
Galater 3,26-29
Blickkontakte | 17.Sonntag nach Trinitatis | 22.9.2024 | Gal 3,26-29 | Wolfgang Vögele |
Segensgruß
Der Predigttext für den siebtzehnten Sonntag nach Trinitatis, steht Gal 3,26-29:
„[Paulus schreibt:] Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“
Liebe Schwestern und Brüder,
für die meisten Menschen ist es ein Vorgang, der wie von selbst abläuft. Es geschieht vor dem Schaufenster, an der Salatbar der Kantine, an der Supermarktkasse, im Stehplatzblock des Stadions. Blicke fliegen hin und her zwischen Fremden. Man nimmt sich wahr aus dem Augenwinkel. Wir beobachten uns alle gegenseitig und treffen sofort Unterscheidungen: der Glatzkopf mit der Hornbrille, die Frau im grauen Kostüm, der muskulöse Athlet, der Mann, der hinkt, die alte Frau mit dem Hackenporsche, die lärmende Schülergruppe, die schüchterne Blondine. Ein kurzer Blick, ein Moment der Aufmerksamkeit, und alles löst sich wieder in Luft auf. Vergessen. Und das ist auch nicht schlimm, solange jemand bereit ist, Menschen aus den vorläufigen Schubladen auch wieder herauszuholen, wenn er sie besser kennenlernt. In der Fußgängerzone lerne ich in der Regel niemanden kennen. Es reicht, sich aus dem Weg zu gehen. Im Verein, im Klassenzimmer und im Seminar ist das anders. Jeder sucht die Nähe zu denen, die ihm sympathisch sind. Er meidet diejenigen, mit denen er nichts zu tun haben will. Menschen suchen Nähe und meiden Gefahren. Menschen suchen Gemeinschaft und Gleichheit. Blicke stehen am Anfang. Daraus kann sich etwas entwickeln.
Um sich herauszuheben, muß das Ich attraktiv erscheinen, sympathisch sein. Es muß sich von anderen unterscheiden. Darum arbeitet es an dem, was es auffälliger und bekannter macht. Manche nutzen dafür teure Sneaker oder witzige Bemerkungen, anderen drehen Reels für Instagram oder Tiktok, die nächsten lernen Geige spielen, andere halten Diät und placken sich am Rudergerät im Fitness-Studio ab. Wir leben in einer Gesellschaft knapper Aufmerksamkeit. Wir konkurrieren: Also tun wir alles, um denjenigen aufzufallen, deren Nähe wir uns wünschen. Schüchterne Menschen haben schlechte Karten. In Konkurrenz um Aufmerksamkeit beobachten sich alle gegenseitig und registrieren genau Abweichungen und Sehnsüchte.
Soziologen sprechen darum von einer individualisierten Gesellschaft: Unterschiede zählen mehr als Gemeinsamkeiten. Sogar die großen Konzerne haben sich darauf eingestellt und Abteilungen für Diversity Management eingerichtet. Schließlich sollen die Arbeitnehmer in Teams und Gruppen zusammenarbeiten. Und kein Unternehmen will gerne mögliche Kunden ausschließen. Deswegen lohnt es sich, versteckte Diskriminierungen in den eigenen Werbeclips auszuradieren. Werbespots beachten heute die Regeln der Individualität: Gestalte dein Leben nach deinen eigenen Regeln – mit Produkten, die zu dir passen. Konsum und Eigensinn vermischen sich auf das Schönste. So hört sich die Grundbotschaft der Individualisierung an: Das Ich lebt seine Freiheit aus, erfüllt sich Wünsche, Bedürfnisse und folgt ungehindert seinen täglichen Launen und Vorlieben. Wenn da nur die anderen nicht wären, die auch ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern…
Dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung steht gegenüber ein unbestimmtes Bedürfnis nach Gleichheit. Ich will genauso behandelt werden wie alle anderen. Niemand soll sich Vorteile und Privilegien erschleichen. Artikel 3 des Grundgesetzes sagt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Vor der Richterin und dem Arzt, vor dem prüfenden Lehrer und der Polizistin, die die Radarfalle bedient, wollen wir gleich behandelt werden, ohne Ansehen der Person und ihrer finanziellen, intellektuellen oder sozialen Möglichkeiten. Sieht man das soziale Leben aus der Perspektive der Gleichheit, so tun sich eine Fülle von Diskriminierungen auf, die im Alltag noch beseitigt werden müssen. Männer verdienen für die gleiche Arbeit immer noch mehr als Frauen. Radfahrer werden gegenüber den Autofahrern benachteiligt. Behinderte Menschen fordern mehr Inklusion. Sehr wichtig ist der gleiche Zugang zu Bildung. Manche dieser Diskriminierungen sind im Übrigen stark umstritten, was Problembeschreibungen und Lösungswege angeht.
Diese Forderungen nach weniger Diskriminierungen können in verschiedenen Modellen artikuliert werden. Das rechtliche Modell sagt: Verfassungen garantieren jedem Menschen Würde und Grundrechte. Politik hat die Aufgabe, diese Mindeststandards umzusetzen. Das politische Modell sagt: Wir müssen Mehrheiten schaffen für eine gerechtere Politik, die wir in Parlamenten und Öffentlichkeit vertreten. Selbstverständlich können diese Modelle auch kombiniert werden.
Liebe Gemeinde, ich habe mich bei der Beschreibung von Individualisierung und Gleichheit ein wenig aufgehalten. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten: Alles ist noch viel komplizierter als es in diesen wenigen Sätzen beschrieben wird. Aber genau diese Diskussionen, die viele als schwierig und krisenhaft erleben, bilden den Hintergrund für die biblische Passage aus dem Galaterbrief. In das Stimmengewirr der Gegenwart mischt sich die sehr alte, mit Glauben und Theologie gesättigte Stimme des Paulus. Und erstaunlich – diese Stimme verschafft sich Gehör, weil Paulus Erhellendes zu sagen hat. Während in der Gegenwart Menschen Blickkontakte herstellen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzuwägen, schafft Paulus sozusagen Blickkontakte zu Gott. Glaubende bestimmen sich durch die Überzeugung: Gott sieht mich und läßt mich nicht allein. Und noch etwas mehr: Gott sieht mich, uns, meine Nachbarn und Nächsten, alle gleich an. Der Anfang des Glaubens, die Taufe ebnet Unterschiede ein. Unterschiede der Nation: Juden und Griechen. Unterschiede im sozialen Bereich: Sklaven und Freie. Unterschiede im biologischen Geschlecht: Männer und Frauen.
Der Blickkontakt mit Gott, den Paulus Taufe nennt, schafft eine besondere Gleichheit unter den Menschen. Sie besteht nicht darin, daß die Menschen zuerst Unterschiede anhäufen und dann in einem zweiten Schritt nach rechtlichen und politischen Gleichheiten suchen. Sie besteht darin, daß Gott die Unterschiede der Menschen sieht und in der Taufe neu abwägt und bewertet. Die Taufe macht Menschen, Glaubende zu Geretteten. Und das hebt Unterschiede auf – mit erheblichen Folgen für Glauben, Theologie und Ethik.
Individualisierung sagt: Du mußt dich unbedingt von deinem Nächsten unterscheiden. Du mußt alles tun, damit du schöner, klüger, sportlicher, sympathischer erscheinst als er oder sie. Paulus und der Glaube sagen: Es gibt solche feinen Unterschiede zwischen Menschen, Unterschiede der Nation, des Geschlechts, Unterschiede im sozialen Bereich. Aber wenn es um den Glauben geht, dann kommen die Unterschiede nicht zum Tragen. Die Anderen sind wie du. Gott macht keine Unterscheide; er sieht in allen Menschen den gekreuzigten Christus, den er in der Auferstehung erlöst hat. Und diese Gleichheit hat Folgen.
Nun wird es komplizierter: Paulus ist weder ein Prophet von Individualisierung und Diversity noch ist er ein Prophet der Gleichheit. Vielmehr gilt: Beides steht bei ihm zueinander in einem ausbalancierten, dynamischen Verhältnis, das sich dauernd verändert. Wer sagt: Es genügt, für Individualisierung einzutreten, der verliert das Gemeinsame aus dem Blick. Das Gemeinwohl, von dem alle Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft profitieren, wird nicht mehr berücksichtigt. Individualisierung verkommt zu Egoismus, zu einem notorischen Querdenkertum, über dem demokratische und zivilgesellschaftliche Institutionen ausdörren und auf lange Sicht verkommen.
Das gilt auch für christliche Gemeinden. Deren Botschaft lautet nicht: Das Ich, mehr noch: mein Ich muß gerettet werden. Deren Botschaft lautet: Wir gehen gemeinsam auf das Reich Gottes zu. Hier lauern jedoch theologische Fallstricke. Manche Theologen sagen: Individuelle Unterschiede interessieren mich nicht, stattdessen müssen wir daran arbeiten, für alle Menschen Gleichheit herzustellen, in der Kirche und anderswo. Es kommt darauf an, die eigenen Interessen zurückzustellen und sie dem höheren, gemeinsamen Ziel zu opfern. Darüber aber gehen die Interessen und Wünsche der einzelnen verloren. Auch in christlichen Gemeinden besteht diese Gefahr. Wer durch die Kirchentür eintritt, um einen Gottesdienst zu besuchen, verliert damit nicht sämtliche individuellen Merkmale. Gemeinde sein heißt: Unterschiede bleiben bestehen, aber es entsteht im Gottesdienst eine neue Gemeinschaft, geprägt durch die Gemeinsamkeit des Glaubens. Diese Gemeinschaft drückt sich, gerade im Gottesdienst, in vielem aus. Wir rufen gemeinsam: Herr, erbarme dich, denn wir sind Sünder. Wir singen gemeinsam Choräle. Wir hören gemeinsam die Zusage des Evangeliums: Gott ist euch gnädig. Wir hören gemeinsam die Erzählungen und Weisheiten der Bibel. Wir feiern gemeinsam das Abendmahl, erhalten Brot und Wein als Zeichen der Gemeinschaft mit Jesus Christus, der gekreuzigt wurde und auferstand. Beim Abendmahl stehen wir alle als gleiche Menschen, ohne den Unterschied von Mann oder Frau, Kind oder Erwachsener im Kreis um den Altar. Am Ende nehmen wir uns bei der Hand, blicken den Nachbarn und die Nachbarin freundlich an und sprechen uns untereinander zu: Friede sei mit dir. Die Abendmahlsfeier ist ein Zeichen der Gemeinschaft, in ihr werden wir als gemeinsam Glaubende angesprochen, aber sie hebt nicht dauerhaft alle Unterschiede auf.
Liebe Schwestern und Brüder, ich habe gesagt, es muß immer wieder neu eine Balance zwischen Individualität und Gleichheit hergestellt werden. Das gilt in besonderem Maß für die christlichen Gemeinden, und das bedarf – am Ende dieser Predigt – einer kurzen Erläuterung.
Glaube kann nur so beschrieben werden, daß er sich nicht schon auf etwas Vollendetes, sondern auf etwas Vorläufiges richtet. Glaube ist stets mit Hoffnung auf eine Zukunft verbunden. Wir glauben, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Das ist Vergangenheit. Wenn das Reich Gottes kommt, wird er alle Menschen auferwecken. Das ist Zukunft. Glaube ist also eine Gewißheit, die zum Teil – nämlich in Jesus Christus – schon eingetreten ist, zum Teil noch aussteht – nämlich wenn das Reich Gottes kommt.
Dieser Gedanke ist nun auf das Feld von Gleichheit und Individualität anzuwenden. Es ist gefährlich, so zu tun, als ob in der Gemeinde die Gleichheit aller Menschen schon endgültig und dauerhaft hergestellt wäre. Oft verbindet sich solcher Glaube mit politischen Forderungen, die gelegentlich in sehr unangenehm rechthaberische Parolenpredigten von so genannten ‚Aktivisten‘ ausarten. Das ist nicht die Gleichheit, auf die wir in Jesus Christus hoffen. Die Gleichheit der Parolenprediger entsteht aus der simplen Erlaubnis: Ihr dürft alle meiner politischen Meinung sein und mir folgen. Politik lebt von der Überzeugungskraft, mit der Menschen andere für eine bestimmte Option, eine bestimmte Position oder Haltung einspannen können. So entstehen Gruppen, Parteien und schließlich Mehrheiten, die in einer Demokratie zu Entscheidungen und Beschlüssen führen. Dahinter steht ein politisches und soziales Modell von Gleichheit, das unbedingt zu teilen ist, weil erst solch ein Modell demokratisches Handeln ermöglicht. Aber dieses Modell ist auch gefährdet, es hat Grenzen – fake news, populistische Parteien, Irreführungen der Öffentlichkeit – auf die wir sorgfältig achten müssen.
Die Gleichheit, die Paulus meint, besitzt einen anderen Charakter: Sie lebt vom Glauben an Gott. Die neue Gleichheit des Glaubens lebt sozusagen von den Blickkontakten mit Gott. Das geschieht in den Gottesdiensten, in Taufen und Abendmahlsfeiern, in Glaubensgesprächen, im Beten und Lesen der Bibel. So wird eine Gleichheit gestiftet, die Menschen verändert und kräftigt, ihnen Mut macht und sie von ihren Egoismen abbringt. Sie kann schnell verloren und übersehen werden. Deswegen ist es gut, sich die Bewegung dieser Geschichte des Menschen mit Gott stets neu zu vergegenwärtigen. Den Blickkontakt neu wahrzunehmen.
Und der Friede Gottes, der tiefer geht als unsere vorläufigen Blicke, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.
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Prof. Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
wolfgangvoegele1@googlemail.com
Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).