Epheser 2,14.19

· by predigten · in 10) Epheser / Ephesians, Aktuelle (de), Beitragende, Bibel, Deutsch, Festtage, Jochen Riepe, Kapitel 02 / Chapter 02, Neues Testament, Predigten / Sermons, Reformationsfest/Reformationstag

# (nicht) mein Feiertag | Gedenktag der Reformation/Gedenktag der Heiligen/„Halloween“ | 31.10./1.11.2024 | Eph 2,14.19 | Jochen Riepe |

I

Eine Mauer trennt, eine Mauer schützt. Man muß beides sehen, denn alles hat zwei Seiten, mindestens! Immer, wenn eine Wand gefallen ist, dann jubeln ja die einen: „Weltoffenheit!“, und die anderen zögern: Was kommt da auf uns zu? Die aktuellen Feiertage spiegeln dies im Kleinen: Aus Übersee, Irland, Nordamerika, drängte „Halloween“ über die Grenze. Kinder und Erwachsene feiern das Fest begeistert. Andere nennen es „neuheidnisch“ und fürchten um den Reformations-, aber auch um den Allerheiligentag. Können die drei „ko-existieren“?

Denn Christus ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft“.

II

Mauer, Zaun, Grenze, wer von uns Alten denkt nicht sogleich an die Berliner Mauer, die 1961 errichtet wurde und den Osten vom Westen trennte. Ich habe die dramatischen Bilder nicht vergessen: Arbeiter, die unter Vopo-Bewachung Betonpfeiler setzten, Stacheldrahtrollen vor dem Brandenburger Tor, ein Soldat sprang im letzten Moment herüber, eine alte Frau wurde mit einem Bettlaken aus einer oberen Etage in der Bernauer Straße herabgelassen. Wie viele sind an diesem Zaun umgekommen, wie viele Schmerzen und Tränen!

Wir sehen aber auch die anderen Bilder – ebenso tränenreich und aufwühlend. Fast 30 Jahre später: „Die Mauer muß weg“, riefen mutige Bürger in Leipzig und anderswo, und wir Westler hielten es für ein Wunder oder auch ein behördliches Versehen: Die Schranken wurden geöffnet, die Menschen stürmten durch, von Ost nach West, und wenig später tanzten sie oder hämmerten sich Stücke aus dem Beton. Jubel, Freude, Rausch… „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, träumte Willy Brandt.

III

Der „Zaun ist abgebrochen“, so jubelt auch Paulus (oder einer seiner Schüler) im Brief „an die Heiligen in Ephesus“ (1,1). Die große Weltenspaltung zwischen Juden und Heiden ist überwunden, Einheit, Verstehen sind möglich: Gott erschafft „aus zweien einen neuen Menschen“. Besonders den Christen aus den „Völkern“ und damit uns, schärft er es ein: „Ihr seid nicht mehr Gäste oder Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“, um energisch hinzuzufügen: „Nun verhaltet euch auch so. Nehmt euer Bürgerrecht ernst und tragt Verantwortung in der neuen, ungewohnten Situation!“

Eine Phantasiereise: Wenn ein alter Epheser, der sich lebenslang  der Göttin Artemis  verbunden fühlte, oder auch Kinder, die bisher am Tempel spielten, sich in die Synagoge, in den Versammlungsraum der Christen, der Judenchristen, trauten, dann rümpften einige die Nase: „Was wollen die denn hier!“ Aber andere hielten dagegen: „Nun aber ganz ruhig… hat nicht Jesus gesagt: ‚Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid‘“. Alle! „Aber nachher geht er zum Tempel der alten Götter und betet dort mit seiner Frau“, wurde dann vielleicht zornig erwidert, „…und heute Abend werden seine Söhne im Theater einen Heiden-Spaß oder auch eine Heidenangst haben“. Ist das der Christus-Friede, daß alles miteinander geht? Daß alles gleich gültig oder eben „gleichgültig“ wird? „Vielfalt“ rufen die einen, andere befürchten einen „bunten Totalitarismus“ (R. Bauer): Müssen wir nicht unser Eigenes, unsere „Mitte“ bewahren und Schutz-Mauern stehen lassen?

IV

Nicht wahr, Ephesus ist uns gar nicht so fern. Paulus und seine Schüler missionierten in der Welt des kulturellen Hellenismus im römischen Imperium. Ein Historiker nannte diese Epoche die „moderne Zeit des Altertums“ (J. G. Droysen). Eine konfliktreiche, „böse Zeit“ (5,16), voller Willkür und Gewalt, aber auch eine „ver-rückte“ Zeit. Grenzen fallen, Kulturen und Religionen vermischen sich, verschmelzen untereinander. Die Götter aus dem Osten trafen auf die aus dem Norden oder Westen. Was für die einen noch richtig war, „unsere Väter haben es uns gelehrt“, war für die anderen längst überholt, „ein Windhauch“ (Koh 2,11), wertlos oder zumindest relativiert. Moderne Zeiten. Faszinierend. Verstörend. Die Kinder „glauben“ anders als die Eltern, für die einen ein Befreiungsschlag, für die anderen ein tränenreicher Verlust von Halt und – Heimat. Weltuntergang.

Und mittendrin – die Botschaft, der Traum des Apostels, ja, in gewisser Weise ein Entwurf für den Bau eines „inwendigen Menschen“ (3,16), eine Art „Arche“, die in „ver-rückten“, widersprüchlichen und mehrdeutigen, eben „globalisierten“ Zeiten bestehen kann. Im Frieden Christi wird man auch in dieser Zeit zurechtkommen. In ihm hat sich Gott, der Gott Israels, der Welt geöffnet, die Feindschaft  ist am Kreuz Jesu überwunden. Es gibt unter uns viele Unterschiede. Wir sind sensibel, was unser Eigenes betrifft, Geburt und Herkunft können wir ja nicht einfach vergessen, aber es ist genauso wichtig, auf das Gemeinsame zu sehen. Selbst unter römischem Zwang dürfen wir – leben, und das auch noch fröhlich: „Ermuntert einander mit Liedern… singt und spielt dem Herrn“ (5,19).

V

Alles hat zwei Seiten, mindestens. Heute noch fesseln mich die 89ger – Bilder! „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Gewiß: Es gab Skeptiker genug… aus politischen, aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen. Der Jubel wich der Ernüchterung: Konnte man diese mehr als „Tausend Aufbrüche“ (Chr. Morina), Erwartungen, Ideen, – und umgekehrt – Befürchtungen, Erniedrigungen und Demütigungen in irgendeiner Weise auffangen? Die, die zusammenwachsen sollten, waren in vieler Hinsicht einander fremd. „Ungleich vereint“ (S. Mau). Es gab Gewinner und Verlierer, mitunter wurde einfach „plattgemacht“, „abgewickelt“, was in die neue Zeit nicht paßte. „Sind im globalen Kapitalismus unsere Lebensleistungen wertlos?“ fragten viele in Ostdeutschland.

Unser dreifacher Festtag spiegelt im Kleinen ja auch diese Gefühle der Entwertung und Verdrängung: Was geschieht mit uns Alten, wenn das, woran unser evangelisches Herz hängt, zerstört wird? Wenn an Allerheiligen der traditionelle Gang der Familien zum Grab der Vorfahren, nur noch von wenigen wahrgenommen und die Lichter auf den Gräbern erlöschen? Manche spotten, statt dessen würden ja im Jugendkeller furchterregende Masken getragen, oder an der Haustür schreckten uns Vampire und grölten: „Wir sind kleine Geister“. Ja, Gewinner und Verlierer!

„Alles ist möglich“ in dieser grenzenlosen Welt, und so schön das klingt: Zusammenhalt, gemeinsame Erinnerungen, Erzählungen, Lieder – Heimat! – verblassen oder entstehen erst gar nicht, sobald die „Nebenräume der Welt, in der die Dinge ihren klaren, begreifbaren Umriß“ behaupten (L. Seiler), gleichsam ins grelle Licht gezerrt und wertlos werden.

VI

„Moderne Zeiten“: Wie lebt man mit solchen Erfahrungen des Verlustes von Identität und Zugehörigkeit, der Entwertung des Überkommenen? „Herr, wohin sollen wir gehen“ (Joh 6,68)? Was füllt die Leere? Wer nutzt das Vakuum? Natürlich versuchten viele Menschen in Ephesus das zu tun, was wir auch tun: den Alltag retten, Normalität, Gewißheit in der Familie, in der Ehe. „Ordnung“, „Unterordnung“ (5,21) mahnt der Apostel an, um Chaos und Entgleisung einzuschränken. Andere fanden Zuflucht im Alkohol, der Groll, Minderwertigkeit vergessen läßt und zugleich Zorn und Gewalt freisetzt: „Sauft euch nicht… voll“(5,18), schreibt Paulus darum. Neues Selbstbewußtsein, ein stabiler, befriedeter Alltag bedarf eines neuen nüchternen Sinnes.

Der Apostel stellt dem Weingeist den stabilisierenden, aufbauenden, befreienden Geist des Christus gegenüber: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Kor 3,17). Alle „Heiligen in Ephesus“ sind mit diesem Geist „versiegelt“ (1,13) worden und ihnen kommt die volle „Mitteilhaberschaft“ (K. Wengst) an den Bundesgaben Gottes zu. Ein jeder darf „mit-wachsen“ (4,35) zur „Einheit“ des Christusleibes, der kein Wolkenkuckucksheim ist, sondern sich an einem konkreten Ort, in einem konkreten Haus eines Bruders oder einer Schwester, im Versammlungsraum oder auch in der Synagoge ereignet. Ein jeder! Ohne einen starken, verantwortungsbereiten, ja auch: disziplinierten „inneren Menschen“, der seinen Zorn im Griff hat, gibt es keine Gemeinde, die in Konflikten besteht und in der „bösen Zeit“ imperialer Zwangsherrschaft nicht den Verstand verliert.

VII

Mitbürger“, „Hausgenosse Gotte“ , Zusammenwachsen – zwischen Traum und Erwachen. Ist diese „Gemeinde-utopie“ realitätstauglich und gibt sogar Impulse für den politischen Weg zur „Einheit“ von Ost und West? Die Hälfte des paulinischen Briefes ist ja eine Art „ethischer Unterweisung“ (M. Konradt), die die vielfältigen Blockaden, „Brandmauern“, überwinden und „Einigkeit im Geist“(4,3) stiften soll.

Westdeutsche werfen häufig Ostdeutschen vor, nicht in der Demokratie angekommen zu sein und populistischen Verführern zu folgen. Die alte Sorge vor einem „unzurechnungsfähigen“, „ungewaschenen Volk“ (Ph. Manow) meldet sich hier. Diese entgegnen: Der Westen hätte ein enges, bevormundendes, verkrustetes Verständnis von „Volksherrschaft“. Viele im Osten fühlten sich aus sehr sachlichen Gründen nicht von den „alten Parteien“ vertreten. So wie in Ephesus Juden und Heiden, „Gewaschene“ und „Ungewaschene“ sich versammelten „im Bürgerrecht Israels“ und den Frieden streitbar unter Tränen lernen mußten, so kann es nicht genug Foren geben, in denen Ost und West im „Bürgerrecht des Grundgesetzes“ einander begegnen und von ihren Erfahrungen erzählen. Und dabei werden sie merken: Frieden lernen, das heißt ja auch, eine schützende Wand erhalten, bleibende Differenzen anerkennen, und eine sinnlose, „feindselige“ Wand überwinden, was natürlich einen „geistlichen Haken“ hat: die Fähigkeit nämlich, beides „weise“ zu unterscheiden.

VIII

Und Halloween? Ob der Parvenü im Festkalender, einmal eingedrungen, unsere überkommenen Festtage verdrängen wird? Wir sollten in der Gemeinde Jesu einander Ärger und Befürchtungen abnehmen, unseren Kindern den Sinn evangelischen Reformationsgedenkens und katholischer Bräuche erklären, sie vorbildlich ökumenisch praktizieren, und die Jungen dann ihrem Heidenspaß und ihren Heidenängsten überlassen.

(Gebet nach der Predigt: ) Herr, mache uns stark, diese „ver-rückte“ Welt anzunehmen, zu ertragen und zum Guten zu verändern. In Christus ist „alles zusammengefaßt, was im Himmel und auf Erden ist“( 1,10). Nimm uns dazu, daß wir in ihm, dem Haupt, geschützt sind und mutig ein weises Leben führen.

Lieder: Du hast vereint (EG 609) Komm in unsre stolze Welt (EG 428) Herz und Herz vereint zusammen (EG 251)


Jochen Riepe

Lit.: J.G. Droysen, Geschichte des Hellenismus, Bd.III (Sonderausgabe 1953), S. XXII / M. Konradt, Ethik im Neuen Testament, 2022, S. 200 / L. Seiler, Kruso. Roman, 2014, S. 31 / Chr. Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie, 2023 / Ph. Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde, 2.Aufl. 2024, S. 55ff