Hiob 23, 1-7

· by predigten · in 11. So. n. Trinitatis, 18) Hiob / Job, Aktuelle (de), Altes Testament, Archiv, Beitragende, Bibel, Deutsch, Kapitel 23 / Chapter 23, Kasus, Predigten / Sermons, Thomas Bautz

11. So. n. Trinitatis | 31.08.2025 | Hiob 23, 1-7 | Thomas Bautz |

„ICH bins und keiner sonst: der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der den Frieden macht und  das Böse schafft, ICH bins, der all dies macht …“

Liebe Gemeinde!

Ijob – welch ein Werk der Weltliteratur,[1] wo der Protagonist Hiob, der leidende Gerechte, Gott, besser: einem weit verbreiteten Gottesbild mutig und deutlich entgegentritt, und zwar mit einer Vehemenz, die Bibellesern schockierend erscheint oder ihnen Bewunderung für die Gestalt des Hiob abringt. Die Erzählung beginnt mit einer „Wette“, auf die sich JHWH mit Satan (dem höchsten Engel des himmlischen Hofstaates)[2] einlässt, nachdem der Ewige den Hiob  als überaus gottesfürchtig und fromm vor Augen geführt hatte. Nun dürfe Satan aber Hiobs Glaubwürdigkeit austesten,[3] mit dem Argument, wohl gemerkt, im Auftrag JHWHs, denn der Ewige schafft Finsternis und das Böse:[4]

„Geschieht es ohne Grund, dass Hiob Gott fürchtet? Bist du es nicht, der ihn, sein Haus und all das Seine ringsum beschützt? Das Tun seiner Hände hast du gesegnet; sein Besitz hat sich weit im Land ausgebreitet. Aber streck nur deine Hand gegen ihn aus und rühr an all das, was sein ist; wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen“ (Ijob 1,9–11). Dann geschieht die Ungerechtigkeit: Hiob wird durch den Satan (als Exekutive JHWHs) zweimal hart und unmenschlich geprüft; er verliert seinen Besitz und die Kinder und wird von einer furchtbaren Krankheit befallen,[5] obwohl er sich nie etwas hat zu Schulden kommen lassen. Darauf reagiert Hiob heftig, verteidigt seine Unschuld und vermag es sogar, JHWH herauszufordern und anzuklagen, bis hin zu den „massiven Vorwürfen“, die Hiob in Ijob 6–7 u.  9–10  „Gott entgegen schleudert“.[6] Die Klage, die wir heute vernehmen, ist im Vergleich harmlos:

„Auch heute ist meine Klage Widerspruch; / schwer lastet seine Hand auf meinem Seufzen.“

„Mein Fuß hielt fest an seiner Spur, / seinen Weg hielt ich ein und bog nicht ab. / Das Gebot seiner Lippen gab ich nicht auf; / seines Mundes Worte barg ich im Herzen. / Doch er bleibt sich gleich. Wer stimmt ihn um? / Wonach ihn gelüstet, das führt er aus. Ja, er vollendet, was er mir bestimmt hat, / und Ähnliches hat er noch viel im Sinn.“ (Ijob 23,11–14)

„Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht; / denk ich daran, gerate ich in Angst vor ihm. / Gott macht mein Herz verzagt, / der Allmächtige versetzt mich in Schrecken. / Denn bin ich nicht von Finsternis umschlossen, / bedeckt nicht Dunkel mein Angesicht?“ (Ijob 23,15–17)

Es geht wesentlich um sechs Gedankengänge im Buch Ijob: Erstens: Warum muss der Gerechte leiden? Zweitens: Gibt es einen gerechten Gott? Drittens: Darf man vom Unglück wie Verlust des Eigentums, Wegsterben der Kinder und schwerer, unsäglicher Krankheit, die einen Menschen befallen, auf dessen Frömmigkeit oder Gottvertrauen schließen? Leiden als eine zeitlich befristete Strafe Gottes für eigene Schuld, ungerechtes Verhalten behandeln (Tun-Ergehen-Zusammenhang)? Viertens: Gott schafft jederzeit gerechten Ausgleich. Fünftens: Im Leiden bedarf es der Umkehr (Buße) und des Vertrauens auf Gottes erneute Zuwendung.[7] Sechstens: Der billige oder auch geistreiche Trost, den Besserwisser, mitunter sogar Freunde, meinen spenden zu können.

Es sind meist tradierte Floskeln, die einem Leidenden wie Hiob oder auch Todkranken, Sterbenden mitten im Leben, unverhofft begegnen; dann ergeht es Menschen wie der Figur des Hiob.[8] Er leidet schuldlos, verliert Haus und Hof, seine zehn Kinder sterben, er wird von einer schrecklichen, sehr schmerzhaften Krankheit befallen. Seine „Freunde“ wollen ihn trösten[9] – als Leser mag man deren Glaubwürdigkeit bezweifeln –, bedienen sich aber eines typischen Gedankenspiels, nämlich der Vorstellung eines scheinbar fromm konstruierten „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“.[10]

Leiden, Krankheit, Verlust des Eigentums werden in der hebräischen Bibel, im Alten Orient[11] und z.T. noch im Neuen Testament „überwiegend als Strafe für Sünde gesehen“.[12] Ein berühmtes Beispiel ist die Erzählung im JohEv über die Begegnung mit einem Blindgeborenen (Joh 9,1–2), wobei nicht nur die Ausgangsfrage vergleichbar[13] ist: „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?“ Der Nazarener durchbricht das verbreitete Denken: „Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (Joh 9,3). Dann lässt er den Blinden sehen (er war nicht krank!!).

Dieses Verhalten der Jünger ist besonders infam, weil doch niemand seine Geburt beeinflussen kann, und von den Möglichkeiten einer pränatalen Diagnostik und den provozierenden, bangen Fragen wusste man damals natürlich nichts: „Möchten wir ein behindertes Kind zur Welt bringen?“ Wie gut, dass heutzutage behinderte Kinder relativ chancengerecht aufwachsen können und entsprechend für eine Ausbildung gefördert werden. Behinderte Menschen sind in der Gesellschaft meist akzeptiert.

Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird im Hiobbuch insofern ähnlich konstruiert (wie in Joh 9,1–2 ) als dort die sog. Freunde Hiobs permanent „argumentieren“, Hiob könne keinesfalls gerecht oder ohne Sünde sein; in Joh 9 (es lohnt sich, die ganze Geschichte zu lesen) sind es die Pharisäer, die „darauf herumreiten“, sowohl der Blindgeborene wie (vor allem) auch Jesus müssten Sünder sein: „Wir wissen, dass Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er …; (der Blinde:) Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiss nichts ausrichten können.“ „Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus“ (Joh 9,31.33–34).

Ich finde diese Qualifizierung eines Menschen als „in Sünden geboren“ Menschen verachtend; sie fußt auf fragwürdiger Dogmatik, die lieblos Kategorien schafft, Schubladen öffnet und Menschen mit Wertmarken versieht und entsprechend einteilt: sündig vs. gerecht, gottlos vs. fromm. Dabei werden  Begriffe selten reflektiert. „Kategorie“ heißt altgriech. u.a. Anklage; „Sünde“ meint hebr. u. griech. Zielverfehlung (wie der Pfeil eines Bogenschützen); „gottlos“ – dazu humorvoll: „So schnell wird man Ihn nicht los!“ Es zeugt auch von einem falschen Gottesbild, es sei denn, man unterstellt, dass Gott den Menschen bewusst fehlerhaft, unzureichend, unvollkommen, sozusagen behindert schuf. Damit würde auch die imago-Dei-Vorstellung, der Mensch als „Ebenbild“ Gottes, kollidieren.

Ich denke, eines der Hauptmotive dafür, dass man mit dem (frommen oder moralischen) Finger auf Mitmenschen zeigt, ist schlicht der Neid. Ausgehend von der Geschichte Hiobs, wo der Satan Gott dazu verleitet, Hiobs Glaubwürdigkeit auf das Äußerste herauszufordern, zu prüfen, zu testen – bis ins Unerträgliche und Unzumutbare –, frage ich zum ersten Mal nach dem Motiv Satans. Aus purem Neid ersinnt er diese Intrige gegen Hiob, denn dessen Leben war bislang mit Reichtum, Nachkommen und Gesundheit gesegnet. Hingegen hat er, der im Götterrat einst saß und dann verstoßen wurde, alles verloren. Ausgehend von zwei prophetischen Aussagen: eine über den König von Tyrus (Ez 28), eine andere über den König von Babel (Jes 14,12–15), möchte ich diese These untermauern:[14]

„So spricht Adonai JHWH: Dein Herz war stolz und du sagtest: Ich bin ein Gott, einen Wohnsitz für Götter bewohne ich mitten im Meer. Doch du bist nur ein Mensch und kein Gott, obwohl du im Herzen geglaubt hast, dass du wie Gott bist. Durch deine gewaltige Weisheit, durch deinen Handel / hast du deinen Reichtum vermehrt. Doch dein Herz wurde stolz / wegen all deines Reichtums. Weil du im Herzen geglaubt hast, / dass du wie Gott bist, darum schicke ich Fremde gegen dich, / … Sie zücken das Schwert gegen all deine prächtige Weisheit, / entweihen deinen strahlenden Glanz.“

So spricht Adonai JHWH: Du warst ein vollendet gestaltetes Siegel, / voll Weisheit und vollkommener Schönheit. Im Garten Gottes, in Eden, bist du gewesen. / Allerlei kostbare Steine umgaben dich … Einem Cherub mit ausgebreiteten, schützenden Flügeln gesellte ich dich bei. / Auf dem heiligen Berg der Götter bist du gewesen. / Zwischen den feurigen Steinen gingst du umher. Ohne Tadel war dein Verhalten / seit dem Tag, an dem man dich schuf, / bis zu dem Tag, an dem du Böses getan hast. Durch deinen ausgedehnten Handel / warst du erfüllt von Gewalttat, / in Sünde bist du gefallen. Darum habe ich dich vom Berg der Götter verstoßen, / aus der Mitte der feurigen Steine / hat dich der schützende Cherub verjagt.  Hochmütig warst du geworden, / weil du so schön warst. Du hast deine Weisheit vernichtet, / verblendet vom strahlenden Glanz. Ich stieß dich auf die Erde hinab.

Ach, du bist vom Himmel gefallen, / du strahlender Sohn der Morgenröte. Zu Boden bist du geschmettert, / Du aber hattest in deinem Herzen gedacht: / Ich ersteige den Himmel; dort oben stelle ich meinen Thron auf, / über den Sternen Gottes; auf den Berg der (Götter-)versammlung setze ich mich, / im äußersten Norden. Ich steige weit über die Wolken hinauf, / um dem Höchsten zu gleichen. Doch in die Unterwelt wirst du hinab geworfen, / in die äußerste Tiefe.

Der Satan konnte den Verlust seines Reichtums und der Macht nicht ertragen, ebenso wenig den buchstäblichen Abstieg, den Fall ins Bodenlose, der Grube gleich, die auf den Menschen wartet. Er, mit Kompetenz und Würde, mit Glanz und Weisheit ausgestattet, wird zum Verachteten und zum Bedeutungslosen. Daher wird er neidisch auf ein Menschenwesen, ein Menschlein, auf Hiob, der einfach ein gesegnetes Leben in Fülle leben darf, weil JHWH es ihm schenkt. Satans überhebliche Sichtweise sagt ihm, dass man Hiob nur wegnehmen müsse, was er hat; dann würde er sich schon von seinem Glauben und seiner Gottesfurcht verabschieden!

Die Rechnung Satans geht aber nicht auf: Hiob sieht sich zunächst gezwungen, Gott weiterhin zu vertrauen und sich seiner Macht oder Majestät unterzuordnen: „Bei alldem sündigte Hiob nicht und äußerte nichts Ungehöriges gegen Gott“ (Ijob 1,22). „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen? Bei all dem sündigte Ijob nicht mit seinen Lippen“ (Ijob 2,10).

Dabei blieb es natürlich nicht. Es wurde bereits angedeutet, dass es Hiob nicht versteht, dass sich der Gott, der ihn erschaffen und im Leben so reich beschenkt hat, plötzlich gegen ihn stellt, ihn entblößt, ihn quält, ihm alles nimmt, was ihm lieb und wert gewesen ist. So fragt er sich auch: „Ist es umsonst,  חנמ, dass ich gottesfürchtig bin?“[15] Für das Wort חנמ bietet sich eine Fülle von Vorkommen mit zum Teil verschiedenen Bedeutungen.[16] Im Munde Satans hat das Wort eher einen geschäftlichen Aspekt, etwa im Sinne von „ohne Lohn“, „ohne Entschädigung“. Bei Hiob hingegen meint es etwa „ ohne Grund“, „unverdient“, aber auch „vergeblich“ oder „sinnlos“. Wegen der Zweideutigkeit des Wortes im Hebräischen behält man die Übersetzung meist mit „umsonst“ bei.[17]

Wenn ich Hiobs Mark erschütterndes Schreien höre, nachdem er seinen Besitz verloren, vor allem aber seine Kinder dahin gerafft waren, er mit einer denkbar schlimmsten Krankheit befallen  wurde, empfinde ich sein verbliebenes Leben als sinnlos. Das bestätigt Hiobs Empfinden (Ijob 3,1.3.11.13.26):

Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte den Tag seiner Geburt: Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin … Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, / kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich? Still läge ich jetzt und könnte rasten, / entschlafen wäre ich und hätte Ruhe … Noch hatte ich nicht Frieden, nicht Rast, nicht Ruhe, / fiel neues Ungemach mich an.

Hiob sieht sich dann angesichts der Anklagen seiner Freunde (in Wahrheit: Besserwisser) genötigt, mit Vehemenz seine Klagen, auch gegenüber JHWH, laut und konsequent herausschreien. Seinem Wortlaut lässt sich entnehmen, dass er nicht einfach sein „Schicksal“ bejammert, sondern dass ihm mit vollen Recht sein Aufbegehren gebührt. Ich fürchte, dass wir heute das Klagen verlernt haben; stattdessen beteuern wir:  „Ach, ich will nicht klagen!“ „Ich will nicht jammern, es hilft doch ohnehin nichts!“ Wir möchten meist noch als stark, robust, mindestens als tapfer gelten, angepasst an eine nur scheinbar widerstandsfähige Mitwelt, die uns mit Floskeln abspeist. Hiob aber klagt – und wir?

Ach, würde doch mein Gram gewogen, / legte man auf die Waage auch mein Leid! Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, / mein Geist hat ihr Gift getrunken, / Gottes Schrecken stellen sich gegen mich. Und wollte Gott mich doch zermalmen … Was ist meine Kraft, dass ich aushalten könnte, / wann kommt mein Ende, dass ich mich gedulde? Ist meine Kraft denn Felsenkraft, / ist mein Fleisch denn aus Erz? Gibt es keine Hilfe mehr für mich, / ist mir jede Rettung entschwunden? (Ich selbst vermag mir nicht zu helfen und Rettung ist fern von mir!) (Ijob 6,2.4.9.11–13)

Mein Leib ist gekleidet in Maden und Schorf – Satan schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel, und Hiob nahm sich eine Scherbe, um sich damit zu schaben; Ijob 2,7 –, meine Haut schrumpft und eitert. Bedenke, mein Leben ist ein Hauch, nie wieder wird mein Auge Gutes sehen. So wehre ich nicht meinem Mund, / mit bedrängtem Geist will ich reden, / mit betrübter Seele will ich klagen. (Darum will auch ich meinen Mund nicht zügeln, will reden in der Not meines Herzens, will klagen im bitteren Leid meiner Seele.) Ich mag nicht mehr. Ich will nicht ewig leben. / Lass ab von mir; denn nur ein Hauch sind meine Tage. Was ist der Mensch, dass du groß ihn achtest / und deinen Sinn auf ihn richtest, dass du ihn musterst jeden Morgen, / jeden Augenblick ihn prüfst? Hab ich gefehlt? / Was tat ich dir, du Menschenwächter? / Warum stellst du mich vor dich als Zielscheibe hin? / Bin ich dir denn zur Last geworden? (Ijob 7,5.7.11.16–18.20).

In Folge erkennt Hiob, wie er JHWH gegenüber in eine Zwickmühle gerät: Er weiß, dass er unschuldig ist; andererseits ist ihm klar, dass er sich vor Gott nicht rechtfertigen kann, weil dieser übermächtig ist und im Grunde willkürlich handelt (Ijob 9,2.12.14–15.20.22; 10,6–7):

Wahrhaftig weiß ich, dass es so ist: / Wie wäre ein Mensch bei Gott im Recht! Rafft er hinweg, wer hält ihn zurück? / Wer darf zu ihm sagen: Was tust du da? Wie sollte denn ich ihm entgegnen, / wie meine Worte gegen ihn wählen? Auch wenn ich im Recht bin, meine Worte setzen mich ins Unrecht. Schuldlos bin ich, er aber hat mich schuldig gesprochen. Es ist alles eins! Den Schuldlosen wie den  Schuldigen bringt er um. … Du suchst nach meiner Schuld und forschst nach meiner Sünde. Doch du weißt, dass ich nicht schuldig bin, dass aber niemand retten kann aus deiner Hand.

Das Hiobbuch zählt zu den Weisheitsschriften; der größte Teil enthält hebräische Poesie, Sprache des Menschengeschlechts (Herder; W. v. Humboldt). Der Prolog erzählt vom unsäglichen, vielfältigen Leiden Hiobs, das von Verlust, schwerer Krankheit und Tod gezeichnet ist. Hiob versucht dann, seine Unschuld zu beweisen und verstrickt sich dabei in Streitgesprächen mit sog. Freunden, Besserwissern, die um die Fragen kreisen, ob Hiob unschuldig leidet, ob JHWH gerecht sei. Das scheinbar glückliche Ende: Hiob wird gerechtfertigt und reichlich belohnt, vermag die erlittenen Qualen des Leids nicht zu schmälern oder gar zu nivellieren.[18] Das mag bedrückend sein, aber das Leiden und damit auch die Klage haben sogar eine eigene, poetische Sprache entwickelt, müssen zu ihrem Recht kommen.[19]

Die Rückerstattung der Verluste und die Entschädigung für das Erlittene wirken wie ein „Kalkül berechnender Religiosität“[20] oder Moral. Mitfühlende Leser vergessen nicht die berechtigte Klage Hiobs (Ijob 16,6): „Rede ich, hört doch mein Schmerz nicht auf, schweige ich, so weicht er nicht von mir.“ Das Hiobbuch ist ein großartiges literarisches Zeugnis für die Ohnmacht eines unschuldig Leidenden im Angesicht einer willkürlich waltenden Gottheit (cf. Ijob 9).

Als literarisches Gegenstück möchte ich an eine Erzählung aus dem Buch Genesis (Gen 32) erinnern, die in der jüdischen wie auch christlichen Tradition sehr wichtig geworden ist: Jakobs Kampf am Fluss Jabbok: da rang einer (ein Mann?) mit ihm, bis die Morgenröte heraufzog. Und er sah, dass er ihn nicht bezwingen konnte. Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gesiegt. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn. Jakob nannte den Ort Peniel (Gottes Angesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und habe doch überlebt[21] (32,25–31).

Beide Erzählungen, das Leiden des Gerechten und der kämpfende, siegende Jakob (Israel),[22] sind sicher keine Biographien, aber sehr lehrreich für uns.

Im Hiobbuch wird uns gezeigt, dass Fragen nach für uns unerklärlichem Leid nicht auf (einen) Gott zurückzuführen sind; Diskussionen und Grübeleien darüber sind letztlich sinnlos, vergeblich. Vor Versuchen, geschehenes Unglück, plagende Krankheit, schmerzlichen Verlust im Leben einer Frau oder eines Mannes auf deren oder dessen Verhalten zu beziehen, ist zu  warnen.

Es ist gut, wenn solche Vorstellungen bei uns Wut und Zorn auslösen, weil wir weder unseren Schmerz als Strafe (wofür überhaupt?) noch „Gott“ als Urheber betrachten wollen oder können! Ich habe aber Menschen kennengelernt, die noch unter solchen Gedanken leiden und entsprechend schnell ein schlechtes Gewissen bekommen. Wenn wir ihnen begegnen, lasst uns ihnen behutsam, einfühlsam helfen, wo wir es vermögen!

Aber mit „Gott“ ringen, Ihn gar bezwingen? Wie soll das möglich sein? Mir fällt auf, dass wir fast immer nur von „Gott“ reden und gar nicht merken, dass wir von Gottesbildern, von Vorstellungen über Gott sprechen. Erziehung in der Familie (eher früher als heute noch), kirchlicher Unterricht, Bibellektüre, liturgische Texte usw. haben unsere Phantasie genährt; Gottesbilder haben wir ohne nachzudenken einfach übernommen. Es kann befreiend sein, manche zu entlarven und sie durch gründliche Reflexion zu überwinden. Mögen wir diese Götter besiegen und offen werden für den Ewigen, den Unaussprechlichen, JHWH – gelobt sei Sein Name. Amen.


Pfarrer Thomas Bautz
(„im Unruhestand“)
Bonn
bautzprivat@gmx.de

Fussnoten:

[1] S. https://de.wikipedia.org/wiki/Ijob. Bereits ein Artikel der TRE bietet eine enorme Bibliographie: TRE 15 (1986), Art. Hiob/ Hiobbuch (Jürgen Ebach), 360–380: Literatur, 373–380.

[2] Götter- oder Gottessöhne; https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/goettersoehne Satan (Teil des Hofrates unter den Göttersöhnen) als mythologische Figur, bezogen auf den historischen König von Tyrus, beide mit Reichtum, Macht, Weisheit gesegnet (Ez 28), aber überaus hochmütig und narzistisch, so dass JHWH sie verstieß und buchstäblich fallen ließ; cf. Jes 14,12–15.

[3] Man kann es auch als eine Intrige gegen Hiob  betrachten!

[4] Übersetzung aus der BHS: https://www.die-bibel.de/bibel/BHS/ISA.45 (V. 7).

[5] Ijob 1,12–2,8 (die zweite Prüfung Hiobs hat den gleichen Vorspann wie die erste).

[6] Zürcher Bibel (2007): Das Buch Hiob, 669ff: 670; Hiob 6–7 (S. 676–678); 9–10  (S. 679–681); dies ist nur eine Auswahl; Vergleiche finden sich in etwa bei Klagepsalmen, Krankengebeten (z.T. z.B. Ps 13; 38) und bei Kohelet (Koh 9,1–3).

[7] Cf. Markus Witte: Hiob /Hiobbuch, wibilex (2007), pdf-Datei, S. 4.

[8] S. https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/hiob-hiobbuch.

[9] S. TRE 15 (1986), Art. Hiob/ Hiobbuch (Jürgen Ebach), 361–362.

[10] Horst Dietrich Preuß/ Klaus Berger: Bibelkunde des Alten und Neuen Testaments. 1. Teil: AT (1980): Das Buch Hiob (123–129): (E.) Themen (1.) Leiden, 127–128 (Tun-Ergehen-Zusammenhang); im AT sehr verbreitet; s. https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/tun-ergehen-zusammenhang. Bibelkunde des Alten Testaments (1980): Das Buch der Sprüche (138–146): (C.) Inhalt, 140–143: Tun-Ergehen-Zusammenhang als „weisheitliche Grundüberzeugung“ (S. 141).

[11] S. Meik Gerhards: Gott und das Leiden. Antworten der babylonischen Dichtung Ludlul bēl nēmeqi und des biblischen Hiobbuches, BEAT 60 (2017).

[12] Bibelkunde des Alten Testaments (1980), 127.

[13] Anders: Bibelkunde des Alten Testaments (1980), 128.

[14] Zur modernen Anwendung des Sujets, s. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal/ Die Blumen des Bösen. GA mit sämtlichen Gedichten u. einem Anhang (1975; 1980): Révolte (350–363): Die Satans-Litaneien, 358–363; französisch u. deutsch mit Endreimen. Relevant sind die ersten drei Zweizeiler (jeweils unterbrochen von einem Einzeiler als Refrain): „Du, der du aller Engel schönster, klügster Geist, / Gott, den das Los verriet und welchen niemand preist, // O Satan, sei mir gnädig in meiner Not! // O Fürst in der Verbannung, dem man Unrecht tat, / Und der, besiegt, sich stärker noch erhoben hat, // Allwissender, der alles Verborgene durchschaut, Du großer König, Heiler, dem Menschenangst vertraut, …“. Man möchte meinen: eine Umkehrung des Prologs bei Ijob!

[15] Jürgen Ebach: „Ist es ‚umsonst’, daß Hiob gottesfürchtig ist?“ Lexikographische und methodologische Marginalien zu חנמ in Hi 1,9 – J. Ebach: Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese (1995), 15–31.

[16] S. die Liste bei J. Ebach (1995), 31.

[17] Infrage kommt aber ein weites Bedeutungsspektrum, das Ebach jeweils mit griechischen und lateinischen Begriffen wiedergibt; s. wiederum die Liste bei Ebach (1995), 31: frustra – vergeblich, vergebens, umsonst, nutzlos; gratuito – unentgeltlich, ohne Bezahlung, kostenlos, umsonst;  holocausta – als Opfer (!); innoxium – unschuldig, schuldlos; absque culpa – frei von Schuld; in der LXX meist mit δωρεάν (gratis, umsonst) übersetzt.

[18] Der Epilog wurde dem Ganzen des Hiobbuches später hinzugefügt; er nimmt auch der Erzählung inhaltlich ihre Brisanz und Schärfe; cf. Witte: Hiob /Hiobbuch, wibilex (2007), pdf-Datei, S. 10; Witte sieht allerdings auch den Prolog als sekundär an.

[19] Zur „poetischen Produktivität des Leidens“, Wolfgang Braungart: Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ‚Duineser Elegien‘, in: Norbert Fischer (Hg.): ‚Gott‘ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes (2014), 257–296: „Leiden und Not fordern unseren Selbstbezug und unsere Selbstreflexion heraus, nicht Glück und Gelingen“, 277 (mit Verweis auf Hiob).

[20] Gerd Theobald: Hiobs Botschaft: Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee (1993), 83f.

[21] Manche Bibelausgaben betiteln das Kap. Gen 32 vorwegnehmend „Jakobs Kampf mit Gott“.

[22] Herkunft und Bedeutung des Namens sind umstritten: https://de.wikipedia.org/wiki/Israel_(Name).