
Jesaja 55,1-5
„Kauft ohne Geld und ohne Bezahlung!“ | 2. Sonntag nach Trinitatis | 29.6.2025 | Jesaja 55,1-5 | verfasst von Dr. Rainer Stahl, Erlangen |
„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit Euch allen!“
Liebe Leserin, lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!
An den Anfang stelle ich eine eigene Übersetzung unseres heutigen Predigttextes:
- 1aα „Auf, alle Ihr Durstigen, geht zum Wasser!
- 1aβ Und, die Ihr kein Geld habt, geht![i]
- 1bα Kauft und esst!
- 1bβ Und geht und kauft[ii] ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch.
- 2aα Warum zählt Ihr Silber / Geld für Nicht-Brot
- 2aβ und Eure Arbeit für Nicht-Sättigung?
- 2bα Hört doch wirklich auf mich und esst Gutes
- 2bβ und labt Eure Seele / Euer Leben am Fett.
- 3aα Neigt Euer Ohr und geht / kommt zu mir!
- 3aβ Hört, und Eure Seele / Euer Leben wird aufleben!
- 3bα Und ich will mit Euch schneiden / schließen eine ewige Bundeszusage:
- 3bβ Die Gnadenzusagen an David, die treuen.
- 4a Siehe, als Zeugen für die Nationen[iii] habe ich ihn eingesetzt,
- 4b als Fürsten und Gebieter für Nationen.
- 5aα Siehe, Nationen, die Du nicht kennst, wirst Du rufen!
- 5aβ Und Nationen, die Dich nicht kennen, werden zu Dir laufen.
- 5bα Um Jahwe, Deines Gottes, willen.
- 5bβ Und wegen des Heiligen Israels, der Dich / weil er Dich herrlich gemacht hat /
Heute wird in immer neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen[vi] diagnostiziert, dass immer mehr Menschen die Kirche verlassen. Aus verschiedensten Gründen treten sie aus ihrer Kirche aus – zum Beispiel aus einer unserer evangelischen Landeskirchen oder aus unserer römisch-katholischen Schwesterkirche – und gehen ihren Lebensweg ohne die Kirche. Besonders treibt mich die Diagnose um, die für viele Menschen im Osten Deutschlands zu gelten scheint: „Die Menschen beginnen auch schon zu vergessen, dass sie Gott vergessen haben“.[vii] Sie wissen nichts mehr davon, was ihre Großeltern und Urgroßeltern, vielleicht auch noch ihre Eltern, geprägt hatte: die Zugehörigkeit zu einer Kirche, das bewusste Begehen der christlichen Feste. – Das alles ist für viele verloren gegangen.
Im Herbst 2022 konnte ich an einem Familientreffen in Bad Langensalza und in Freienbessingen in Thüringen teilnehmen. Dieses Treffen war vom 29. bis 31. Oktober und am 1. November. Sehr hatte mich bewegt, dass die Verwandten besonderes Interesse hatten, dass der Reformationstag gemeinsam gefeiert wurde – Verwandte, die nicht nur aus Deutschland, sondern z.B. auch aus Italien und aus den USA gekommen waren. Ich hatte bewusst eine Andacht zum Predigttext des Reformationstages 2022 gehalten – zu Psalm 46.[viii] Da wird einem doch ganz direkt bewusst, was alle diejenigen verloren haben, die „vergessen haben“, dass sie „Gott vergessen haben“ und die reichen Traditionen mit ihm im Zusammenhang „vergessen haben“! Wie gemünzt auf diese Diagnose wirkt auf mich die Hoffnung, die in unserem Predigttext zur Sprache gebracht wird: „Und Nationen, die Dich nicht kennen, werden zu Dir laufen“ (Vers 5aβ)!
In unserer Lutherübersetzung lautet dieser Vers: „und Völker, die Dich nicht kennen, werden zu Dir laufen“. Also: Nationen, Völker werden auf dem Weg zu Gott sein. Sie werden zu dem wechseln, den sie „vergessen hatten“. Ist das eine realistische Hoffnung? Mich beschäftigt immer mehr folgendes Gefühl, folgende Frage: Wieso feiern alle diese Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die Gott „vergessen haben“, Weihnachten, Ostern und Pfingsten? Wieso folgen sie den merkantilen Angeboten, ohne sich mit den eigentlichen Inhalten dieser Feste auseinanderzusetzen? Reicht es zu sagen: Das ist das Fest der Liebe (Weihnachten)? Reicht es zu sagen: Das ist das Fest des werdenden Frühlings (Ostern)? Reicht es zu sagen: Das ist das Fest spiritueller Einübung (Pfingsten)? Reicht es zu meinen: Die staatlich angebotenen Feiertage wollen wir doch nutzen!? Aber: Bin ich da vielleicht ungerecht? Es wirken doch vielleicht in ganz geheimnisvoller Weise die eigentlichen Inhalte auch bei denen, die „vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben“! Am 24. Dezember letzten Jahres war ich wieder bewusst in den 17-Uhr-Gottesdienst gegangen. Die Johanneskirche in Erlangen war wirklich bis auf den letzten Platz gefüllt: Es fügen sich doch viele in die Tradition dieses Festes mit ein! Über das Krippenspiel im 15-Uhr-Gottesdienst und den Nachtgottesdienst zur Weihnacht um 22 Uhr hatte ich gehört, dass auch viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Kirche gefüllt hatten! Auch der Abendmahlsgottesdienst am Altjahrsabend, 31. Dezember, war sehr gut besucht! Ich kann also für alle Gottesdienste über Weihnachten und Jahreswechsel sagen: So viele Menschen waren in die Kirche „gelaufen“, obwohl vielleicht einige von ihnen auch den einen oder anderen Aspekt unserer Glaubenstradition schon „vergessen haben“. Da erleben wir also doch wichtige Dimensionen der Hoffnung, dass „Nationen […] zu Dir laufen werden“ (Vers 5aβ)!
Allerdings meine ich, dass wir angesichts dieser Vision eine Erwartung nicht erhoffen können: Dass sich ganze Nationen, ganze Völker in diesen Erwartungshorizont einfügen lassen würden, dass ganze Nationen, ganze Völker kommen würden, „dass sie herbeilaufen werden“. Es sind immer einzelne, auch ganze Familien, auch Freundeskreise – immer aber auf Grund der Entscheidungen einzelner. Sie sind es, die die Hoffnung schultern, und so mitbauen an der Tradition des Christentums in unserem Raum. In meiner Kindheit in der DDR war mir wichtig, erleben zu können, dass mein Vater, der über den Eintritt in die SPD im Jahr 1945 im Jahr 1946 in die SED „gerutscht war“, doch jeden Sonntag in den Gottesdienst ging – so dass ich gelernt hatte, den Besuch des Gottesdienstes am Sonntagvormittag als einen „Identitätsmarker“ durchzuhalten! In solchem Einsatz Einzelner, ihrer Freundeskreise und ihrer Familien wird aber – das ist meine feste Überzeugung – der Weg unserer Kirche auf Weichen umgelenkt, die in die Zukunft führen, in eine „neue Kirche“, in eine „neue Gemeinde“. Bei der Fahrt auf diesem Gleis können wir erkennen: Dass sich der Gottesdienstbesuch in meiner Gemeinde doch dahin entwickelt, dass viele treu kommen und immer wieder Neue hinzukommen! Dass es gelingt, junge Menschen für den Glauben wirklich zu interessieren! Dass sich vielleicht bis heute die Treue zur Kirche, die die Landeskirchen im Gebiet der früheren DDR auch prägte, positiv auswirkt![ix]
Da wird uns der Anfang unseres Bibelwortes neu und eigentlich erst richtig wichtig: Jede und jeder von uns darf zu Gott kommen – ohne Bezahlung, ohne Vorrechnen der Lebensleistung. Gerade so wird jeder und jedem Lebenszusage geschenkt werden:
„Auf, alle Ihr Durstigen, geht zum Wasser! Und, die Ihr kein Geld habt, geht!
Kauft und esst! Und geht und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch.
Warum zählt Ihr Silber / Geld für Nicht-Brot und Eure Arbeit für Nicht-Sättigung?
Hört doch wirklich auf mich und esst Gutes und labt Eure Seele / Euer Leben am Fett“ (Verse 1-2).
Ich könnte mir denken, dass diese Aussagen eine neue Bedeutung bei den Müttern und Vätern der Theorie vom Kommunismus gefunden hatten: „Eure Arbeit für Nicht-Sättigung“? Dagegen muss man sich doch einsetzen und für Folgendes kämpfen: Dass Arbeitsplätze erhalten bleiben. Dass so viel verdient wird, dass ein Leben ohne Not möglich ist. Dass die Firmen ihren Gewinn nicht für überprozentuale Gehälter und immense Ausschüttungen für die Mit-Financiers und für die Top-Manager ausgeben, sondern in gleicher und angemessener Weise für die Kolleginnen und Kollegen einsetzen, die die Produkte herstellen! Hierzu muss ich etwas in Erinnerung rufen: Die Bewegung der „Religiösen Sozialisten“ knüpfte bewusst an Traditionen des Christentums an: So ging die Mutter meines Vaters, die 1945 verstorben war, gern in die Gottesdienste von Pfarrer Erich Hertzsch in Eisenach, der ein wichtiges Mitglied der „Religiösen Sozialisten“ in Thüringen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Oberkirchenrat in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, dann praktisch-theologischer Professor in Jena, dessen Lehrveranstaltungen als Emeritus ich noch besucht hatte. Einmal hatte ich gehört, dass er irgendwann ohne negative Folgen für sich aus der SED austreten konnte, in die er im Jahr 1946 gekommen war, weil er SPD-Mitglied gewesen war. Von ihm hatte ich gelernt, dass sozialistische Einstellungen keine atheistische, religions- und kirchenfeindliche Seite haben müssen![x]
Wohin führt uns unser vielleicht 2.500 Jahre altes Wort heute? Ich kann seine Konsequenzen nur für den Bereich der Kirche skizzieren: Ich habe in meinem Leben den Weg von einer als recht großzügig empfundenen Bezahlung als Assistent an der Universität über eine eher knappe Bezahlung im Raum der Kirche in der DDR bis hin zur deutlich großzügigeren Bezahlung dann in der Kirche im vereinigten Deutschland mitgemacht. Not habe ich unter keiner Bedingung gelitten. Noch weiß ich, dass meine Mutter, die schon seit Herbst 1979 in der Bundesrepublik lebte, sich Sorgen gemacht hatte, ob ich denn mit dem Geld hinkommen würde. Ich konnte ihre Sorgen zerstreuen – war aber als Allein-Lebender nicht für eine Familie verantwortlich. In der DDR-Zeit gab es in meinem Umfeld den Gedanken, dass man eine Partnerin oder einen Partner heiraten sollte, die oder der deutlich besser verdiente, also zum Beispiel Ärztin oder Arzt war. Und – wenn ich mich richtig erinnere – war es mein Ordinator, Landesbischof Dr. Leich, gewesen, der sich sehr dafür einsetzte, dass in den Gemeinden Mitarbeitende – auch z.B. die Pfarrfrauen der Pfarrer – korrekt in der Kirche und in der Gemeinde angestellt, für ihre Arbeit korrekt bezahlt und für sie in die Rentenkasse investiert wird, also nicht nur auf ihr ehrenamtliches, das heißt: unbezahltes Engagement gesetzt wird.[xi]
Ich denke, dass uns dieses biblische Wort eine hohe Verantwortlichkeit auferlegt – bei der Diskussion über den beamtenähnlichen Status von Pfarrerinnen und Pfarrern, über die Anstellungsregeln für Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, über die Anstellungsregeln für Gemeindemitarbeiterinnen und Gemeindemitarbeiter. Verlieren wir dabei nie aus unseren Augen, dass alle bei ihrer Arbeit in der Kirche, in der Gemeinde wirklich erleben sollten, dass wir in unserem Leben „gelabt werden“ (Vers 2bβ), dass unser Leben „auflebt“ (Vers 3aβ)!
Amen
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
—
Liedvorschläge:
EG 140,1-5 – „Brunn alles Heils, dich ehren wir…“
EG 363,1.2-7 – „»Kommt her zu mir«, spricht Gottes Sohn…“
EG 408,6 – „Meinem Gott gehört die Welt…“
—
[i] Ich folge dem Vorschlag von D. Winton Thomas (BHS) und verschiebe den Atnach unter «lechu» – „geht“. Vgl. auch Hans Werner Hoffmann: Alttestamentliche Texte der Predigtreihe I philologisch erschlossen, München 2024, S. 44.
[ii] Diese Aussage fehlt in der Jesaja-Rolle von Qumran, in der Septuaginta und in der syrischen Übersetzung.
[iii] Hier kann auch mit der syrischen Übersetzung und mit dem Targum „für die Völker“ gelesen werden.
[iv] Hierzu verweise ich wieder auf Hans Werner Hoffmann, a.a.O. (wie Anm. i), S. 45.
[v] Die Verse sind entsprechend der masoretischen Aufteilung der Verse durch Atnach und Klein-Zakef in aα, aβ und bα, bβ aufgeteilt.
[vi] Vgl. zwei Zugänge: https://www.ekd.de/kmu-kirchenmitgliedschaftsuntersuchung-75049.htm und https://www.ekd.de/ergebnisse-der-6-kirchenmitgliedschaftsuntersuchung-80962.htm .
[vii] So Wolf Krötke in seinem Text „Gottesvergessen“ in: Aufatmen. Ost-westliche Einübungen in die christliche Freiheit, 2014, S. 21. Vgl. auch: Günter Thomas: Gottesvergessenheit. Analyse eines Schlüsselbegriffs Wolf Krötkes, Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK), 121. Jahrgang, Dezember 2024, S. 480-506, bes. S. 483.
[viii] Vgl. Rainer Stahl: Gott ist unsere Zuversicht und Stärke: Psalm 46, Gedenktag der Reformation, 30./31. Oktober 2022, Freienbessingen, in: Rainer Stahl: Biblische Meditationen und aktuelle Predigten. Der Weg von exegetischen Skizzen zu konkreten Predigten, Fromm-Verlag 2024, S. 61-67.
[ix] Vgl. hierzu: Barbara Stühlmeyer: Die langsame Umkehr. Was die Zahlen der Kirchenstatistik über die Zukunft der Katholiken in Deutschland verraten; in: Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, Nr. 14, 3.4.2025, S. 13.
[x] Vgl. hierzu Thomas Klatt: Menschlich ohne Gott, G+H (Glaube und Heimat, Mitteldeutsche Kirchenzeitung) 14, 16.4.2025, S. 4, in dem er das Buch „Genealogie des Humanismus. Debatten – Kritik – Neue Perspektiven“ von Friedemann Stengel vorstellt: „Ganz aber weist Friedemann Stengel, Professor für Kirchengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, nach, dass die Wurzeln des Humanismus religiös sind. […] »Der jüngere Giovanni Pico della Mirandola [1463 – 1494] hatte die Idee einer philosophia christiana, eine Art christliche Super-Religion […].« Die Menschenwürde »ist eine zutiefst christliche und religiöse Anthropologie.«“
[xi] Nur in dieser Endnote ergänze ich: Ich hatte verstanden, dass die Selbstverständlichkeit mit der auf ein ehrenamtliches Engagement der Pfarrfrauen z.B. gesetzt wurde, als Grundlage hatte, dass auch in alten Zeiten die Bezahlung des Pfarrers entsprechend einer beamtenähnlichen Position und also ausreichend für die Finanzierung einer Familie gewesen sei. Das aber war doch beim Pfarrerinnen- und Pfarrer-Gehalt in der DDR-Zeit nicht wirklich gegeben.