
Hesekiel 37,1-14
Pfingsten – Fest der Hoffnung! | Pfingstsonntag | 19. Mai 2024 | Hesekiel 37,1-14 | Gert-Axel Reuß |
Liebe Gemeinde,
Pfingsten ist so viel mehr als ein Frühlingsfest. Pfingsten ist das Fest der Hoffnung!
Ja, die Schönheit der Natur ist in dieser Jahreszeit geradezu überwältigend – das satte Grün der Bäume, die Blüten in leuchtenden Farben, das Zwitschern der Vögel – so dass negative Gefühle gar nicht erst aufkommen können. „Schmückt das Fest mit Maien“ – so haben wir gerade gebetet und gesungen (Psalm 118 – EG 135). Es ist eine Lust zu leben, und wir haben Grund, das Leben dankbar zu feiern.
Und ausgerechnet heute soll diese Predigt Wasser in den Wein kippen? Soll ich mit einem „Aber“ um die Ecke kommen, wie es der Predigttext nahelegt? Das geht doch nicht! Das kommt nicht nur schlecht an, es kann einfach nicht verstanden werden, wenn die Sonne wärmt und ihre Strahlen alle negativen Gedanken vertreiben.
Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen die Vision des Propheten Hesekiel überhaupt vorlesen kann an diesem Morgen. Nachdem ich mich dazu durchgerungen hatte – wie kann ich sie auf seine Worte einstimmen, vorbereiten?
Zuerst: Pfingsten ist so viel mehr als ein Frühlingsfest. Pfingsten ist das Fest der Hoffnung! Und diese Hoffnung ist so groß, dass sie alles Dunkle vertreiben will bis in den letzten Winkel unserer Gedanken und Gefühle, alles Dunkle vertreiben will aus dieser Welt. Aus der ganzen Welt. Und das geht nur, wenn wir uns diesen Gedanken und Gefühlen auch stellen. Wenn wir die Wirklichkeit wahrnehmen, wie sie ist – wie sie auch ist bzw. sein kann.
Ich habe deshalb zur Einstimmung das wunderbare Buch „Namen, die keiner mehr nennt“ von Marion Gräfin Dönhoff aus dem Regal genommen und noch einmal darin gelesen. Darin schildert die Journalistin, die als Redakteurin, als Chefredakteurin und später als Herausgeberin die Wochenzeitung DIE ZEIT wesentlich geprägt hat, ihre Flucht aus der ostpreußischen Heimat (1945). Aber nicht nur das. Die Beschreibung eines Ritts durch Masuren im Herbst 1941 ist ebenfalls Bestandteil dieses Buchs. „Golo Mann bezeichnete das Werk als „ein Buch der Erinnerung an das verlorene Land, an die Familie, an die Freunde aus verwandtem Kreis und ihr Schicksal. Ein Buch voller verschwiegener Trauer und unverschwiegener Liebe, aber ohne Bitterkeit […]““[1]
Während ich lese, entsteht vor meinem inneren Auge das Bild einer großartigen Landschaft, das Bild einer „heilen Welt“. Und man weiß doch zugleich, dass diese Welt nicht heil sein kann, wenn die Männer aus den Dörfern und Städten weitgehend verschwunden sind, weil der Zweite Weltkrieg tobt und bald auch über diese Menschen kommen wird mit seinem Leid und Schrecken.
Die Vision des Hesekiel verstehe ich als ein solches Erinnerungsbuch. Sie ist getragen von der Hoffnung, dass diese verwundete Welt heil werden kann – nein, heil werden wird! – nein, wenn Gott sie mit seinem Atem von neuem belebt. „Dieser Tag wird kommen!“ so träumt der Prophet. Und es drängt aus ihm heraus. Er muss davon erzählen. Damit wieder Hoffnung wachsen kann in den zerstörten Häusern und Straßen, einer verwüsteten Landschaft, die einmal das Land gewesen war, in dem Milch und Honig fließen.
Bevor ich die Vision des Propheten interpretiere – hören sie selbst.
Es könnte eine Hilfe sein, wenn Sie sich dabei einen Film vorstellen, der zurückgespult wird. Den Sie sozusagen von hinten nach vorn sehen.
[Textlesung Hesekiel 37, 1–14 – Ich werde den Text für das Vorlesen kürzen.]
Liebe Gemeinde,
es fällt mir schwer, das Gehörte nicht mit den Bildern der verwüsteten Städte Im Gaza-Streifen in Verbindung zu bringen – auch wenn manche jetzt stattdessen an den Krieg in der Ukraine denken werden (oder an die vielen kriegerischen Konflikte, die wir im Westen Europas nur am Rande zur Kenntnis nehmen). Ich möchte jetzt nicht das eine gegen das andere stellen – die Vision des Propheten bezieht sich zwar auf das Volk Gottes, auf das „ganze Haus Israel“, aber wir werden sie natürlich universal verstehen. Natürlich muss es ein Ende haben mit den Kriegen in aller (!) Welt.
Wenn ich mich jetzt trotzdem auf Israel und Gaza beziehe, dann möge auch dies „universal“ verstanden werden – als ein Beispiel, welches in seiner Zielrichtung die ganze Welt im Blick hat. Weil sich – so lese ich die Bibel – von Israel die Erlösung ausbreiten wird bis an die Enden der Erde.
Leider offenbart sich in dem Unglück, das am 7. Oktober 2023 über die Siedlungen im Süden Israels hereingebrochen ist, – ich spreche von dem terroristischen Akt palästinensischer Kämpfer, welche wehrlose Frauen, ja sogar Kinder ermordet haben und Geiseln genommen und verschleppt haben, ein Zustand der bis heute andauert, und ich spreche von den immer wieder neuen Wellen der Zerstörung der Städte Gazas durch die Bombardements der israelischen Armee, welche nicht nur die bewaffneten Kämpfer der Hamas sondern auch die Zivilbevölkerung trifft, – die ganze Ausweglosigkeit einer Politik der Härte.
Wenn ich stattdessen mit den Augen des Propheten Hesekiel das Rad der Geschichte zurückdrehen könnte, und die Häuser in Gaza würden wieder erstehen, die israelischen Soldatinnen und Soldaten würden sich mit ihren Panzern zurückziehen, die Geiseln kämen frei und die Toten wären wieder lebendig – soll es da gar keine Möglichkeit geben, dass wir Menschen die Sprache der Liebe lernten statt der Sprache der Gewalt? Dass wir Konflikte friedlich lösten und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft fänden?
Auch wenn mich der israelisch-palästinensische Krieg, der in vollem Gange ist, völlig ratlos zurücklässt – ich wünschte so sehr, dass es Grund gäbe für irgendeine Art von Hoffnung – entbindet uns dies ja nicht davon, einen Blick auch vor die eigene Haustür zu werfen. Unsere Probleme mögen klein sein in Bezug auf das, was anderswo Menschen erdulden und erleiden. Aber die Fragen sind am Ende ähnlich oder sogar die gleichen: Soll es denn gar keine Möglichkeit geben, dass wir Menschen die Sprache der Liebe lernten statt der Sprache der Gewalt? Dass wir Konflikte friedlich lösten und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft fänden?
Liebe Gemeinde,
ich lese in dem Buch von Marion Dönhoff und in mir wird eine Welt lebendig, die vor langer Zeit untergegangen ist. Vor einigen Jahren konnte ich selbst eine Reise nach Masuren unternehmen. Die Seen und Wälder – alles noch da. Von den Wunden, die der Krieg in die Natur schlug, ist nichts mehr zu sehen. Und es leben dort Menschen – vielleicht nicht die Nachfahren der Dönhoffs und Lehndorffs oder wie diejenigen geheißen haben mögen, die vor annähernd 80 Jahren von dort geflohen sind, fliehen mussten. Aber es leben dort Menschen, die uns mit Freundlichkeit empfangen.
Nicht alles ist geglückt im Zusammenwachsen Europas in den letzten drei Jahrzehnten, aber vieles ist doch gelungen, alte Feindschaften sind überwunden, neue Freundschaften geknüpft.
Das ist sicher nicht das Bild, das uns der Prophet Hesekiel malt. Seine Vision ist größer. Sie muss größer sein. Die ganze Welt wartet auf Erlösung! Aber es gibt Grund zur Hoffnung. Davon wollen wir uns auch nicht abbringen lassen durch das, was Menschen einander antun.
Die Welt wartet auf Erlösung. Und wir tun es auch. Aber einen hat es gegeben, der lebte unter uns und ist den Weg der Liebe gegangen: Jesus Christus. Sein Vorbild war nicht umsonst. Immer wieder hat sein Geist Menschen ergriffen, seinem Beispiel zu folgen – auch wenn es aussichtslos schien, auch wenn sie dafür mit dem Leben bezahlen mussten.
Die Welt wartet auf Erlösung. Und wir tun es auch. Aber ein Anfang ist gemacht. Und dieser Anfang lässt sich auch nicht mehr auslöschen. „Gott will seinen Odem in euch geben.“ predigte einst der Prophet Hesekiel. Gott gibt uns den Atem des Lebens und macht uns lebendig, immer wieder. Immer wieder neu.
Pfingsten ist das Fest der Hoffnung! Pfingsten ist Staunen über die Schönheit der Welt und Protest gegen Hass und Gewalt. Pfingsten ist Aufwachen aus allem, was uns bedrückt und niederhält, und entdecken, dass der Atem Gottes, dass der Geist Christi in uns ist und wirkt. Das lasst uns feiern und davon singen: „Freunde, dass der Mandelzweig, wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt (Schalom Ben Chorin).“[2]
Amen.
—
Gert-Axel Reuß
Domprobst
Domhof 35
23909 Ratzeburg
Mail: reuss@ratzeburgerdom.de
Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg
[1] Zitiert nach dem WIKIPEDIA-Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Marion_Gräfin_Dönhoff
[2] Ich schlage vor, das Lied Freunde, dass der Mandelzweig (Text: Schalom Ben Chorin, Melodie: Fritz Baltruweit) anzuschließen, das in vielen Regionalausgaben zum Evangelischen Gesangbuch abgedruckt ist (z.B. Bayern Nr. 659, Niedersachsen Nr. 620, Nordelbien Nr. 606).