
Jesaja 50,4–9
Ein Lied vom Hören und Widerstehen | Palmsonntag | 13.04.2025 | Jesaja 50,4–9 | Christoph Kock |
I. Aufstehen oder liegenbleiben?[1]
Ich bin so knallvergnügt erwacht. / Ich klatsche meine Hüften. / Das Wasser lockt. Die Seife lacht. / Es dürstet mich nach Lüften.[2] Wie sind Sie heute Morgen aufgewacht? Knallvergnügt, voller Lebenslust und Lebensdurst, wie Sie es gerade in Versen von Joachim Ringelnatz gehört haben – oder eher so gestimmt, wie es in einem Lied der Band Karat anklingt: Manchmal bin ich schon am Morgen müd. Manchmal such ich Trost in einem Lied?[3]
Heraus aus den Federn oder das Kissen über den Kopf. Klar kommt es darauf an, wie und wann ich gestern ins Bett gekommen bin. Aber noch mehr, wie sich das Leben gerade anfühlt: leicht und beschwingt, so dass ich die „Morgenwonne“ genießen kann – oder doch eher mühsam. Weil sich eine bleierne Decke aufs Leben legt – wie dunkle Jahre, die überstanden werden müssen. Persönlich ebenso wie politisch.
Diktatoren haben den Klimawandel zur Lüge erklärt. Und doch wird jedes Jahr wärmer als das vorangegangene. Unwetter häufen sich. Vereinbarte Ziele, die Erderwärmung zu begrenzen, bleiben auf der Strecke. Menschen fühlen sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, das zu ändern, und dem Verdacht, dass das nicht zu schaffen ist. Sie stecken fest zwischen Engagement und Gleichgültigkeit und sind frustriert.
Die damit verbundenen Konflikte stoßen auf öffentliches Interesse. Andere Herausforderungen werden kaum wahrgenommen. Etwa wie mühsam das Älterwerden ist. Die Kreise werden kleiner. Trotz Rollator. Alles dauert länger. An der Kasse, zum Beispiel. Die Ware wegräumen. Das Geld bereithalten. Schön, dass die nette Kassiererin die passenden Münzen aus dem Portemonnaie kramt. Aber der nächste Kunde guckt schon böse und wippt mit dem Fuß.
Hellwach oder schon am Morgen müde. Manchmal beides gleichzeitig. Im Jesajabuch redet einer, der das kennt: Wachsein am Morgen fürs Hören und Wahrnehmen, worum es heute geht. Und zugleich das Müdesein, weil das Leben mühsam und widerständig ist.
II. Ein Morgenlied
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.
Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet.
Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?
Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.
Nein, knallvergnügt klingt das nicht. Ein anderer Ton durchzieht dieses Gedicht. Es zählt, zusammen mit drei anderen Abschnitten aus dem Jesajabuch, zu den „Gottesknechtsliedern“. Es ist ein Morgenlied vom Hören und Reden, Widerstehen und Hoffen.
III. Aufgeweckt
Das Lied beginnt. Mit einem, der hinhört. Auf das, was Gott sagt. Am Morgen. Wenn die Sinne aufmerksam sind, vor dem Lärm und den Aufgaben des Tages.
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Einer stellt sich vor, dass er wie ein Schüler ist, der bei Gott selbst in die Schule geht. Erste Stunde: Hinhören. Es beginnt mit geöffneten Ohren. Gott sorgt fürs Zuhören. Das leuchtet mir ein. Die Bibel liegt aufgeschlagen vor mir. Gottes Wort hören, weil Gott mich dazu befähigt, jeden Morgen aufs Neue. Und dann die Menschen wahrnehmen, denen ich begegne, bevor ich mit ihnen rede. Beides gehört zusammen, beides macht Gott möglich. Dass ich auf Gott höre und auf meinen Nächsten. So nimmt Gott meine Zunge in die Lehre. Schult meine Stimme, bevor ich zu sprechen beginne.
Ich sitze mit einer Frau und einem Mann am Tisch im Wohnzimmer. Wir haben die Trauerfeier für die Mutter vorbereitet. Die beiden Geschwister haben erzählt, von den letzten Wochen, die für alle anstrengend waren, vom gemeinsamen Leben. Wir haben Lieder ausgesucht, darüber gesprochen, was am Grab passiert. Bevor wir auseinander gehen, spreche ich ein Gebet. Ich komme mir wie ein Schüler vor, der darüber staunt, wie weit das Erlernte reicht. Ich versuche, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die ich wahrgenommen habe. Ohnmacht in den letzten Wochen, Dankbarkeit für gemeinsame Zeit. Ich versuche, Hoffnung anklingen zu lassen, die über den Abschied hinausgeht. Es gelingt: Worte stellen sich ein, die in diesem Moment zu trösten vermögen.
IV. Wachsein und Widerstehen
Das Lied geht weiter. Die Szene wechselt. Was jetzt passiert, habe ich nicht erlebt, andere durchaus.
6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Einer ist bedrängt und kämpft doch darum, dass sein Leid anerkannt wird. Er wird erniedrigt und hält an seiner Würde fest. Nimmt das, was ihm zustößt, nicht einfach hin, sondern widerspricht. Trotz der Anfeindungen hält er an dem fest, was ihn bewegt und was er glaubt. Hält aus. Hält durch. Und glaubt felsenfest, dass Gottes Hilfe steht.
In der Beratungsstelle erzählt eine junge Frau, was sie in ihrer Familie erlebt hat. Wie ihr Vater abends betrunken nach Hause kam. Sie hat sich ihm entgegengestellt, immer wieder, hat die Mutter geschützt und die kleine Schwester. Der Vater hat sie beschimpft und bespuckt, manchmal geschlagen. Maßlos im Zorn, den sie abbekommen hat. „Irgendjemand musste das tun“, sagt sie. „Ich habe mir nichts anmerken lassen. Das hat mich hart gemacht, auch anderen gegenüber.“ Zugleich ist sie erleichtert, dass jetzt wenigstens jemand ahnt, was sie durchgemacht hat. Was sie hat durchhalten lassen, will die Frau von der Beratungsstelle wissen. „Meine Schwester“, sagt sie sofort. „Und dass er im Unrecht war, die ganze Zeit.“
V. Ein Osterlied?
Was hilft da ein Lied, wenn Qualen und Ängste tiefe Spuren in der Seele hinterlassen haben? Die einen verstummen lassen und einsam machen. Manchmal verhärtet sich das Angesicht wie ein Kiesel und man bekommt nichts mehr über die Lippen. Was hilft da ein Lied?
Es hilft, eigene Erfahrungen in fremden Worten wiederzufinden – und im Singen zu spüren: Ich bin nicht allein mit dem, was ich erlebt habe. Der Prophet öffnet seine Erfahrungen für andere. Sie können darin einstimmen: Dass Gott einen anrührt und aufweckt. Dass einem Demütigungen widerfahren sind und wie es sich anfühlt standzuhalten. Welche Hoffnung sich dabei mit Gott verbindet. Das Lied hat einen Rhythmus, hat Worte, die den Grund legen dafür, dass einer so singen kann: Du, mein Gott, hast mich gelehrt, Zunge und Stimme einzusetzen. Du, mein Gott, hast mir die Ohren geöffnet. Du, mein Gott, hilfst mir, damit ich nicht zuschanden werde. Wer so singt, der singt sich in Gottes Gegenwart hinein. Wer so singt, erlebt im Singen, dass Gott nah ist und hilft …
Für die, die heute am Palmsonntag Gottesdienst feiern, klingt in diesem alten Lied die Geschichte Jesu mit. Bis hinauf nach Jerusalem ist Jesus gegangen, um von Gott zu reden. In den Spuren der Propheten predigt er das Heil für Gottes Volk Israel. Mit seinem Einzug in Jerusalem spitzt sich dramatisch zu, was er aushalten muss. Jetzt jubeln sie ihm noch zu – bald werden sie ihn schlagen und bespucken. Und dennoch wird sich Jesus von Gott gerufen und gehalten wissen.
Was Jesus mit dem Propheten aus dem Jesajabuch verbindet: Der Glaube, dass Gott durch Leid nicht straft, sondern durch Leid hindurch da ist und trägt. So wird es Vergangenheit. Das lässt sich nur schwer in Worte fassen. Einfacher ist es, davon zu singen. Dann kann es klingen wie in den Spirituals, die Sklaven und Sklavinnen auf den Baumwollfeldern angestimmt haben. In den Geschichten vom Leiden Jesu haben sie ihr eigenes Leid erkannt, in der Zusage Gottes, zu retten, ihre eigene Hoffnung. Diese Musik hat ihnen ermöglicht, vor den Ohren der Sklavenhalter von ihrem Leid zu erzählen und von ihrer Hoffnung zu singen.
Vielleicht lässt sich das nur in Liedern ausdrücken. In Liedern, die noch im Dunkeln den Morgen besingen, weil er schon den Ostermorgen ahnen lässt.
Pfarrer Dr. Christoph Kock
Wesel
E-Mail: christoph.kock@ekir.de
Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.
Liedvorschläge:
Er weckt mich alle morgen (EG 452)
Im Dunkel unserer Ängste (Zwischen Himmel und Erde 406)
[1] Struktur von: Barbara Hauck, Morgenfeier im Bayrischen Rundfunk vom 14.09.2019: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/predigt-die-gottesknechtslieder-des-propheten-jesaja-jes-50-4-9
[2] Morgenwonne, aus: Joachim Ringelnatz, Gedichte. Gedichte dreier Jahre, 1932.
[3] Über sieben Brücken mußt du gehen, Karat, 1979.