
Exodus 34,6-10
„Die Welt ergründen“ | Exodus 34,6-10 | Eckart Otto |
Predigtreihe „Facetten gelebter Frömmigkeit“
Liebe Gemeinde,
wer das Leben ergründen will, steige auf den Berg Sinai, denn das Alte Testament verbindet mit diesem Berg alle großen Themen unseres Lebens: die Schuld und die Gnade, die Offenbarung, wie wir unser Leben führen sollen, den Eigenwillen der Menschen, ihren Tanz um das Goldene Kalb, Zorn und Liebe Gottes. Die Menschen am Sinai sind hin- und hergezerrt zwischen Hoffnung, Freude, Schrecken, Entsetzen und Furcht, Gott selbst zwischen grenzenloser Liebe und flammendem Zorn.
Ein ganz anderes Bild vom menschlichen Leben zeichnet Lukrez im Proömium zum 2. Band seiner Lebensgeschichte: Nicht einen Berg, sondern das Ufer des Meeres führt er vor Augen und den Menschen, der den Zufall im Leben betrachtet, der Mensch, der auf der Klippe sitzt und dem Schiffbruch auf dem Meer, dem Leben zusieht – der verstorbene Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg hat in seiner kleinen Schrift „Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher“ kurz hinzugefügt: „Er, der Mensch, sitzt dort und betrachtet den Zufall des Lebens wie einen Schiffbruch, bewußt der Distanz als einziger Glücksmöglichkeit des Menschen, darin wie die Götter. Sie bedürfen der Disziplinierung von Furcht und Hoffnung nicht, weil sie von all dem, was metaphorisch im Schiffbruch ansichtig wird, niemals erfahren“. Sind wir die Beobachter auf der Klippe, wenn wir auf den Sinai schauen, auf das Volk, das im Donner der Gottesstimme zu sterben meint, das sich losringt von dieser Stimme und Aaron folgt zum Goldenen Kalb, wenn wir auf Mose schauen, der vom Berg herabkommt und in seinem Zorn die Tafeln zerbricht? Nichts ist unserem Text fremder als der Gedanke, die einzige Möglichkeit zum Glück wäre die Distanz, die distanzierte Beobachtung des Lebens in seiner Brüchigkeit. In diesem Text des heutigen Sonntags haben Theologen, Prediger und Gelehrte des antiken Israel durch die Jahrhunderte hindurch ihre Gegenwart interpretiert, sie im Spiegel der Sinaiereignisse gedeutet – fest in dem Bewußtsein, daß sich jede Zeit in Gottes Erscheinen am Sinai bricht, ja jedes einzelne Leben von dort ein Licht erhält – ein Geschehen, zu dem es keine Distanz des Beobachters gibt, der sich fernhält – hier bricht Gott in diese Welt ein – nicht Gott darin, daß er sich von all dem, was Leben in der Metapher des Schiffbruchs ist, fernhält, sondern Gott, der zutiefst in unser Leben involviert ist, in Zorn und Liebe, Distanz und Nähe.
Am Sinai, so sagt es unser Text, ist Gott in diese Welt eingebrochen. Jede Generation, also auch wir an diesem Morgen, stehen wieder am Sinai, und dort haben wir dieses Wissen nur aus einem Zeugnis, das zeitlich und geographisch weit von uns entfernt in diese Welt kam. Der Text ist uns ein fremder, schon in fremder Sprache geschrieben – es gibt keinen Weg des Gotteswort in dieser Welt an der Anstrengung vorbei, nachzudenken, was die Zeugen der Bibel gedacht haben. Im Mittelpunkt unseres Textes stehen zwei Bekenntnissätze aus Israels Gottesdienst:
„JHWH, JHWH, gnädiger und barmherziger Gott, langmütig und reich an Treue und Zuverlässigkeit“.
In diesem Bekenntnis hat sich eine lange Erfahrung Israels mit seinem Gott zu einer Wesensaussage verdichtet. JHWH ist el hanun, häufig übersetzt mit „gnädiger Gott“ – aber im deutschen Begriff herrscht der Aspekt des Machtgefälles, der dem hebräischen Begriff fremd ist – wird einem Menschen hen „Gunst“ erwiesen, so tritt er aus dem Anonymität heraus – ist Gott el hanun, macht er den Menschen zu seinem Gegenüber, ist solidarischer Gott. Gott ist auch el rahum, oft übersetzt mit „barmherziger Gott“ – auch hier geht es nicht um eine herrscherlich-hoheitliche Haltung, sondern um die Begründung eines Gemeinschaftsverhältnisses. So auch die Fortsetzung „rein an haesaed und aemaet“. haesaed bezeichnet die uneingeschränkte Solidarität, Zugewandtheit Gottes, aemaet seine Verläßlichkeit. Mit „aeraek ’appajim“ „langmütig“ wird ein aus der Weisheit stammender Akzent hinzugefügt. Gott ist zuverlässig treu auch dann, wenn der Mensch ihn durch Vergehen herausfordert. JHWH ist also, so sagt es unser Text, ein in jeder Lage verläßlicher, dem Menschen zugewandter solidarischer Gott.
Ist die Solidarität also grenzenlos? Und wenn ja, ist es also bedeutungslos, wie sich der Mensch verhält, zum Menschen wie zu Gott? Nein – der folgende Vers nennt Grenzen: „der Solidarität bewahrt den Tausenden, indem er Schuld, Fehlverhalten und Sünde vergibt, aber der nicht ungestraft läßt, indem er Schuld der Väter erst heimsucht an den Söhnen und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation“. Schuld wird heimgesucht, drei oder vier Generationen später, so daß noch Zeit zur Umkehr gewährt wird. Ein harter Satz, den uns der Text zumutet, denn er besagt, daß wir mit unserem Tun und Handeln nicht nur über unser Leben entscheiden, sondern auch über das kommender Generationen. Gnade, Barmherzigkeit und Solidarität Gottes finden eine Grenze in der Verantwortung des Menschen für sein Leben und das seiner Nachkommen – die Gnade Gottes ist keine billige. Aber diesem harten Wort setzt unser Text einen anderen Satz entgegen: „der Zuwendung zukommen läßt tausenden Generationen, indem er Schuld, Fehlverhalten und Sünde vergibt“. Die Liebe und Zuwendung Gottes übersteigt unermeßlich seinen Zorn. Der Text formuliert paradox. Es gibt eine Heimsuchung der Schuld bis zur dritten und vierten Generation, aber Zuwendung zu Tausenden von Generationen, d. h. bis in fernste Zeit. Die Zuwendung Gottes ist dem Menschen nicht ausrechenbar und verfügbar. Vielmehr sind wir auf das Ziel des Textes gewiesen: Die Liebe Gottes überschreitet bei weitem seinen Zorn.
Das in diesem Bekenntnis formulierte Wissen um die Zugewandtheit Gottes zum Menschen wird in unserem Text zur Mitte einer Begegnung zwischen Gott und Mose:
„JHWH aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Mose rief den Namen JHWHs aus und JHWH ging an ihm vorüber und rief: JHWH, JHWH, barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue. Der Huld bewahrt den Tausenden, indem er Schuld und Sünde vergibt, der aber nicht ungestraft läßt, indem er Schuld der Väter heimsucht an den Söhnen und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation. Da verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden. Er sagte: Wenn ich denn Gnade gefunden habe, mein Herr, dann ziehe mit uns. Da sprach JHWH: Ich schließe einen Bund“.
Mose ergreift das Wort vom gnädigen Gott und bittet um Gottes Gegenwart inmitten des wandernden Gottesvolkes. Noch einmal erfüllt Gott die Bitte um Nähe und gleichzeitig entzieht er sich. Nur in der Verheißung des Bundes ist er bei seinem Volk.
Mit Blick auf das Exil, die Zeit der großen Not Israels, die Konsequenz dessen ist, daß Israel am Willen Gottes gescheitert sei, wird die Erzählung vom Tanz um das Goldene Kalb vorangestellt, das Zerbrechen der Tafeln des Bundes. Doch noch diesen Bruch des Bundes vergibt Gott, die Tafeln werden erneuert, ein erneuerter Bund verheißen und die Bitte des Mose um Gottes Begleitung hinzugefügt: „Es ist ein störrisches Volk, doch vergib uns unsere Schuld und Sünde“.
Hans Blumenberg hat in seiner Lebensdeutung das Glück der Götter gepriesen, die niemals dessen ansichtig werden, was Schiffbruch heißt in unserem Leben, und er hat das Glück der Philosophie als einziges dem Menschen mögliches gepriesen, des Philosophen, der wie auf sicherer Klippe sitzend nur aus der Distanz den Schiffbruch des Lebens beobachtet und bedenkt. Einem solchen Versuch, Welt zu ergründen, tritt unser Text entgegen. Gott selbst gibt dem Menschen seine Nähe, wendet sich ihm zu, schenkt ihm Treue und Liebe und wird zurückgestoßen, erlebt Zorn, leidet und überwindet sich selbst, wenn er am Menschen dennoch zuverlässig festhält. Die Welt ist recht ergründet, wenn verstanden wird, daß das Glück im Leben nicht die Distanz zum Leben und seinem Schmerz sein kann, nicht die Distanz zu Gut und Böse, Liebe und Zorn, sondern nur das mutige Hineingehen, Annehmen, Durcharbeiten und die Selbstüberwindung, so wie Gott, der letzte Grund der Wirklichkeit, es tut. Wer so lebt, dem gilt die Verheißung Gottes in unserem Text:
„Ich schließe einen Bund. Vor deinem ganzen Volk werde ich Wunder tun, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern nie geschehen sind“.
Prof. Dr. Eckart Otto