Jesaja 50,3–9

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Der Müdigkeit ein Ende gemacht | Palmarum | 13.04.2025 | Jesaja 50,3–9 | Rudolf Rengstorf |

Liebe Leserin, lieber Leser!

Palmarum heißt dieser Sonntag. Für mich weckt dieses Wort Bilder von geschmückten Häusern und Kirchen und einem aufregenden Fest, auf das wir uns schon so lange gefreut hatten. Palmarum – das klingt für mich nach Glockengeläut mit Posaunen und dem fröhlichen Lachen von Eltern und Verwandten. Zu meiner Jugendzeit war das der traditionelle Konfirmationssonntag. Und Größeres, Eindrucksvolleres hatte ich bis dahin nicht erlebt.

Zu den positiven Bildern und Gefühlen, die Palmarum bei mir weckt, passt auch das Evangelium dieses Tages. Von einer großen Volksmenge – so heißt es beim Evangelisten Johannes – ist Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem als der König Israels begeistert und bejubelt worden. Doch sein Weg in diese Stadt – das war Jesus nach allen vier Evangelisten völlig klar – würde nicht zur Königsproklamation, sondern zum Tod am Kreuz führen. Was in aller Welt hat ihn dazu gebracht, sich dem aus freien Stücken auszusetzen?

Es ist anzunehmen, dass die Bibelstelle, über die heute gepredigt werden soll, für seinen bewusst gewählten Weg in Leiden und Tod eine aufschlussreiche Rolle gespielt hat. Sie steht im 50. Kapitel des Jesajabuches:

Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Um ein Lied handelt es sich hier, ein Lied, das mit ähnlichen Liedern in der Zeit entstanden war, als das Volk Israel sich in der babylonischen Gefangenschaft befand. Zu Jesu Zeiten lag das mehr als 500 Jahre zurück. Lieder, die von einem Gottesknecht singen, der um seiner Mitmenschen willen Leiden und Tod auf sich nimmt und darin von Gott gehalten und bestätigt wird. Niemand weiß, an welche Person die Menschen damals im Exil bei diesen Liedern gedacht haben. Und es gibt auch keine Gestalt des Alten Testamentes oder der jüdischen Geschichte, zu der diese Lieder gepasst hätten. Es sei denn, dass das Volk der Juden im Ganzen, das ja immer von neuem verfolgt und gedemütigt wurde, sich in diesem geheimnisvollen Gottesknecht wieder erkannte. Und so sind diese Lieder von Generation zu Generation weiter überliefert und in Ehren gehalten worden. Bis dieser eine da war, Jesus, der diese Lieder als Gottes Auftrag an sich verstand und diesen Auftrag annahm.

Gehen wir dieses Lied noch einmal durch auf dem Hintergrund dessen, was wir vom Wirken und Ergehen Jesu wissen:

Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.

Als Jünger wird Jesus in den Evangelien nie bezeichnet, und er selber nennt sich auch nicht so. Er versteht sich als der Sohn, der Gott noch nähersteht, als ein Jünger seinem Meister nahesteht. Aber genau wie ein Jünger, der sich jedes Wort des Meisters einprägt, um es zuverlässig weitergeben zu können, genauso wichtig war es Jesus, sich regelmáßig in die Stille zurückzuziehen und im Gebet genau zu hören und aufzunehmen, was Gott von ihm wollte. Denn kein Mensch kann von sich aus immer wissen, was Gott will. Kein Prophet, kein Apostel, kein Bischof, kein Vater, keine Mutter hat immer drauf, was Gott will. Auch Jesus nicht. Gewiss, wir haben die Gebote, wir haben die Bergpredigt, aber was das heute und hier heißt, da muss sehr genau hingehört und nachgedacht werden. Bis in seine letzten Stunden hinein lebte Jesus davon, nach dem Willen Gottes zu fragen und auf ihn zu hören. Um es dann mit der eigenen Zunge, mit seinen Worten weiterzugeben, was ihm von Gott her gewiss geworden war.

Und in der Tat, das war schon eine ganz besondere Zunge, eine ganz besondere Sprachfähigkeit, über die er verfügte. Bis heute können die Worte Jesu, die seine Jünger weitergegeben haben, Menschen im Innersten ansprechen und bewegen. Kein Wunder, dass die Menschen damals in Scharen zusammenliefen, um ihn zu hören. Doch das allein war es noch nicht, was ihn in der Überzeugung bestätigte, wirklich das Sprachrohr Gottes zu sein. Denn w i e er seine Zunge braucht, daran ist der Jünger Gottes zu erkennen: nämlich „mit den Müden zur rechten Zeit zu reden“. Der Jünger Gottes stimmt nicht ein in das allgemeine Lamentieren und Klagen, das Müdigkeit und Resignation nur verstärkt. Nein, Gottes Wort und Wille wird durch Menschen lebendig, die die Müden und Resignierten auf die Beine bringen, die trösten, ermutigen und neue Lebensperspektiven eröffnen. Und darin war Jesus nicht nur Meister, sondern im wahrsten Sinne die Verkörperung des Gottesknechts, den dieses alte Lied besingt.

Und weiter:

Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden

Gottes Wort und Wille wollen dem Härtetest ausgesetzt werden. Das wusste Jesus aus diesen Liedern seiner Bibel. Und darum ließ er sich nicht halten in den kleinen Provinznestern um den See Genezareth. Darum zog es ihn nach Jerusalem. Dorthin, wo politische Macht konzentriert war. Da ist das Wort Gottes immer ein Störfaktor. Deshalb neigen die Herren dieser Welt dazu, Gottes Wort und Willen weich zu spülen als ungültig für Wirtschaft und Politik. Und die Menschen, die da oben Gottes Wort zu vertreten haben, sind froh, wenn ihrer Sache, wenn Glauben und Kirche, und natürlich auch der eigenen Person, wenigstens etwas Bedeutung zugemessen wird.

Hier aber hat einer gehört: Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dass man ihn dafür zum Aufrührer abstempelte oder als Spinner verachtete, das nahm er in Kauf. Nicht wegzulaufen, standzuhalten, Festigkeit und Charakter zu zeigen, darauf kams ihm an. Weil Gott kein Schwächling ist. Der leidende Jesus wird ja gerne als Opferlamm dargestellt und besungen. Das ist insofern auch berechtigt, als er auf gewaltsame Gegenwehr verzichtet hat. Aber im Leiden hat er über eine innere Widerstandskraft verfügt, die seine Gegner auf die Palme gebracht und nichts zu tun hat mit Lammfrommheit, sondern damit, dass einer bis zum Letzten für Gott einstand und nur damit Ostern überhaupt möglich machte. Von daher wäre es gut und heilsam, wenn neben Paul Gerhardts „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ auch etwas wie „Der Held aus Juda siegt mit Macht“ aus Bachs Johannespassion unter den Passionsliedern zu finden wäre.

Und schließlich:

Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Davon war er überzeugt. Ich stehe für ein Recht, das nicht aus mir selbst kommt. Das nichts zu tun hat mit dem, was ich mir erarbeitet oder verdient habe. Ich stehe für ein Recht, das nicht nach menschlichem Ermessen zugesprochen oder versagt wird. Ich stehe für ein Recht, das durch keine irdische Macht und keine höchstrichterliche Instanz in Frage gestellt werden kann. Auch wenn ich nackt und entehrt euren Blicken preisgegeben bin: Was euch mir gegenüber groß macht, verrotten wird es. Kein Hahn wird mehr danach krähen. Ich aber lebe davon und bin auch über den Tod hinaus davon gehalten, dass Gott mir Recht gibt mit meinem Vertrauen auf ihn. Er wird mich nicht fallen lassen.

Jochen Klepper hat auch in unserer Sprache ein Lied auf den Jesajatext gemacht: „Er weckt mich alle Morgen“. Wer dieses Lied mitsingt, tritt ein in die Geschichte des Gottesknechtes, der dieses Lied von Anfang bis Ende bewahrheitet hat. Amen.


Rudolf Rengstorf