
Galater 3,26-29
Im Gegenlicht Christi | 17. Sonntag nach Trinitatis | 22.09.2024 | Gal 3,26-29 | Ralf Reuter |
Morning has broken, das erste Licht kommt über den Horizont. Manchmal sind es nur einzelne Sonnenstrahlen. Sie laufen ganz tief und weit über das Land. Leuchten Bäume an, fallen auf Felder und Wiesen. Menschen stehen plötzlich im hellen Schein. Und wir kneifen die Augen, werden geblendet wie einst Paulus vor Damaskus.
Im Brief an die Galater schreibt er dann später einen unglaublichen Satz. Mir begegnet dieses Wort wie das reine Licht vom Himmel. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau“, weiter komme ich erst einmal gar nicht zu lesen. Diese drei Strahlen fallen auf die Welt und ihre Menschen.
Niemals stimmt ein solcher Satz. Hier ist nicht Jude oder Grieche. Gerade im religiösen Kontext ist keine Religion, keine Konfession gleich. Mehr denn je leben und gedeihen die harten Brüche und Unterschiede. Erst im starken Gegenlicht werden sie so beleuchtet, als gäbe es in allen Unterschieden auch etwas Gemeinsames.
Sklave oder Freier, wie es bei Luther steht, dies wird durch neuere Übersetzungen noch drastischer. Privileg und Handicap, koloniale Verstrickung und wirtschaftliche Macht, alles noch einmal geschichtlich und persönlich runtergebrochen und betrachtet in den Romanen dieses Herbstes. Doch im Morgenlicht leuchtet jeder einzelne Mensch.
Und dann noch „hier ist nicht Mann noch Frau“. Viele empfinden dies als eine Frechheit, ihre geschlechtliche Identität einzuebnen. Andere finden sich nicht in einer binären Norm von Mann und Frau wieder. Ich frage mich, wie kommt Paulus von seinen vorherigen Aussagen zu dieser Egalität. Ist das nicht total anmaßend?
Licht von Osten, am frühen Morgen in einer Kirche, es ist bezaubernd. Bleiben wir in unserer Gegenwart, sitzen wir einen Moment in den Bänken zur Morgenandacht. Schauen auf den Altar, auf das Kreuz und die Fenster in der Apsis. Der Morgenhimmel strahlt, doch aus unserer Sicht steht alles hart im Raum. Nichts leuchtet.
Erst im Gegenlicht ändert sich alles. Schon der Blick auf die seitlichen Nachbarn erkennt, wie sie zur Hälfte angestrahlt werden. Der Rückblick, also das Umdrehen, gar Umkehren, offenbart dann die volle Erleuchtung. Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, es sind alle eins in Jesus Christus.
Die Strahlen dringen ja durch die Kirchenfenster ins Innere. Oft ist es Buntglas, manchmal kostbar aus alten Zeiten, manchmal neuer wie bei Marc Chagall, oder im bunten Stein von Gerhard Richter. Dieses Spiel der Farben wird durch das Kreuz auf dem Altar gebündelt und in den Kirchenraum gesandt, zu den Menschen, zu uns.
Von der Morgensonne ausgehend, im künstlerischen Glas in Farbe gesetzt, stehen wir durch das Kreuz hindurch im Licht der Auferstehung. Als sei es die himmlische Gesellschaft, den Engeln gleich, den irdischen Unterschieden enthoben. Doch verspricht uns dies nicht genau die Taufe? Wo die Namen im Buch des Himmels geschrieben sind?
Die Forscher sprechen hier tatsächlich von der Gotteskindschaft. Paulus übernehme aus seinen Jahren in der Stadt Antiochia die Taufliturgie, zu der dieser wunderbare Vers einer endzeitlichen Familia Dei gehört. Denn hier sind nicht Grieche noch Jude, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau. Muss es nur Zukunftsherrlichkeit bleiben?
Birgt nicht der Glaube eine Neuschöpfung unserer Identität, die sich im Gotteslicht ausbrütet? Die uns in allen Unterschieden zwischen Menschen den einen und gleichen Menschen vor Gott offenbart? Wo alle Gewalt und alle Privilegien im Kreuz Christi ein für alle Mal ausgesühnt sind? Wo es nur noch darum geht, dem anderen zu helfen?
Es ist ein weiter Weg, den wir miteinander gegangen sind. Meine eigene Spur des Glaubens führt durch diese theologischen Gedanken von Paulus. Andere werden ihren Ausgangspunkt in den Geschichten von Jesus sehen. Sie erkennen dieses Morgenlicht in seinen Augen, mit denen er die Menschen seiner Zeit angeblickt hat.
Vielleicht ist das noch einleuchtender: Nicht Menschen auf das festnageln, was sie real sind oder in ihrem Handeln zeigen. Sondern sie so ansehen, wie sie in diesem Morgenlicht, von Gott her, gedacht sind. Sie herauslieben aus falschen Verhältnissen und Verstrickungen. In den Jesus-Geschichten hat der Glaube immer etwas Befreiendes.
Dazu kann ich mir ein neues kirchliches Handeln vorstellen. Da wird der erste Schritt sein, sich in dieses Gegenlicht Christi zu stellen. Beschienen zu werden, sich nicht selber zu erleuchten. Daraus folgt immer eine Umkehr. Ich muss mich als ein sich immer wieder hinterfragender Christenmensch begreifen, um mich von Gott leiten zu lassen.
Dies bringt einen neuen Blick auf Menschen. Sie stehen längst im Licht, auch da, wo sie bisher im Dunkel nicht wahrgenommen wurden. Zur Gemeinde Jesu Christi gehören durch den Glauben alle. Viele kenne ich nicht. Sie sind auch nicht immer da, wo ich bin. Erst in dem Versuch, sie mit dem Blick Christi zu sehen, werden sie sichtbar.
Morgenlicht leuchtet, mitten in die Achtung und das Miteinander der Religionen, in die sozialen und geschlechtlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinein. Niemals hebt dieses Licht die Identitätsmarker auf, immer bleiben sie, wenn auch im Wandel, irgendwie bestehen. Wir leben auf Erden, nicht im Himmel.
Doch mit jedem neuen Morgen kommen die Strahlen der Sonne zu uns. Das Gegenlicht der Schöpfung will uns blenden und zur Umkehr führen. Erst dann ist die ganze Schönheit des Landes, des Meeres, der Tiere und Pflanzen, und auch der Menschen zu entdecken. In den Strahlen des Morgens sind sie alle wunderschön.
Mir jedenfalls bedeuten diese drei paulinischen Strahlen sehr viel. In ihnen sehe ich die Vielfalt der Religionen, die Würde jedes Menschen, das Falsche jeglicher Herabsetzung. Dieser Satz wurde vor 2000 Jahren geschrieben. Er ist heute so frisch und jung wie nie. Schauen wir morgens zum Horizont, setzen uns in Kirchen, bleiben im Gegenlicht Christi.
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Pastor Ralf Reuter
Göttingen
E-Mail: Ralf.Reuter@evlka.de
Ralf Reuter, Pastor der Ev.-luth. Weststadt-Kirchengemeinde Göttingen, in den Westdörfern und der Region West, und gelegentlich auch als Pastor für Führungskräfte der Wirtschaft im Kloster Loccum
Ich danke den Teilnehmenden der Loccumer Klausur vom 14. und 15.09.2024 für ihre Beiträge.