
Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32
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3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002 |
„Des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“? So wahr ich lebe, spricht Gott, der HERR. Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, der er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Todes des Gottlosen, spricht Gott, der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben. Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.“Liebe Gemeinde! Saure Trauben. War es ein „Killer-Gen“, das in Robert Steinhäuser für den mörderischen Sturmlauf von Erfurt verantwortlich zu machen ist? So fragte die „BILD“-Zeitung. „Des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“? Die Bibel erzählt: Vor 2500 Jahren hat Gott eine vertrauliche Unterhaltung mit dem Propheten Hesekiel. Es geht um die Fragen nach Verantwortung, Schuld und den Folgen der Schuld. „Ich war’s nicht!“ ruft das Schulkind empört, als die Lehrerin den Dauerredefluss unterbricht. „Ich war’s nicht!“ behauptet der Konfirmand, wenn er „erwischt“ wird. „Wir waren’s nicht“ haben ehemalige Soldaten gesagt, als die Greueltaten an der östlichen Zivilbevölkerung publik wurden. Scheinbar endlos ist die Sorge von Menschen, etwa „schuld“ zu sein und obendrein „ertappt“, „auf den Zahn gefühlt“ .. Stumpfe Zähne, aha – saure Trauben gegessen .. „Ich war’s nicht! Der Vater war’s!“ „So wahr ich lebe, spricht Gott, der HERR. Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben“. Das neue Denken klingt nicht verlockend. Was hat man denn davon, ehrlich zu sagen: „Ich war’s“? Warum soll man denn zugeben, dass die eigene Wehrmacht auch und manchmal zuerst Schreckliches getan hat, ehe dann die furchtbare Rache kam? Wenn man dann doch nur in die Sünderecke gestellt wird .. wenn dann die anderen Mitschuldigen fein raus sind und sich eines ins Fäustchen grinsen, dass man selber so blöd war, den Fehler, das Versagen, die Schuld zuzugeben? Und wenn wirklich unvorstellbares Leid einverwoben ist: Warum sollen wir als ehemalige Sudeten-Deutsche auf irgendein Recht und auf eine Entschuldigung verzichten, wenn doch die tschechische Seite zynisch über unseren Schmerz hinweggeht? Warum sollen wir uns mit der Schuld der Deutschen Wehrmacht befassen, wenn die Untaten der Roten Armee anscheinend ungesühnt bleiben oder gar gerechtfertigt werden? Warum, fragt sich der Selbstmordattentäter in Ramallah schon gar nicht mehr, soll ich israelische Soldaten oder Zivilisten unterscheiden? Und er fragt nicht mehr: Warum soll ich sie – ob Soldaten oder Zivilisten – als Menschen ansehen, als Mitmenschen? Und er fragt auch nicht mehr: Was gibt es für mich noch und anderes zu leben? Es klingt nicht gerade verlockend, was Hesekiel da von Gott „hört“, neu begreift als göttlichen „Einfall“ versteht. Aber es ist realistisch. Es ist die Beschreibung von Tatsächlichem. So geht es zu in der Welt. Sigmund Freud dachte über einen „Todestrieb“ im Menschen nach. Das Boulevard-Blatt spricht vom „Killer-Gen“. Manche Gläubige sprechen wieder vom Teufel. Nach 250 Jahren Aufklärung und moderner Naturwissenschaft, nach Psychoanalyse und moderner Bibelauslegung hält das Unfassbare wieder Einzug in unser Fühlen und Denken. Menschen fühlen ein Grauen vor Kräften, die sie nicht in den Griff kriegen. Strahlender Atommüll auf Jahrtausende, schleichende Vergiftung der Lebensgrundlagen, Weltbürgerkriegssituation spätestens seit dem 11.9.2001 und immer wieder kleine und größere Skandale im Lebensmittelbereich .. Menschen sind zugeschüttet mit schlechten Nachrichten, verängstigt und überfordert. „Was soll man denn da machen?“ „Da kann man doch nichts machen!“ „Und die da oben machen ja doch, was sie wollen“ „Und was immer sie machen – es ist für den Wahlkampf; es ist wegen der 18 % oder der Mehrheit; es ist Show; es ist Volksverdummung; es ist Selbstbedienung; es ist Narzissmus von Eitlen ..“. „Es ist vergeblich“ .. Was, lieber Hesekiel, der du uns so treffsicher auf unsere Ausflüchte hingewiesen hast, sollen uns deine Worte da helfen? Und wenn die Politiker noch deutlicher vom Herzen her sprächen. Wenn sie dem Volk ihre Ratlosigkeit sagen könnten. Wenn sie sagen könnten: Die Gesundheitskasse ist bald leer – die Lösung liegt wohl in einer Vereinfachung und einer Belastung aller betroffenen Patienten, Kunden, Ärzte und Kassen. Stellen wir uns vor: Niemand von den konkurrierenden Parteien würde das wahlkämpferisch ausnutzen; niemand würde sagen: Mit uns gibt es eine Lösung, die keinem weh tut .. Welch eine „absurde“ Idee? Stumpf sind unsere Zähne. Doch locken die süßen Trauben.
Bernd Vogel |
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