Ezechiel 37,1–14

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(Nur) eine Vision? Totengebeine und ihre Erweckung | Pfingstsonntag | 19.05.2024 | Ezechiel 37,1–14 | Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

Was sich bei Ezechiel in einer Vision als schreckliches Bild eines Durcheinanders von Totengebeinen zeigt, das erweist sich leider in den Konzentrationslagern der Nazis und bei den Kriegsverbrechen in Kriegen, Völkermord (Genozid) und Bürgerkriegen durch die Menschheitsgeschichte hindurch bis zu unseren Tagen als schaurige Realität. Wie viele Massengräber werden immer wieder gefunden! Die Orte muss ich hier nicht nennen; die kennen Sie aus den Nachrichten und aus der Geschichte.

Die Vision der Totengebeine im Ezechielbuch[1] lässt den Propheten nicht unbeteiligt; er ist persönlich involviert,[2]indem ihm wiederholt gesagt wird zu weissagen (Ez 37,7–10; cf. 37,11–14; Jes 26,19):

„Und ich weissagte, wie es mir geboten worden war, und als ich geweissagt hatte, war da ein Lärmen, und sieh, ein Beben, und Gebeine rückten aneinander, eines an das andere. Und ich schaute hin, und sieh, auf ihnen waren Sehnen, und Fleisch war gewachsen, und darüber zog er Haut, Geist aber war nicht in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage über den Geist, weissage, Mensch, und sprich zum Geist: So spricht Adonai JHWH: Geist, komm herbei von den vier Winden und hauche diese Toten, Erschlagenen[3] an, damit sie leben. Und ich weissagte, wie er es mir geboten hatte, und der Geist kam in sie, und sie wurden lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein großes, gewaltiges Heer.“[4]

Lasst uns einmal schauen, wie sich Vision und Wirklichkeit (damals wie heute) zueinander verhalten. Es ist zu berücksichtigen, dass sich Vergangenheit und Gegenwart nicht deckungsgleich vergleichen lassen; das betrifft gerade die Rolle Israels. Sollte die Erneuerung sogleich Wehrtüchtigkeit mit sich bringen? Viele übersetzen das hebräische Wort חיל mit Heer; es bedeutet aber vorwiegend Macht, Stärke, militärische Stärke ist ergo nicht gemeint.[5]

Ezechiel hat die erste Deportation (597 v.u.Z.) persönlich erlebt; er redet nicht wie ein Blinder von der Farbe. Die Verschleppung weiter Teile der Mittel- und Oberschicht Judas und Jerusalems ist für die Betroffenen ein dramatisches Ereignis. Aus biblischen Texten geht hervor, dass die Babylonier die Deportierten bewusst nach folgenden Kriterien auswählen: gute Ausbildung, spezielles Wissen und Fertigkeiten, die ihnen allesamt in Bereichen wie Militär, Handwerk und Wirtschaft nützen.[6]

Die zweite Eroberung Jerusalems und die Zerstörung der Stadt wie des Tempels als Zentralheiligtum 587 v.u.Z. (die erste war 597 v.u.Z.)[7] bewirkt neue Orientierung in der Verkündigung Ezechiels. Als Visionär spricht er von grundlegender „Erneuerung und Wiederherstellung Israels, von dem Wunder der Neugeburt (Ez 37)“. Dieses Wunder besteht, etwas nüchterner formuliert, in der Tatsache, dass trotz Eroberung Jerusalems und Zerstörung des ersten Tempels dem „Gottesglauben“ der Boden nicht entzogen worden ist.[8] Die Glaubensstärke Israels wurde nochmals zutiefst erschüttert, als römische Truppen im Jahre 70 (u.Z.) den Tempel plündern, in Brand setzen und zerstören. Nur die Westmauer ist erhalten, (die Bezeichnung „Klagemauer“ ist unjüdisch). Der Fall Jerusalems und die wiederholte Zerstörung des Tempels sind tiefe Einschnitte in die Geschichte Israels.[9] Dennoch:

Diese nationale Katastrophe brachte nicht das Ende Israels; sie trug bei zum Wandel seiner Gestalt und seines Wesens, „das vielleicht erst von diesem Augenblick an jene Weiten und Tiefen erreichte“, die das „Judentum“ und mit ihm die hebräische Bibel „zum welthistorischen Paradigma“ Israels und „seiner Gotteserfahrung(en) werden ließen. In der Bewältigung der Geschichte mit seinem Gott kulminieren Tragik und Größe dieses Volkes.“[10]

Die hebräische Bibel spricht aber nicht nur vom kollektiven Glauben oder von der Gemeinschaft als Gesellschaft gegenüber „seinem Gott“; vielmehr vollzieht sich gerade bei Ezechiel eine Wandlung, indem er Gottvertrauen und Verantwortung des Einzelnen anspricht. Er sieht Gemeinschaft als eine „Vielheit von Einzelnen“, „von denen jeder Gott gegenüber nur noch für sich selber (…) vollkommen verantwortlich ist“. Jetzt steht „jeder als Person seinem Gott gegenüber (…), jeder in der Glaubens-einsamkeit des Propheten. Und Gott steht jedem Einzelnen so fordernd, eifernd und vergeltend gegenüber wie vordem dem Volke.“[11]

Was das deutsche Volk mit dem Volk Israel gemeinsam hat, ist die Erinnerungskultur, allerdings mit dem Unterschied, dass sich die Pflege der Erinnerung wie ein roter Faden durch die hebräische Bibel, durch die mündlichen Traditionen und durch die Rituale des Judentums ziehen, während wir aus der Einsicht einer bitteren Notwendigkeit durch Gedenkstätten, durch moderne Geschichtsschreibung, durch Bildungsarbeit und durch Beziehungen der Versöhnung mit Erinnerung mahnend an uns selbst herantreten: „Nie wieder!“ Angesichts nie aufhörender Schmähungen, Schändungen, antijüdischer Schmierereien an Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen sowie im Blick auf die zunehmenden Gewalttaten gegenüber Juden – und das seit der Zeit nach 1945[12] –  wird das Wächteramt unserer Regierung notwendiger denn je. Nur eine geschichtsbewusste Demokratie, die nichts vergisst und eine Gesellschaft, die sich sehr entschlossen gegen Feinde der Demokratie stellen und solidarisch gegenüber Juden, aber auch friedliebenden Muslimen und anderen Kulturen verhalten, wappnen sich gegen eine zweite Shoa (Holocaust).

Es ist schon ein Wunder, dass Israel trotz aller Fremdherrschaft, entgegen der Deportationen und vor allem trotz der mehrfachen Zerstörung ihres Zentralheiligtums, des Tempels in Jerusalem, entgegen der ihm immer wieder begegnenden Gewalt seine Religion und Kultur am Leben erhalten konnte, bis hin zur Gründung des Staates Israel (14. Mai 1948). Bereits einen Tag später reagierten arabische Länder aggressiv und griffen Israel an; Israel aber ging als Sieger hervor. Viele arabische Einwohner des alten Palästina wurden vertrieben oder sind geflüchtet. Sie und die Araber, die zurückbleiben, werden künftig als Palästinenser bezeichnet. Die Staatsgründung stößt international auf erheblichen Widerstand, doch das Land erhält auch Unterstützung, da es eine Heimstätte für die Überlebenden der deutschen Judenverfolgung in Europa sein kann.[13]

Die hebräische Bibel, insgesamt im Judentum auch als Tora bezeichnet, verschweigt nirgendwo, wenn Israel außenpolitisch durch eine schlechte Politik ihrer Regierungen (Könige) schuldig wird gegenüber seinen Nachbarvölkern. Sie kann aber auch nicht ignorieren, wo dem Volk Israel großes Unrecht widerfährt. Für uns Außenstehende ist es teilweise unmöglich, die Beweggründe bei den beteiligten Völkern bzw. ihrer Regierungen nachzuvollziehen. Tatsache ist aber, dass schon in der Historie die Ursachen für gewaltsame Konflikte angelegt sind und daher immer wieder aufflammen und im Nahen Osten leider bis heute andauern – das reinste „Pulverfass“!

Von diesen politisch motivierten Anfeindungen und Kriegen gegen Israel und dessen Reaktion sind Hass und Vernichtungswillen gegen das Judentum, gegen als Juden gebrandmarkte, stigmatisierte  Menschen streng zu unterscheiden. Abgesehen vom vielerorts generell grassierenden Hass gegen Juden, häufig aus Neid, haben die Nazis die Feindschaft gegen Juden auf die Spitze getrieben. Die Ausrottung, die Vernichtung der Juden, zumindest der europäischen Juden ist ihr Programm. Mit unvorstellbarer Präzision und Konsequenz errichten sie Arbeits- und Vernichtungslager, planen in ausgefeilter Logistik Massentransporte in plombierten Viehwaggons und bauen ihre Todesfabriken mit Gaskammern und Krematorien.

David Olère, der einzige Maler, der das alles gesehen und überlebt hatte, hat nach 1945 Zeichnungen, zum Teil bereits vorher angefertigt, und gemalte Bilder hinterlassen, deren dokumentarischer Wert unschätzbar ist.[14] Er hat als Überlebender aus Auschwitz-Birkenau Unvorstellbares erlebt und später als Künstler gemalt, wie z.B. den Erstickungstod durch Zyklon B.[15]

Olère hat eine besondere Geschichte: Am 2. März 1943 verlässt ein Transport mit tausend Juden das Sammel- und Durchgangslager Drancy, 20 km nordöstlich von Paris, Richtung Auschwitz. Es ist die 49. Deportation im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“; nur hundert Männer und neunzehn Frauen wertet man bei der Selektion als arbeitsfähig. Die übrigen 881 Deportierten werden sofort vergast. Sechs überleben, darunter zwei Frauen. Olère wird als Totengräber im Bunker 2 des Krematoriums III zum jüdischen Sonderkommando[16] abgestellt. In dem Gebäude befinden sich eine Gaskammer und Verbrennungsöfen. Ein Überlebender berichtet nach dem Krieg, dass Olère dem Sonderkommando zugeteilt war und „die ungewöhnliche Aufgabe“ hatte, „Bilder für die SS zu malen“. Auch aufgrund seiner Deutschkenntnisse war er für die SS interessant. Olère schrieb für sie „kalligraphierte und mit Blumen dekorierte Briefe an ihre Familien“.[17]

„Manchmal jedoch wurde David Olère auch zu den Verbrennungsöfen beordert oder mußte an der ‚Räumung‘ der Gaskammern teilnehmen.“ Manchmal wurde er unfreiwillig Zeuge des Ausziehens im Auskleideraum und der Vergasung.[18] Ich wähle nur ein Beispiel aus dem umfangreichen Bildmaterial, das uns der Künstler und Auschwitz-Überlebende hinterlassen hat: Gazage (Gassing).[19] Man sieht deutlich, wie völlig ausgemergelte Körper, nur noch Haut und Knochen, eher skelettiert, nach oben streben, um noch Luft zu bekommen. Die unten kauernden Opfer haben keine Chance; sie werden getreten, auch die eigenen Kinder. Ihnen allen wird beschert – ganz und gar nicht „Geist Gottes“, sondern im Gegenteil: Sie erhalten ausnahmslos Zyklon B, das von den Nazis für ihre Vernichtung ausgewählte, tödliche, den sicheren Tod bringende Gas! Das nenne ich zynisch!

Der markanteste Unterschied zwischen der Vision der Totengebeine bei Ezechiel und dem Bild des Künstlers und Auschwitz-Überlebenden David Olère besteht eben darin: das eine ist Vision, während das andere Wirklichkeit ist. Allerdings gewinnt man den Eindruck, dass der Vision des Ezechiel eine Realität zugrunde liegt; das zeigt der Dialog mit JHWH: „Du Mensch, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel! Siehe, sie sagen: Unsere Gebeine sind vertrocknet, und unsere Hoffnung ist dahin. Wir sind (vom Leben) abgeschnitten“ (Ez 37,11)! Offenbar wird die Vision unterbrochen, wodurch die Realität zur Sprache gebracht wird: Israel war (wieder einmal) am Boden zerstört, ohnmächtig, vom Leben abgeschnitten; andererseits behält die Verheißung kraft der prophetischen Zeichenhandlung im Kontext ihre Dominanz, setzt sich durch.

Es mag Anstoß erregen – auch in einer Kirchengemeinde, an Auschwitz zu erinnern; ebenso könnte ich die Todesfuge[20] Paul Celans rezitieren; ich erinnere mich noch an eine ambivalente Reaktion in einer Kölner Kirchengemeinde. Ich halte es jedenfalls für wichtig, aufzuzeigen, dass für die Mehrzahl einzelner Menschen wie für ganze Völker ihr Lebensweg von Geburt an durch die Hölle führt. Genial  setzen das der Dichter Dante Alighieri und der Bildhauer Auguste Rodin dichterisch, künstlerisch um. Es geht um das Höllentor.[21] Rodin studiert das Werk Dantes,[22] versucht, sich in den Geist des Dichters hineinzuversetzen[23] und wählt den ersten Teil der Divina Commedia, das Inferno. Da sind auf dem Tor hoch oben die Worte zu lesen:

„Durch mich geht es zur Stadt der Leiden,
Durch mich geht es zum ewigen Schmerz,
Durch mich geht es zu den verlorenen Menschen.
Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!
Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hereinkommt!“

Inferno, existenzielle Verlorenheit bei dieser monumentalen Skulpturengruppe. Die Figuren ringen mit der Hoffnungslosigkeit und Endgültigkeit des Todes. Menschenleiber. Sie taumeln, fallen, stürzen hinunter. Einzeln, in Paaren oder wie in Trauben dicht aneinanderhängend. Männer, Frauen, Alte, Junge. Sie taumeln, fallen, stürzen. Hinunter in eine haltlose Tiefe. 186 Figuren sind es insgesamt. Untergebracht sind sie auf einem riesigen Bronzeportal. Mehr als sechs Meter ist es hoch und vier Meter breit. Wir stehen vor dem Höllentor des Bildhauers Rodin. Es gilt als sein bedeutendstes Werk, obwohl es unvollendet blieb. 37 Jahre arbeitet er an diesem Werk. Erst nach seinem Tod (1917) wird das Höllentor in Bronze gegossen.[24]

In Rainer Maria Rilkes Rodin-Studie (1903) ist Rodin „ein Suchender des Lebens“. Bei allem Ringen durch die Dramen des Lebens, durch alle Wirrnisse, fing er an zu begreifen, so ist das Leben: „in Sehnsucht und Weh, in Wahnsinn und Angst, in Verlust und Gewinn.“ Hier war ein unermessliches Verlangen, „hier war kein Lügen und Verleugnen, und die Gebärden von Geben und Nehmen, hier waren sie echt und groß. Hier waren die Laster und die Lästerungen, die Verdammnisse und die Seligkeiten, und man begriff auf einmal, daß eine Welt arm sein mußte, die das alles verbarg und vergrub und tat, als ob es nicht wäre.“ In den „verzweifelten und verlorenen Versuchen, dem Dasein einen unendlichen Sinn zu finden, ist etwas von jener Sehnsucht, die die großen Dichter (aus)macht. Hier hungert die Menschheit über sich hinaus. Hier strecken sich Hände aus nach der Ewigkeit (…).[25]

Rilke beschreibt und kommentiert, was ihn bei der Betrachtung des Höllentors bewegt, stets auch in Relation zu dem Bildhauer, in dessen Werkstatt er ein paar Monate arbeitete.[26] Es mag nicht ganz angemessen erscheinen, an dieser Stelle an die Vision bei Ezechiel zu erinnern. Aber schien nicht der Anblick von Totengebeinen und deren Vergleich mit dem Volk Israel eine „höllische“ Provokation für den Propheten, der das Auf und Ab von Heil und Unheil in seiner Verkündigung im Auftrag JHWHs zwar gewohnt war, der sich aber angesichts einer solchen tabula rasa wie vor den Kopf gestoßen sah:[27] Hier war kein Leben mehr! Ohne diese Situation schmälern zu wollen: Kennen wir nicht auch Lebensabschnitte innerhalb der Großfamilie oder bei Freunden oder bei uns selbst, von denen wir mindestens im Nachhinein sagen müssen: Das war die Hölle! Ich wäre fast gestorben. Ich war wie tot.

Eine Beziehung kann wie verdorrt sein: nicht mehr lebendig, die Gefühle wie abgestorben; nicht nur die einstigen Glücksgefühle, vielmehr auch keine Wut, kein Streitwille – alles einfach tot. Oder wie mag sich ein Mensch fühlen, der eine unheilbare, todbringende Krankheit hat und die letzte Phase seines Lebens in der Klinik oder daheim im Kreise der Angehörigen verbringt: Ausgetrocknet sind seine Gebeine wie sein Mund, der immer wieder neu befeuchtet werden muss. Sterbende bedürfen der Gegenwart der Lebenden; Berührungen sind sehr wichtig. Das fällt uns weitaus schwerer als dem Sterbenden, weil wir den Geruch und die Nähe des Todes spüren. Instinktiv beschleichen uns Angst, ja, die Gewissheit, dass auch wir einmal die Grenze des Lebens erreichen.

Doch werden Menschen mitunter geplagt von „kleinen Toden“, von Verlusten, Misserfolgen, Krisen, massiven Einschränkungen, Verletzungen, Unterdrückungen, Demütigungen, Betrug, Ausgrenzungen, körperlicher, seelischer Gewalt. In diesen Phasen besticht der Gedanke: „Da wäre ich lieber tot!“ Wer nicht betroffen ist, wischt diese Worte leicht vom Tisch. Rodin, wie es Rilke empfindet, kennt „das Leben des heutigen Menschen“, „die Gebärden der Menschheit, die ihren Sinn nicht finden kann“ (im Vergleich zu Dantes Zeit), ungeduldiger geworden, nervöser (…), hastiger. Und alle die durchwühlten Fragen des Daseins liegen um sie her.“[28]

Fast 600 Jahre liegen zwischen Dantes Divina Commedia und Rodins Höllentor. Rodin, dessen Schaffen im Ausklang des 19. Jh. Antwort sucht auf Fragen, welche die „conditio moderna“ des Menschen aufwirft. Denn eins steht auch für den Bildhauer außer Frage: „Die Kunst enthüllt den Menschen den Sinn ihrer Existenz. Es ist wie ein Sprudeln intellektueller Kräfte, das in vielfachen Kaskaden herunterfällt, bis es das große stets bewegte Gewässer bildet, das den geistigen Zustand einer Zeit darstellt.“[29] Wasser und Geist sind sich ähnlich, indem sie als lebendige, mächtige Kräfte neues Leben schaffen und schenken. Beide bahnen sich ihren Weg und beleben, was vorher tot war.

Der Mensch hat Anteil an der Macht des Geistes, die Leben schafft oder zerstört. Rodin ist die Gestalt des Denkers wichtig: oberhalb des Höllentors platziert Rodin seinen „Denker“. In einem eigenen Feld über dem Türsturz sitzt er hoch über dem Geschehen tief unter ihm, gedankenverloren. Der Denker ist „der Mittelpunkt des Tores“.[30]

Ein denkender Mensch sollte nicht mit einem Grübler verwechselt werden. Kinder sind häufig die besten Philosophen, weil sie grundlegende, scheinbar einfache Fragen stellen. Wir benötigen oft frischen Wind, der verstaubte Gelehrten- oder Lehrerzimmer durchweht. Geistesfreiheit braucht es, um vertrocknete, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Mögen wir uns zu Visionären entwickeln, die ähnlich wie Ezechiel offen sind für den Geist, den wir zum Glück nicht kontrollieren können! Denn der Wind (Geist) weht, wo er will … (Joh 3,8).

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

(„im Unruhestand“)

Bonn

 bautzprivat@gmx.de

[1] Zur diffizilen Entstehung, zum Genre des Buches und zur historischen Einordnung, s. Ruth Poser: Ezechiel / Ezechielbuch (2021), wibilex.

[2] „Das in der Bildrede 37,11 vom Volk gebrauchte Bildelement der vertrockneten Gebeine gestaltet sich dem Propheten zur autodramatischen Vision, in der er selbst durch das ihm aufgetragene Prophezeien handelnd dabei ist.“ TRE 10 (1982), Art. Ezechiel/ Ezechielbuch (Walther Zimmerli), 766–781: 774.

[3] Passiv von harag (הרג): einen Menschen töten im Sinne von Totschlag (cf. Gesenius).

[4] Mehrfach ist in Ez 37,1–14 die Rede von ruah (רוח): Geist, Odem, Wind; Martin Buber fasst die Bedeutungen im Wort „Geistbraus“ zusammen: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber, gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Bd. 3: Bücher der Kündung (1985), 549–550; die Holy Bible. New International Version (1978) liest durchgängig breath, nur in 37,14 Spirit; Exegese, s. André Tolksdorf: Die רוח als Perspektive für ein neues Leben. Eine Studie zu Hes 36 und 37 als Kern des Hesekiel-Buches, Bibelstudien 30 (2021): Exegetische Beobachtungen zu Hes 37, S. 175–194. Der Mythos von der Erschaffung des Menschen verwendet „Lebensodem“: „JHWH Elohim bildete den Menschen (Adam) aus Staub vom Erdboden (Adamah) und blies Lebensodem in seine Nase, so wurde der Mensch (Adam) ein lebendiges Wesen“ (Gen 2,7).

[5] Cf. Gesenius.

[6] Cf. Barbara Schmitz: Geschichte Israels (2., aktualis. Aufl. 2015): Die erste Eroberung Jerusalems und die erste Deporation durch die Babylonier (597 v.u.Z.), S. 22–26: Ezechiel, S. 24–26.

[7] S. Thomas Wagner: Exil/ Exilszeit (2007), wibilex.

[8] B. Schmitz: Geschichte Israels (2015), 26.

[9] Ruth Poser: Ezechiel / Ezechielbuch (2021) erwägt eine Traumatheologie/ Traumatologie des Ezechielbuches.

[10] Siegfried Herrmann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (2., überarb. u. erw. Aufl. 1980): (II.) Die Königreiche Israel und Juda (11.) Die Babylonier und das Ende des Staates Juda, 335–349: 349.

[11] Martin Buber: Glaube der Propheten (2., verb. Aufl. 1984): Der Gott der Leidenden (195–281): Die Frage, 227–246: 230–231.

[12] S. „Liste von antisemitischen Anschlägen und Angriffen im deutschsprachigen Raum nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland“ bei wikipedia.

[13] Cf. https://www.annefrank.org/de/timeline/183/grundung-des-staates-israel/.

[14] Vergessen oder vergeben. Bilder aus der Todeszone. Texte von Alexandre Oler/ Bilder von David Olère (2004, 22012): Vorwort v. Serge und Beate Klarsfeld, 7–11: 9; Or.: Un génocide en héritage (1998).

[15] S. meine Predigt über Ez 37,1-14 vom 16. April 2022 (im Archiv); cf. weiter unten.

[16] S. Gideon Greif: „Wir weinten tränenlos …“. Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Aus dem Hebräischen übersetzt v. Matthias Schmidt (1995, 1999, 102014).

[17] Vergessen oder vergeben (2012): Vorwort v. Serge und Beate Klarsfeld, 7–8.

[18] Vergessen oder vergeben. Bilder aus der Todeszone (2012), 8; cf. Jean-Claude Pressac: Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes (Neuausgabe 1995): (IX) Die Einrichtung von Gaskammern in den Krematorien, 69–96: Es folgen 4 Zeichnungen von David Olère: Dokument 29: Der Ofenraum des Krematoriums II mit seinen fünf Dreimuffelöfen; Dok. 31: die „Friseure“ und „Zahnärzte“ bei der Arbeit in der Gaskammer. […]; Dok. 32: Herausholen der Leichen aus der Gaskammer des Krematoriums III und ihr Transport zum Aufzug des Ofens […]; Dok. 33: Einschieben einer Frauen- und mehrerer Kinderleichen in die Einäscherungskammer […]; Dok. 35: Auskleideraum des Krematoriums III. An der Decke links das Entlüftungsrohr mit seinen Saugstutzen. Jean-Claude Pressac lässt an der Authentizität der Bilder von David Olère keine Zweifel aufkommen, indem er sie als Dokumente angibt; Or.: Les Crématoires d’Auschwitz (1993); cf. Auschwitz. Technique and Operation of the Gas Chambers. Beate Klarsfeld Foundation, N.Y. 1989. Pressac (1944–2003) war Chemiker und Historiker.

[19] Cf. Erstickungstod durch Zyklon B oder Gazage (Gassing, 131 x 162 cm): Ausst.-Kat. David Olère: 1902–1985. A painter in the Sonderkommando at Auschwitz (1989), A Living Memorial to the Holocaust, New York, S. 54; s. Videopräsentation https://webdoku.rbb-online.de/david-olere-chronist-von-auschwitz#237964; Vergessen oder vergeben (2012), 32–33 (Abb., S. 33).

[20] Sie hat nie an Aktualität verloren, s. Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts (2020).

[21] Auguste Rodin. Das Höllentor. Zeichnungen und Plastik, [Katalog anläßlich der Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle Mannheim, 28. September 1991 bis 6. Januar 1992, hg. v. Manfred Fath in Zusammenarbeit mit J. A. Schmoll gen. Eisenwerth. Mit Beitr. von Nicole Barbier (1991); https://www.deutschlandfunk.de/der-bildhauer-auguste-rodin-und-sein-hoellentor-wir-muessen-100.html. Überschrift: „Wir müssen das Leben lieben“. Zum Thema: Antoinette Le Normand-Romain: Rodin. Das Höllentor (1999, 2002); Raphael Masson/ Véronique Mattiussi: Rodin (2004): Das Höllentor, 25–47.

[22] TRE 8 (1981), Art. Dante Alighieri (1265–1321), 349–353 (August Buck): Das Werk, 350–352: Commedia, seit der Ausgabe von 1555 Divina Commedia, 351–352.

[23] S. Masson/ Mattiussi: Rodin (2004): Dante und die Künstler. Ein ewiger Quell der Inspiration, 48–51.

[24] Geschichte, Restaurierung und Transport: Das Höllentor von Zürich, Semesterarbeit Felix Forrer, SS 2006, Hochschule der Künste, Bern (pdf-Datei im Anhang); cf. Skulptur. Von der Antike bis zur Gegenwart (8. Jh. v.u.Z. bis 20. Jh.), hg.v. Georges Duby/ Jean-Luc Daval (2002; ursprüngl. 4 Bde., 1986–1991): Das Höllentor, 930–931.

[25] Rilke. Auguste Rodin (1902). Mit 96 Abbildungen (1955; 1984, 132018): Porte de l’Enfer, 34–39: 35–36.

[26] Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg.v. Manfred Engel (2013): Kontakte und Kontexte (2.2) Bildende Kunst (130–150): Auguste Rodin, 139–142: 140; Ingeborg Schnack. Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926. Erweiterte Neuausgabe, hg.v. Renate Scharffenberg (1975; 2009): Bei Rodin (1905–1906), 223–245: 224ff; Erste Meisterschaft, 245–257: 245 (danach arbeitete Rilke 7 Monate bei Rodin).

[27] Zumal Ezechiel ganz abrupt mit den verdorrten, abgestorbenen Gebeinen als Sinnbild Israels konfrontiert war: „Es war die Hand JHWHs über mir …“; Ruth Huppert: Israel steht auf. Eine Studie zu Bedeutung und Funktion von Ez 37,1-14 im Buch Ezechiel, Beiträge zum Verstehen der Bibel 27 (2016): Einzeluntersuchungen zu Ez 37,1–14, S. 106 – 205; Ez 37, 1–14 als nichtdatierter Textabschnitt im Buch Ezechiel, 262–276.

[28] Rilke. Auguste Rodin (1903). Mit 96 Abbildungen (132018), 37.

[29] https://www.deutschlandfunk.de/der-bildhauer-auguste-rodin-und-sein-hoellentor-wir-muessen-100.html. Dort auch das Bild vom „Denker“ (s.u.).

[30] Rilke. Auguste Rodin (1903). Mit 96 Abbildungen (132018), 37.