Ein Mensch steht unter dem bunt beleuchteten Weltall.

Exodus 20,2–17

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„In Ordnung bringen“ | Ex 20,2–17 | Gunther Wenz |

Predigtreihe „Facetten gelebter Frömmigkeit“

Das erste Gebot

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Das zweite Gebot

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.

Das dritte Gebot

Du sollst den Feiertag heiligen.

Das vierte Gebot

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir´s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.

Das fünfte Gebot

Du sollst nicht töten.

Das sechste Gebot

Du sollst nicht ehebrechen.

Das siebente Gebot

Du sollst nicht stehlen.

Das achte Gebot

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Das neunte Gebot

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

Das zehnte Gebot

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.

Liebe Gemeinde,

um Ordnung in die Bestände der christlichen Überlieferung zu bringen, veröffentlichte Martin Luther 1529 zwei Katechismen, den Großen und den Kleinen. Vorangegangen waren Katechismuspredigten, die der Reformator in Vertretung des Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen in Wittenberg gehalten hat. Die beiden Katechismen wurden die mit Abstand erfolgreichsten Schriften der Reformation. Auch Luther selbst schätzte sie sehr hoch ein: unter allen seinen Werken wollte er neben „De servo abitrio“, der Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam, nur die Katechismen erhalten wissen. Den Status einer offiziellen Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche erhielten sie durch Aufnahme in das Konkordienbuch von 1580 als dem wichtigsten Lehrcorpus der Wittenberger Reformation.

Katechese – das läßt an Schule und Kinderlehre denken. Doch für die Hand von Kindern waren Luthers Katechismen anfangs nicht gedacht. Der Große Katechismus ist an Geistliche adressiert, der Kleine richtet sich an die Hausväter namentlich auf den Bauernhöfen in den kursächsischen Dörfern, um sie zur Unterrichtung ihres Hausstandes zu befähigen. Das katechetische Grundmotiv ist Konzentration und Elementarisierung. Die Väter des Konkordienbuchs haben die Katechismen daher zurecht eine komprimierte Bibel genannt, „dorin alles begriffen, was in Heiliger Schrift weitläuftig gehandelt und einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen vonnöten ist“ (BSLK 769, 7-10).

Was ist einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen nötig? Nach Luther vor allem dreierlei: Was er tun und lassen soll, was er glauben kann und was er bitten darf (vgl. WA 7,204,13-205,3) Den ersten Gesichtspunkt thematisiert in beispielhafter Weise der Dekalog, den zweiten das Credo, den dritten das Vaterunser. Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis und Herrengebet: Damit sind die drei zentralen Hauptstücke des Katechismus benannt, denen mit Taufe und Abendmahl zwei weitere ergänzend hinzugefügt werden. Das erste Hauptstück, welches die Zehn Gebote und ihre Auslegung beinhaltet, geht nicht nur der Reihenfolge nach den anderen voran, sondern ist auch in der Sache schlechterdings grundlegend, da es nicht weniger enthält als das göttliche Grundgesetz für Mensch und Welt, die Verfassungsordnung der Schöpfung.

Kosmos heißt Ordnung. Ohne Ordnung gibt es keine beständige Welt, die dem Chaos zu widerstehen vermag. Was aber die Naturgesetze für die Welt der Natur, das sind die Zehn Gebote für die Welt der Kultur, ohne die der Mensch nicht Mensch sein und sein Wesen nicht realisieren kann. Die Menschenwelt im allgemeinen und die Welt jedes einzelnen Menschen in Ordnung zu bringen und zu erhalten, das ist der Sinn und Zweck der Zehn Gebote, an welchen die menschliche Kreatur ihren göttlichen Maßstab findet.

Wohl an denn: Wie lautet das Erste Gebot? Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was ist das? „Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen.“ (BSLK 507,43f) In diesem Gebot, sagt Luther, sind alle anderen inbegriffen, es ist deren Haupt und Quellborn, ohne dessen Erfüllung nichts in Erfüllung geht und mit dessen Erfüllung alles erfüllt ist. Ich zitiere den Reformator: „(W)o das Herz wohl mit Gott dran ist und dies Gepot gehalten wird, so gehen die andern alle hernach“ (BSLK 572,12-14). Am Verhältnis zum Ersten Gebot entscheidet sich das Ganze. Luther hat das formal dadurch unterstrichen, daß er die Auslegungen des zweiten bis zehnten Gebots stets mit einer Erinnerung an diejenige des ersten einleitet: „wir sollen Gott fürchten und lieben“ (vgl. BSLK 508,5ff). Das rechte Verhältnis zu Gott ist die Grundlage und Möglichkeitsbedingung rechten Verhältnisses zu Selbst und Welt.

Was aber ist Gott, und was heißt es, einen Gott zu haben? „Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ (BSLK 560,10-24) Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott. Der Gottesbegriff markiert die Unbedingtheitsdimension unseres Daseins. Nicht so, sagt Luther, daß die Alternative Gott oder Nichtgott in unserer Wahl stünde: einen Gott hat jedermann. Atheismus im strengen Sinn ist keine menschliche Möglichkeit, Religion vielmehr ein anthropologisches Universale; sie gehört zum Menschsein des Menschen konstitutiv hinzu. Nicht ob der Mensch sein Herz an etwas hängt, ist deshalb die entscheidende Frage, sondern an wen oder was er es hängt: an Gott oder an einen Abgott. Zwischen Gott und Götze kategorisch zu unterscheiden: das ist es, was das erste Gebot gebietet.

Wenn ein Endliches für Unendliches, ein Bedingtes für unbedingt erklärt wird, haben wir es stets mit Götzendienst zu tun. Luther nennt als ein Beispiel den Mammonsdienst und die Vergottung materieller Güter. Aber auch soziale Werte wie Klugheit, Ehre oder bürgerliche Anerkennung, ja nicht zuletzt religiöse Gehalte stehen in Gefahr, vergötzt zu werden. Auch Mitmenschen können auf unstatthafte Weise verhimmelt und zu Idolen verklärt werden, womit man sowohl ihnen als auch sich selbst unrecht tut. Denn gerecht zu werden vermögen sich Menschen untereinander nur, wenn sie sich als endliche Wesen begegnen. Jede Menschenvergottung ist inhuman, sei es daß sie Kindern, Eltern, Ehepartnern oder wem auch immer gegenüber geschieht. Wir können menschlich leben nur, wenn wir weder die anderen noch uns selbst vergotten.

Letzteres ist nach Luther nicht nur die größte Gefährdung des Menschen, die Selbstvergottung ist zugleich die Gefahr, der wir alle je auf unsere Weise erliegen: Sein zu wollen wie Gott, nicht endlich, sondern unendlich, nicht einer unter anderen, sondern ein und alles. Mehr oder minder bewußt wollen wir alle die innerste Mitte sein, um die sich alles dreht, der letzte Grund und das letzte Ziel allen Seins. Das ist die Sünde Adams, das peccatum originale, die Ursünde. Dem steht das Erste Gebot mahnend und warnend entgegen: Selbst- und Weltvergottung ist eine grundverkehrte Haltung, die Böses und Übles bewirkt und zuletzt sich selbst zugrunderichtet. Das höchste Gut ist allein Gott, und Gutes zu wirken vermag nur, wer sein ganzes Herz an den einen Gott und nur an ihn hängt.

Vorausgesetzt ist dabei: Es gibt einen absolut verläßlichen Grund jenseits von Selbst und Welt, der Grund und Bestand verleiht, wenn Ich und Du und alle Dinge zunichte werden. Dieser absolut verläßliche Grund ist der Schöpfer Himmels und der Erden, der aus dem Nichts ins Sein zu rufen vermag. Auf ihn allein und ganz zu vertrauen ist gut und die Ursache aller Güte. Glaube, will heißen: vertrauensvolle Ganzhingabe und Gottes einige Gottheit gehören zusammen. Wo Gott nicht das ganze Herz und alle Zuversicht gehört, da hat man den einigen Gott verloren; wo die Einzigkeit Gottes angetastet wird, da ist der Glaube falsch. „Frage und forsche dein eigen Herz wohl“, mahnt Luther, „so wirst Du wohl finden, ob es allein an Gott hange oder nicht. Hast Du ein solch Herz, das sich eitel Guts zu ihm versehen kann, sonderlich in Nöten und Mangel, dazu alles gehen und fahren lassen, was nicht Gott ist, so hast du den einigen rechten Gott. Wiederümb hanget es auf etwas anders, dazu sich’s mehr Guts und Hülfe vertröstet denn zu Gott, und nicht zu ihm läuft, sondern fur ihm fleugt, wenn es ihm ubel gehet, so hast du ein andern Abegott.“ (BSLK 566,47-567,8).

„Ich bin der Herr, Dein Gott“: Mit dieser Selbstvorstellung Gottes als meines Herrn beginnt das Erste Gebot. Gott selbst ist es, der gebietet und den Grund notwendiger Befolgung der Gebote darstellt. Die Gebote zu befolgen bedeutet entsprechend zunächst und im wesentlichen nichts anderes, als Gott meinen Herrn sein zu lassen. Nichts in der Welt ist mein Herr, aber auch ich bin nicht absoluter Herr meiner selbst, sondern mein Herr ist einzig und allein Gott. Aus diesem vertrauensvollen Glauben folgt nicht Unfreiheit, sondern Freiheit. „Domini sumus“, sagt Luther: Wir sind Herren, weil wir des Herren sind. Gott, der Herr, will, daß wir seine freien Kinder seien und uns als Menschen unserer Gotteskindschaft erfreuen. Freuet Euch und feiert, daß Euere Namen im Himmel geschrieben sind: Der Inhalt des Zweiten und Dritten Gebotes ist damit bündig umschrieben. Wir sollen Gottes Namen und den Feiertag heiligen: Was ist das und wo geschieht das? Der Name Gottes wird geheiligt, wo Gottes Gottheit anerkannt wird, wo wir Gott unseren Herrn sein lassen und ihn als seine Kinder beim Namen nennen: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde Dein Name.“ Ist Gottes Name nicht an sich selbst heilig? Ja, sagt Luther, „aber wir bitten in diesem Gebet, daß er bei uns auch heilig werde.“ (BSLK 512,29f) Geheiligt wird Gottes Name, wo wahrgenommen und geglaubt wird, daß er unser himmlischer Vater sei. Solcher Glaube ist uns im Dekalog geboten und um solchen Glauben bitten wir im Vaterunser in dem Bewußtsein, daß nur Gott selbst ihn zu geben vermag, aber auch tatsächlich zu geben gewillt ist: Vater unser im Himmel. Was ist das? „Gott will damit uns locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechte Kinder, damit wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“ Jesus Christus, der uns das Vaterunser gelehrt hat, ist als der ewige Sohn des Vaters die Gewähr der Wahrheit des Herrngebets. Das Vaterunser trägt in diesem Sinne die Gewißheit seiner Erfüllung in sich. Wem aufgeht, daß Gott unser Vater ist, dessen Gebete sind erfüllt und die Gebote haben für ihn nicht länger den Charakter fremder Gesetzgebung, sondern den der eigenen Lebensbestimmung.

Doch will eben diese segensreiche Einsicht beständig und gemeinsam erbeten sein, und eben deshalb sind wir heute hier, um dem Dritten Gebot entsprechend den Feiertag zu heiligen. Indem wir Gottes Namen anrufen, um ihn unsern Herrn sein zu lassen, geben wir unsere eigenen Allmachtsansprüche auf und relativieren zugleich die Ansprüche der Welt und anderer Menschen uns gegenüber. Das ist gut und heilsam so. Am Sonntag unterbrechen wir unser Wirken und die Wirklichkeit des Werktags. Wir falten die Hände, um unserem Tun Einhalt zu gebieten, um alle Sinne auf Grund und Ziel menschlichen Handelns zu richten. Gottesdienst ist Sammlung: Indem wir uns auf Gott konzentrieren, kommen wir recht eigentlich erst zu uns selbst, um der ganzen ungeteilten Fülle unseres Daseins und der Einheit der Welt inne zu werden, die sich im Alltagsgeschäft ins Diffuse zu verflüchtigen droht. Indem wir Gottes eingedenk sind, werden wir den engen Schranken des Alltäglichen entnommen und vom Endlichen zum Unendlichen erhoben. All dies tut uns not. Wir bedürfen der religiösen Muße als eines Selbstzwecks, um des Sinnes und Zieles unseres Tuns und Handelns gewahr zu werden. Der Sonntag ist der Sinngrund des Werktags. Nota bene: Die Gebote gebieten uns, was wir tun sollen, das ist richtig. Doch geben uns die drei ersten, die man die Gebote der ersten Tafel genannt hat, bemerkenswerterweise keine Handlungsanweisungen im eigentlichen Sinn. Sie gemahnen uns vielmehr zur Besinnung. Denn um recht handeln zu können, bedarf es zuallererst der Gelassenheit des Glaubens, der Gott Gott sein läßt, meinen Herrn, unseren Herrn, den Herrn aller Welt, Schöpfer Himmels und der Erden, den Vater seines einigen Sohnes Jesu Christi, in dessen Geist wir alle Kinder Gottes heißen und es tatsächlich sind.

Betreffen die Gebote der ersten Tafel insbesondere das Gottesverhältnis des Menschen, so beziehen sich die folgenden vor allem auf sein Verhältnis zu sich selbst sowie auf sein Verhältnis zu Mitmensch und Welt in dem gegebenen irdischen Dasein. Das Vierte Gebot der Elternehrung eröffnet die Gebote der zweiten Tafel und hat nach Luthers Urteil zugleich als „das erste und hohiste“ (BSLK 586,48f) zu gelten: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es Dir wohlergehe und Du lange lebest auf Erden.“ Warum, so fragt man sich, wird diesem Gebot ein so hoher Stellenwert noch vor dem Tötungsverbot eingeräumt? Ich habe mir die Antwort auf diese Frage so zurecht gelegt: Unser leibhaftes Dasein ist in keiner Weise von uns selbst gewirkt und doch die elementare Voraussetzung all unseres Handelns. Wir sind auf die Welt gekommen, ohne daß wir dies verursacht oder auch nur mitverursacht hätten; wir sind da, ohne diese eigens gewollt zu haben und ohne um unsere Einwilligung gebeten worden zu sein. Das schiere Faktum unseres Daseins ist in diesem Sinne für uns kontingent. Nichtsdestoweniger ist es die Grundbedingung sinnvoller Existenz, sich bejahend zu diesem kontingenten Faktum zu verhalten. Dazu fordert uns das Vierte Gebot auf.

In unseren Eltern wird uns die Kontingenz unseres Daseins, welche allen leibhaften Selbstvollzügen innewohnt, exemplarisch vorstellig. Das Gebot der Elternehrung gebietet uns sonach vor allem, uns anerkennend und wohlwollend zu dem unserer Erkenntnis und unserem Willen zugrundeliegenden Tatbestand unseres In-der-Welt-Seins zu verhalten. So gesehen sind wir die Elternehrung uns selbst schuldig. Elternehrung und elementare Selbstanerkennung gehören zusammen und lassen sich nicht trennen. Damit ist nicht gesagt, daß wir uns von unseren Herkunftszusammenhängen nicht emanzipieren sollten und dürften. Nein, Elternehrung schließt mögliche Elternkritik und den Willen zur Selbständigkeit, den gute Eltern nicht hemmen, sondern fördern werden, durchaus ein. Aber Emanzipation wird zur Unfreiheit, wo sie die elementare Grundabhängigkeit, die mit unserem leibhaften Dasein als solchem gesetzt ist, abstrakt zu negieren sucht. Wo dies geschieht, schlägt Elternhaß allzuschnell in Selbsthaß um und gibt sich als dessen Reflex zu erkennen. Davor will uns das Vierte Gebot bewahren, indem es uns gebietet, in unsern Eltern das Faktum unseres Auf-die-Welt-Gekommen-Seins und leibhaften In-der-Welt-Seins zu ehren und uns, jawohl, in elementarer Leibhaftigkeit selbst zu lieben. Nur wer in solch elementarer Weise sich selbst in seinem leibhaften Dasein zu lieben und als gottgewollt anzuerkennen bereit ist, wird auch seinen leibhaften Nächsten und die gemeinsam gegebene kreatürliche Welt als gottgewollt anerkennen und lieben können. Selbstliebe und Nächstenliebe sind keine Gegensätze; im Gegenteil, sie sind konstitutiv aufeinander bezogen: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Auf die elementarste Form der Anerkennung, die dem Mitmenschen bedingungslos gebührt, ist das Fünfte Gebot bezogen, das dessen Tötung verbietet. Es ist evident: Die unbedingte Achtung vor der Unversehrtheit der leibhaften Personalität des Mitmenschen ist die Grundvoraussetzung jedweden menschenwürdigen Umgangs. Wer sich an Leib und Leben seines Nächsten vergreift, zerstört ein unendliches Gut. Doch genügt es nicht, im Verhältnis zum Mitmenschen von Gewaltanwendung Abstand zu nehmen. Wie Luther sagt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserm Nähisten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fodern in allen Leibesnöten.“ (BSLK 508,31-34) Wie stets so zielt Luthers Gebotsauslegung auch hier auf eine nicht nur äußerliche, sondern herzliche Anerkennung der Gebote, deren Gehalt er ausdrücklich ins Positive wendet, so daß es nicht länger nur um Schadensabwehr für den Nächsten, sondern um Mehrung und Förderung seines Nutzens zu tun ist. Nächstenliebe ist produktiv, weil sie Lust am Anderssein des andren hat. Sie will den andern nicht nur als Dublette meiner selbst, sondern als den, welcher ich nicht bin, nie war und auch nie sein werde. Die Liebe liebt das Individuelle, das Einmalige, das Unwiederholbare; sie ist das Medium der Wahrnehmung prinzipieller Individualität meiner selbst sowohl als auch meines Nächsten.

Es liegt in der Konsequenz dieser Einsicht, daß als mein Nächster nicht nur und nicht in erster Linie der Mensch im allgemeinen in Betracht kommt, sondern insonderheit ein bestimmter Mensch bzw. eine bestimmte Gruppe konkreter Menschen. Als der nächste Nächste hat dabei, mit Luther zu reden, mein ehelich Gemahl zu gelten, „welchs mit (mir) ein Fleisch und Blut ist“ (BSLK 611,6f). Es ist hier nicht die Zeit und nicht der Ort, eine reformatorische Ehelehre zu entwickeln, so sehr dazu aktueller Anlaß und aktuelle Notwendigkeit bestünde. Nur ein Aspekt sei eigens erwähnt: Zwar erschöpft sich der Sinn der Ehe keineswegs in der Fortpflanzung des Menschengeschlechts, welche zum primären Ehezweck zu erklären mehr als äußerlich wäre. Doch darf der Gesichtspunkt geordneter Generationenfolge andererseits nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man zu einem angemessenen Verständnis der Ehe gelangen will. Denn das Verständnis der Ehe droht gründlich verfehlt zu werden, wo man sich unbedacht dem Kult romantischer Zweisamkeit überläßt. Ehe und Familie gehören zusammen. Jeder Mensch ist Kind von Eltern. Auf diesen für unser leibhaftes Dasein in der Welt schlechterdings grundlegenden Sachverhalt ist nicht nur das Vierte, sondern auch das Sechste Gebot bezogen, indem es uns gemahnt, mit der Unverbrüchlichkeit der Ehe auf die alternativlose Notwendigkeit einer geordneten Generationenfolge zu achten. Ich behaupte nicht, daß sich die Ordnung der Generationenfolge nur im Zusammenhang der Ehe gewährleisten läßt. Behauptet ist allerdings, daß der grundsätzliche Wille zur Generationenfolge und die Bereitschaft zur Sorge um die Nachkommenschaft gottgegebene Pflicht jedes Menschen ist. Gute Eheleute nenne ich daher solche, die Elternschaft gemeinsam und beständig zu verantworten bereit sind, was ohne verläßliche und dauerhafte Bindungen nicht möglich ist.

Geht es im Vierten, Fünften und Sechsten Gebot um Herkunft, Schutz und Weitergabe leibhaften Menschenlebens in dieser Welt, so thematisieren die verbleibenden Gebote sieben bis zehn den weiteren sozialen Kontext menschlichen Daseins und zwar im Hinblick auf die Frage des Eigentums, der Wahrheit und zu vermeidender Selbstsucht und Begehrlichkeit: „Du sollst nicht stehlen.“ „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.“ Wir Menschen neigen dazu, alles in die eigene Verfügung zu nehmen. Dieser uneingeschränkte Verfügungswille kann zu einer Sucht werden und ist es tatsächlich geworden. Konkupiszenz nennt die christliche Tradition den Trieb selbstsüchtigen Begehrens, der alles, was ist, ins Eigene zu überführen und seiner Andersheit zu berauben bestrebt ist. Man muß nicht dem Hausstand seines Nachbarn hinterherstellen, um diesen unseligen Trieb bei sich selbst zu entdecken. Man muß kein notorischer Lügner sein, um an sich einen fatalen Hang wenn nicht zu Verlogenheit und Verrat, so doch zu Gerede und Geschwätz, zu Verstellung und falschem Schein und dazu zu bemerken, sich der Wahrheit im eigenen Interesse zu bemächtigen. Man muß schließlich auch kein Dieb und kein Einbrecher sein, um wahrzunehmen, daß ein selbstsüchtiger Wille zur Macht in uns auf rücksichtslose Steigerung des eigenen Vermögens und der eigenen Potenzen aus ist, statt das Eigentum des Nächsten zu achten und seine Möglichkeiten zu fördern.

Die Gebote sagen uns, was solch selbstsüchtige Begierde in Wahrheit ist: Sünde, nämlich das, was in sich verkehrt und ganz und gar nicht in Ordnung ist. In Ordnung gebracht werden kann das Verkehrte nur durch Buße, durch Erkenntnis der Sünde und Reue des Herzens, durch Sündenbekenntis und Beichte sowie durch leidende und tätige Besserung. Rechte Buße hinwiederum ist möglich nur im Vertrauen auf das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade, wie es im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des göttlichen Geistes offenbar ist.

Amen


Prof. Dr. Gunther Wenz