
Galater 3,26-29
Irgendwie anders | 17. So. n. Trinitatis | 22.09.24 | Gal 3,26-29 | Verena Salvisberg |
Liebe Gemeinde,
Irgendwie anders…
Ja, so war sie schon als Jugendliche gewesen, die knapp dreissigjährige Frau, die mir jetzt am Tisch gegenübersass, zusammen mit ihrer Ehefrau. Die beiden hatten ihre eingetragene Partnerschaft in eine Ehe umgewandelt, sobald das in der Schweiz möglich war. Jetzt sassen sie bei mir im Besprechungszimmer zum Traugespräch. Soweit eigentlich nichts Aussergewöhnliches. Trauungen gibt es ab und zu, auch Trauungen von gleichgeschlechtlichen Paaren hatte ich schon gestaltet.
Warum ich Ihnen also heute davon erzähle? Buchstäblich umgehauen hat mich der Grund, warum dieses Paar sich trauen lassen wollte.
Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.
Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.
Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.
Diese Verse hatte die junge Frau bereits am Telefon zitiert. «Das ist der Grund», sagte sie, «das glaube ich. Weisst du noch damals? Wir waren dreizehn Jahre alt. Wir wussten nicht, wer wir sind. Alles war immer irgendwie falsch. Jede hatte von sich das Gefühl anders zu sein als alle andern. Jeder dachte von sich, er gehöre nicht dazu. Und dann haben wir zusammen diesen Gottesdienst vorbereitet…»
So sprudelte es aus ihr heraus am Telefon.
Unglaublich. Ein Gottesdienst! Vor zig Jahren! Ich konnte das fast nicht glauben.
Und jetzt sass sie also da mit ihrer Partnerin und schwelgte in Erinnerungen:
«Du hast uns diese Galaterverse vorgesetzt und zunächst waren wir nicht gerade begeistert.
Aber irgendwann sagte jemand: Das ist ja wie bei uns. Bei uns ist das doch so unglaublich wichtig, wer wir sind. Wo wir herkommen. Ob wir gut sind in der Schule. Wie wir aussehen. Ob wir Mädchen sind oder Jungs. Und das spielt dann alles auch irgendwie eine Rolle, ob wir dazu gehören oder nicht. Und wir wollten unbedingt dazu gehören.»
Auch ich erinnerte mich gut an die Unterrichtsstunde damals. «Schön wär’s» sagten die Jugendlichen. «Schön wär’s wenn es so wäre, wie es da steht.»
Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.
Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.
Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.
«Und wenn es wirklich so wäre», sagte ich damals zu ihnen. «Ihr seid doch getauft. Ja, schon klar, das ist lange her, aber trotzdem. Wie es bei Christinnen und Christen zu und hergeht, das bestimmen diese selbst, also ihr zum Beispiel.»
Eine wilde Diskussion folgte auf diesen Einwurf meinerseits und nach einigem Ringen entschlossen sich die Jugendlichen, im von ihnen gestalteten Gottesdienst einen Versuch zu machen.
«Und dann erzählten wir diese Geschichte», übernahm nun wieder die junge Frau im Traugespräch. «Nein, was sage ich erzählen, eigentlich spielten wir sie ja. Irgendwie anders…». Nachdenklich schaute sie mich an. «Waren wir das nicht alle irgendwie? Und sind wir das nicht alle? Irgendwie anders…»
Oh ja auch diese Geschichte von damals war ihr so präsent, dass sie sie gleich erzählte: von dem kleinen Irgendwie Anders, das so gerne dazu gehört hätte und das, als es Besuch bekam von einem anderen Wesen, zunächst auch sehr abweisend reagierte und erst mit der Zeit realisierte, dass es keine Rolle spielte auf welche Weise man irgendwie anders war:
Irgendwie anders[1]
Auf einem hohen Berg, wo der Wind pfiff, lebte ganz allein und ohne einen einzigen Freund Irgendwie Anders. Er wusste, dass er irgendwie anders war, denn alle fanden das.
Wenn er sich zu ihnen setzen wollte
oder mit ihnen spazieren gehen
oder mit ihnen spielen wollte,
dann sagten sie immer:
„Tut uns Leid, du bist nicht wie wir. Du bist irgendwie anders. Du gehörst nicht dazu.“
Irgendwie Anders tat alles, um wie die anderen zu sein.
Er lächelte wie sie und sagte „hallo“.
Er malte Bilder.
Er spielte, was sie spielten (wenn er durfte).
Er brachte sein Mittagessen auch in einer Papiertüte mit.
Aber es half alles nichts.
Er sah nicht so aus wie die anderen und er sprach nicht wie sie. Er malte nicht so wie sie.
Und er spielte nicht so wie sie.
Und was für komische Sachen er ass!
„Du gehörst nicht hierher“, sagten alle.
„Du bist nicht wie wir, du bist irgendwie anders!“
Irgendwie Anders ging traurig nach Hause. Er wollte gerade schlafen gehen, da klopfte es an die Tür.
Draussen stand jemand – oder etwas.
„Hallo!“, sagte es. „Nett, dich kennen zu lernen. Darf ich reinkommen?“
„Wie bitte?“, sagte Irgendwie Anders.
„Guten Tag!“, sagte das Etwas und hielt ihm die Pfote hin – das heisst, eigentlich sah es mehr wie eine Flosse aus.
Irgendwie anders starrte auf die Pfote.
„Du hast dich wohl in der Tür geirrt“, sagte er.
Das Etwas schüttelte den Kopf.
„Überhaupt nicht, hier gefällt’s mir. Siehst du…“
Und ehe Irgendwie Anders auch nur bis drei zählen konnte, war es schon im Zimmer… und setzte sich auf die Papiertüte.
„Kenn ich dich?“ fragte Irgendwie Anders verwirrt.
„Ob du mich kennst?“ fragte das Etwas und lachte.
„Natürlich! Guck mich doch mal ganz genau an, na los doch!“
Und Irgendwie Anders guckte.
Er lief um das Etwas herum, guckte vorn, guckte hinten.
Und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, sagte er nichts.
„Verstehst du denn nicht!“ rief das Etwas. „Ich bin genau wie du! Du bist irgendwie anders – und ich auch.“
Und es streckte wieder seine Pfote aus und lächelte.
Irgendwie Anders war so verblüfft, dass er weder lächelte noch die Pfote schüttelte.
„Wie ich?“ sagte er. „Du bist doch nicht wie ich! Du bist überhaupt nicht wie irgendwas, das ich kenne. Tut mir Leid, aber jedenfalls bist du nicht genauso irgendwie anders wie ich!“
Und er ging zur Tür und öffnete sie. „Gute Nacht!“
Das Etwas liess langsam die Pfote sinken. „Oh!“, machte es und sah sehr klein und sehr traurig aus.
Es erinnerte Irgendwie Anders an irgendwas, aber er wusste einfach nicht woran.
Das Etwas war gerade gegangen, da fiel es ihm plötzlich ein.
„Warte!“, rief Irgendwie Anders. „Geh nicht weg!“
Er rannte hinterher, so schnell er konnte.
Als er das Etwas eingeholt hatte, griff er nach seiner Pfote und hielt sie ganz, ganz fest.
„Du bist nicht wie ich, aber das ist mir egal. Wenn du Lust hast, kannst du bei mir bleiben.“
Und das Etwas hatte Lust.
Seitdem hatte Irgendwie Anders einen Freund.
Sie lächelten und sagten „hallo“.
Sie malten zusammen Bilder.
Sie spielten das Lieblingsspiel des anderen – jedenfalls probierten sie es…
Sie assen zusammen.
Sie waren verschieden aber sie vertrugen sich.
Und wenn einmal jemand an die Tür klopfte, der wirklich sehr merkwürdig aussah, dann sagten sie nicht „Du bist nicht wie wir“ oder „Du gehörst nicht dazu“.
Sie rückten einfach ein bisschen zusammen.
«Sie hat mir erzählt, dass ihr die Geschichte nicht nur erzählt, sondern gespielt habt», meldete sich nun die Partnerin der jungen Frau zu Wort. «Es muss Spass gemacht haben sich zu verkleiden. Und dann habt ihr ein Sofa in die Kirche gestellt, auf dem durften alle Platz nehmen, zusammen mit irgendeinem dieser jugendlichen Irgendwie Anders».
Sie klaubte eine zerknitterte Foto aus der Handtasche, da sass ein Wesen in bunten Kleidern und mit einer seltsamen Mütze, auf dem Sofa thronend, neben ihr eine der älteren Damen, die damals regelmässig zum Gottesdienst kamen.
«Stimmt», erinnerte ich mich nun auch wieder, «wir machten Polaroid-Fotos, die man nach Hause nehmen konnte als Erinnerung».
Noch mehr und noch mehr fiel uns ein. Und dann erinnerte ich mich, wie wir selbst die Predigt zusammen entwickelt hatten. Es war eindrücklich, was die jungen Menschen damals aus den alten, recht komplizierten, theologischen Sätzen des Paulus gemacht hatten.
Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen. Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.
In der heutigen Zeit müsste man das anders sagen, meinten sie:
Durch die Taufe sind wir alle Gottes Kinder.
Es ist egal, ob man
reformiert oder katholisch,
dick oder dünn,
dumm oder klug,
Punk oder Rechtsradikaler,
krank oder gesund ist
Es spielt auch keine Rolle, ob man
ein Skater oder ein Gangster,
hässlich oder schön,
schwarz oder weiss,
modern oder altmodisch ist.
Wir sind alle gleich, denn Gott akzeptiert uns so wie wir sind.
Wir sind alle irgendwie anders. Und wir kennen alle die Erfahrung, nicht dazu zu gehören. Die Erfahrung, dass unser Typ nicht gefragt ist. Aber das möchten wir. Das ist wichtig für uns. Dass wir dazu gehören. In der Familie, im Dorf, in der Klasse.
Und wie steht es mit der Kirche?
Gehören wir da dazu, nur weil wir vor einigen Jahren mal getauft wurden?
Es gibt auch viele Gründe, die gegen die Kirche sprechen. Sie ist weltfremd. Altmodisch und langweilig.
Auf der anderen Seite auch einige positive Argumente. Zum Beispiel Jesus, der war ein interessanter Mann, der sich mit allen Leuten abgegeben hat, egal ob Männer oder Frauen, egal ob Juden oder Ausländer, egal ob Fischer oder Theologen und er sagte spannende Dinge über Gott, er sei wie ein guter Vater z.B. oder er sei Liebe. Darüber sollte man nachdenken und diskutieren und dafür nimmt man sich in der Kirche Zeit. Und es ist überhaupt kein Hinderungsgrund, um ins Gespräch zu kommen, dass alle irgendwie anders sind. Im Gegenteil, das mache es erst interessant.
So ungefähr waren die Predigtgedanken, die wir damals zusammen entwickelt haben.
Wie präsent mir das immer noch war!
Das Gespräch mit der jungen Frau und ihrer Partnerin bewegte und berührte mich sehr.
Durch ihr begeistertes Erzählen wurde das weit zurückliegende Erleben lebendig und aktuell.
Und das war also der Grund, dass die beiden nun da sassen und sich trauen lassen wollten.
Wie eindrücklich!
Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen von diesem Traugespräch erzählen musste.
Natürlich: Ich frage mich schon: Darf man diese ehrwürdigen Paulusworte so radikal herunterbrechen auf den Alltag von pubertierenden Jugendlichen? Darf man sie herausreissen aus dem Zusammenhang des ersten christlichen Jahrhunderts? Aus der Beziehung, die den Apostel mit seiner Gemeinde verbindet?
Die Frage ist berechtigt und trotzdem hatten wir damals erlebt – und jetzt im gemeinsamen Erinnern grad noch einmal, dass etwas davon wahr wurde bis in die Knochen. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass auch die bevorstehende Trauung geprägt sein wird von dieser beglückenden Entdeckung:
Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.
Ihr alle nämlich, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.
Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.
Amen
—
Pfrn. Verena Salvisberg
Merligen
Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Regionalpfarrerin seit 1. August 2022, vorher Gemeindepfarrerin in Laufenburg und Frick und Roggwil
[1]Bilderbuch von Kathryn Cave und Chris Riddell
Oetinger 1994