Jesaja 58,7-12

· by predigten · in 16. So. n. Trinitatis, 23) Jesaja / Isaiah, Aktuelle (de), Altes Testament, Archiv, Beitragende, Bibel, Deutsch, Erntedank, Kapitel 58 / Chapter 58, Kasus, Nadja Papis, Predigten / Sermons

16. So. n. Trinitatis (oder Erntedanktag) | 05.10.2025 | Jes 58,7-12 | Nadja Papis |

Kennen Sie das? Diese Wut im Bauch, wenn ich Hunger habe? Gereizt bin ich dann, ungeniessbar. Da bricht aus mir heraus, was nicht wirklich beziehungstauglich ist.

Ja, Hunger macht wütend – jedenfalls wenn der Hunger noch so viel Energie zulässt für die Wut. Wenn nicht ist es schon lebensbedrohlich.

Der Grad der Wut hängt wohl am Grad des Hungers. Wenn ich einfach vergessen habe zu frühstücken und meine Gereiztheit mit jeder Stunde zunimmt, dann ist das noch handhabbar, vor allem weil ich das Privileg habe, meinen Hunger jederzeit zu stillen. Nahrung ist vorhanden, die Mittel zur Nahrungsbeschaffung auch. Anders verhält es sich bei denen, die dauernd hungern, ohne Aussicht auf einen gefüllten Bauch. Das geht ans «Lebige», ans Lebensnotwendige. Ich kann es mir, wohlgenährt, kaum vorstellen. Was für eine Wut muss das sein, wenn du deine Kinder nicht satt bringst, wenn du Tag ein Tag aus mit diesem nagenden Gefühl im Bauch arbeiten musst, wenn du zuschauen musst, wie rund um dich niemand genug hat und andere auf dieser Welt viel zu viel. Diese Wut bewegt, lässt Menschen Unmögliches auf sich nehmen, nur um dem zu entfliehen. Und mir scheint, wir Wohlgenährten urteilen, verurteilen viel zu schnell.

Heute feiern wir Erntedankgottesdienst. Und dann dieser Predigtanfang. Ja nein, heute ist Danken angesagt, Feiern, Teilen. Die Bilder zum Erntedank zeigen es: eine Überfülle an Früchten und Gemüsen, an Korn und Nüssen. Diese Überfülle feiern wir und danken dafür. Denn selbstverständlich ist sie nicht. Wir wissen, dass viel Arbeit dahintersteckt, und auch das Geschenk der Schöpfung mit Jahreszeiten, einer Vielfalt von Pflanzenarten, den wechselnden Wetterlagen. Die Ernte weist uns auf das Geschenk unserer Lebensgrundlage hin. Heute will niemand an den Hunger erinnert werden! Gefeiert wird und die Freude geteilt an all den feinen Dingen, welche mit dem Erntegeschenk gekocht, gebacken und hergestellt wurde. Ihr seht es hier vorne: das frische Brot, die appetitlichen Kuchen, die Platten mit Käse und Fleisch und all die wunderbaren Früchte. Ein festlicher Schmaus steht uns bevor und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

In unserem Predigttext gibt es auch so wundervolle Bilder für die Fülle des Lebens: das eigene Licht, das hervorbricht wie das Morgenrot, die Heilung, die Befreiung vom Joch, die starken Knochen, die Sättigung in der Dürre, ein bewässerter Garten, der Wiederaufbau uralter Trümmerstädte, der Pfad, der wiederhergestellt wird.

Wow! Diese Verheissung lässt sich hören! Da wird Zukunft möglich, nicht nur Leben, sondern Aufbauen, Sich-Entwickeln, einen Weg-Bereiten.

Es ist keine Frage, ob ich das will. Diese Bilder lassen mich nicht mehr los und wecken eine Sehnsucht. Ich will leuchten, ja, natürlich, ich will befreit und heil werden, ich will gesättigt sein. Und in diesem bewässerten Garten das Leben geniessen. Die ganze Fülle des Lebens, ja, die ist uns verheissen. Diese Fülle, die auch in unserer reichen und vielfältigen Erntedanktafel sichtbar ist.

In einem ist unser Predigttext aber klar: Das gibt´s nicht umsonst. Diese Verheissung ist verknüpft mit Bedingungen. So wie ja auch die Ernte an Bedingungen geknüpft ist. Mir ist es am Erntedank in unseren Breitengraden immer wichtig, darauf hinzuweisen: Ohne das richtige Wetter und ohne die harte Arbeit der Bäuerinnen und Bauern gäbe es keine Ernte, auch bei uns nicht, trotz allen Maschinen, Bewässerungsanlagen und anderen Hilfsmitteln. Es gibt Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Ernte kommt. Sie ist nicht gratis und sicher nicht selbstverständlich. Manchmal wünschte ich mir, dass wir dem näher wären. Wenn in unserem Land die Kartoffelernte wetterbedingt schlecht ausfällt, sorgt unser Staat dafür, dass wir genügend Kartoffeln importieren können, um unseren Bedarf zu decken. Als Konsumentin merke ich praktisch nichts davon. Genauso wenig wie ich den Ernteausfall wegen einem späten Frost zur Kirschblütenzeit bemerke. Oder den Schädlingsbefall im Bienenstock. Oder die lange Krankheit des Bauern. Das Bewusstsein für die Bedingungen dieser Fülle an Ernte, die wir hier vorne sehen, gehört für mich elementar zum Erntedank dazu.

Zurück zum Predigttext und den Verheissungen, die ebenfalls nicht selbstverständlich und umsonst sind. Dafür nämlich braucht es das wahre Fasten.

Am Erntedank vom Fasten zu sprechen, ist auch nicht gerade passend, aber lasst mir einen Moment, wir kommen schon noch dorthin, wo wir hinwollen.

Im alten Israel war das Fasten ein religiöser und kultischer Brauch. Zeitlich begrenzt wurde auf Essen oder Trinken verzichtet, um eine schlechte Tat zu sühnen, Trauer beim Verlust eines nahestehenden Menschen auszudrücken oder sich auf eine besondere Zeit vorzubereiten. Manche Fastenzeiten waren gesetzlich vorgeschrieben und betrafen alle, andere waren individuell. Wir kennen das Fasten noch heute, in unserer reformierten Kirche als freiwillige Zeit der Einkehr, meistens in der Passionszeit.

Die Abschaffung des reglementierten Fastens ist eine Errungenschaft der Reformation, welche das Fasten als Heilsleistung scharf kritisiert hat. Und schon in der Passage vor unserem Text sind kritische Stimmen gegen ein so verstandenes Fasten zu hören: Seht, Ihr fastet so, dass es zu Streit und Zank kommt und dass man zuschlägt mit der Faust des Unrechts. Das wird abgelehnt und stattdessen nach dem wahren Fasten gefragt. Was fordert das Göttliche von uns? Dem Hungrigen dein Brot zu brechen, Arme, Obdachlose in dein Haus zu bringen, Nackte zu bedecken, dich deinen Mitmenschen nicht zu entziehen. Die Beziehungen unter den Menschen bestimmen massgeblich die Beziehungen zum Göttlichen. Das wahre Fasten ist also ethisch verantwortliches Handeln gegenüber anderen Menschen, besonders den Notleidenden. Denn das wird in diesem Text auch klar: Gott steht auf der Seite der Notleidenden, der Hungrigen, der Elenden. Zum Glauben gehört das verantwortungsvolle Handeln unter den Menschen dazu. Mein Glaube ist nie isoliert von meinem Verhalten anderen gegenüber zu sehen.

Am Erntedank kommt das für mich in der «Teilete» zum Ausdruck und im gemeinsamen Dank. Ich stehe nicht alleine hier – in vertrauter Zwiesprache mit Gott und danke für diese Fülle an Leben, die ich geschenkt bekommen habe, ich allein. Nein, ich stehe hier mit euch allen und verbunden mit der ganzen Menschheit, ja, sogar der ganzen Schöpfung. Die Verheissung des Lebens geht an alles Lebende. Und als Teil davon bin ich aufgerufen, meinen Beitrag zu leisten, mein Licht leuchten zu lassen für alle. Eine schwierige Aufgabe. Gerade hier vor dem reich gedeckten Erntedanktisch. Dürfen wir dieses Buffet nun gar nicht geniessen? Uns die Bäuche nicht vollschlagen? Schwelgen in dieser wunderbaren Lebensfreude?

Das freiwillige Fasten, wie es in unserer Kirche Tradition ist, ist eine bewusste Zeit, um Gewohntes zu durchbrechen, Verzicht zu üben und sich über das eigene hinweg mit der Welt zu verbinden. Ich muss etwas aus meinem gewohnten Alltag weglassen, um zu neuen Sichtweisen, neuen Erkenntnissen zu kommen, ich muss – modern gesprochen – die Komfortzone verlassen, um etwas ändern zu können an mir, meinem Leben, meinem Verhalten. Die Forderung nach dem wahren Fasten steht quer zum Erntedank und fordert uns heraus. Inmitten der Fülle des Lebens soll uns bewusst werden, dass es auch den Mangel gibt. Und dass die Verheissung sich nur dann erfüllt, wenn alle daran teilhaben können. Insofern ist das Teilen heute der wichtigste Bestandteil unseres Festes: Ich bringe nicht meinen Kuchen und esse ihn ganz allein. Das bekäme mir gar nicht und wäre auch nicht sinnvoll. Zu teilen heisst miteinander die Fülle des Lebens zu geniessen, einander zu beschenken und beschenkt zu werden, sich verbunden zu fühlen in dem, was wir zum Leben brauchen und was uns darüber hinaus noch gegeben ist. Beim Gabenbuffet am Erntedank ist das einfach, sozusagen eine Einsteigerübung. Wie aber sieht es mit dem Teilen in unserem Dorf, unserem Land, der Welt aus? Ich habe noch viel zu üben, und Sie?

Und dabei helfen mir die verheissungsvollen Bilder: mein Licht der Morgenröte, Heilung, Befreiung, die starken Knochen und den satten Bauch in der Dürre, der bewässerte Garten, der Wiederaufbau uralter Trümmerstädte, der Pfad, der wiederhergestellt wird. Das Göttliche, so erzählen mir die Bilder, weiss den Weg, ich darf ihm folgen.

Amen


Pfrn. Nadja Papis
Langnau am Albis/Sihltal
nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.