nur noch negativ erscheint. Paulus demonstriert den Philippern, daß ihr Ausscheiden aus den herkömmlichen sozialen und religiösen Bindungen und sein Existenzwechsel denselben Zielpunkt haben: Beide verließen soziale, politische, rechtliche und religiöse Privilegien, um die Eintragung in die himmlische Bürgerliste zu erlangen (Phil 3,21f).

Der Gefährdung dieses neuen Seins durch Leidenserfahrungen und die judaistischen Gegenmissionare begegnet Paulus mit einer an den Kategorien der Zugehörigkeit und Teilhabe orientierten Argumentation. Die Zugehörigkeit zum erwählten Volk Israel gewährte ihm die Teilhabe an dessen Vorzügen: Beschneidung, Gesetz, Gerechtigkeit. Keineswegs karikiert Paulus die jüdische Existenz, sondern er benennt präzis sein Selbstbewußtsein und Selbstverständnis als eifernder Pharisäer. Umso dramatischer erscheint auf diesem positiven Hintergrund die Wende seines Lebens. Die Zugehörigkeit zu Christus und die Teilhabe an seiner Lebensmacht überragen das bis dahin Geltende radikal, so daß Paulus sich selbst und die Welt neu interpretiert. Er hat erkannt, wer dieser Jesus Christus ist und was er als Herr und Retter zu geben vermag: Gerechtigkeit und Leben. Paulus beschreibt seine neue Existenz charakteristischerweise mit einem Ineinander von partizipativen und juridischen Kategorien. Er spricht von einem ‚Gefundenwerden in Christus‘ und der Teilhabe an der Kraft seiner Auferstehung. Darin gründet die Gerechtigkeit durch Glauben, die nicht im Gesetz, sondern in Gott ihren Ursprung hat. Die Antithetik „aus dem Gesetz – aus Gott“ unterstreicht auch im Hinblick auf die Beschneidungsforderung der Gegner den neuen Ort des Heils: Er liegt bei Gott und kann vom Menschen nur empfangen werden.

Der Phil gibt wie kein anderer Paulusbrief einen Einblick in die Persönlichkeit des Apostels. Seine Grundüberzeugungen, seine Zuversicht aber auch seine Ängste werden sichtbar. Paulus lebt in dem Bewußtsein, am Geschick Jesu Christi sowohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit umfassend teilzuhaben. Deshalb können ihn äußere Umstände nicht treffen, denn „ich vermag alles durch den, der mich stark macht“ (Phil 4,13). Die Gefangenschaft hindert Paulus grade nicht, die Philipper immer wieder zum Gebet, zur Danksagung und zur Freude aufzurufen. Er ist sich sicher, daß alles, was der Verkündigung des Evangeliums dient, von Gott gewollt ist. Sogar seine mögliche Opferung, sein Märtyrertod verbindet Paulus mit dem Motiv der Freude (vgl. Phil 2,17f). Dennoch beschleicht ihn in Phil 3,11 eine leichte Unsicherheit , „ob er vielleicht“ einer vorzeitigen Auferstehung von den Toten teilhaftig wird. Eine verständliche Reaktion, denn der Blick in die Zukunft in der Gegenwart des Todes ruft nicht nur Zuversicht, sondern auch Angst hervor. Aber Paulus wählt um der Philipper willen das Leben; er weiß, daß sie und viele andere Menschen weiterhin der Verkündigung des Evangeliums bedürfen.


Prof. Dr. Udo Schnelle

[E-Mail: Profschnelle@aol.com](mailto:Profschnelle@aol.com%20)