Jesaja 9,1-6

· by predigten · in 23) Jesaja / Isaiah, Aktuelle (de), Altes Testament, Beitragende, Bibel, Christvesper / Heiligabend, Deutsch, Kapitel 09 / Chapter 09, Kasus, Predigten / Sermons, Rainer Stahl

„Hoffnung auf den Fürsten des Friedens“ | Heiliger Abend | 24.12.2024 | Jesaja 9,1-6 | verfasst von Dr. Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Am Anfang soll eine eigene Übersetzung des Predigttextes – aus Jesaja 9 – stehen:

1aα „Das Volk – die gehend waren in Finsternis

1aβ sahen ein großes Licht,

1bα – die wohnend waren im Land der Todesschatten,

1bβ ein Licht strahlte über ihnen auf.

2aα Du machtest zahlreich den Jubel[i],

2aβ Du machtest groß die Freude.

2bα Sie freuten sich vor Dir wie man sich freut in der Ernte,

2bβ wie man sich freut beim Verteilen von Beute.

3aα Denn das Joch seiner Fron und den Stock auf seiner Schulter

3aβ – den Stock seines Antreibers –

3b zerbrachst Du wie am Tage Midians!

4aα Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn heranstiefelte,

4aβ und jeder[ii] Mantel, der gewälzt wurde in Blutlachen:

4b sie werden zu Brand werden, werden zu Feuerfraß werden.

5aα Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns gegeben,

5aβ und es wird die Herrschaft auf seiner Schulter sein.

5bα Und als sein Name wurde ausgerufen[iii]: Wunder von Ratgeber, Gott eines Helden,

5bβ Vater der Ewigkeit, Fürst des Friedens.

6aα Um zu mehren die Herrschaft und um den Frieden [als] endlos [zu bewirken] für den

               Thron Davids und für seine Königsmacht,

6aβ um sie zu stärken und zu stützen

6aγ in Recht und Gerechtigkeit

6bα  – von jetzt bis in Ewigkeit –.

6bβ Der Eifer des Herrn der Heerscharen wird dies bewirken.“[iv]

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Bei uns in Deutschland ist das Weihnachtsfest zu einer Familienfeier geworden. Oft kommen die weit verstreuten Familienmitglieder zusammen und feiern miteinander.

Ist das nicht schon sehr viel?

Dass sich über das Jahr ergeben habende Distanzen und Unterschiede überwunden werden,

dass sich Brüder und Schwestern wieder treffen, Kinder, Nichten und Neffen wieder miteinander feiern,

dass sie alle zusammen mit Eltern und Schwiegereltern – wenn diese noch leben – das Fest begehen!

Erweist sich das nicht schon als eine Keimzelle für Frieden?

Während meiner Kindheit in Meiningen gehörte Folgendes zu Weihnachten: In unserer Stadt wohnte auch eine Freundin meiner Großmutter. Meine Eltern haben sie immer zum Heiligen Abend in unsere Wohnung eingeladen. So haben wir mit ihr zusammen gefeiert. Und sie blieb dadurch nicht allein. Wir sagten „Tante Lotte“ zu ihr. Ihr Name war Charlotte Coudray. Meine Großmutter aber lebte schon lange in Kassel, dann in Marburg. Das war seit 1949 fern in der Bundesrepublik Deutschland. Und nach dem 13. August 1961 war das für uns in der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr erreichbar. Diese Gastfreundschaft meiner Eltern führte dazu, dass das Weihnachtsfest für mich zu einem Fest wurde, das auch über die Familiengrenzen hinauswirkt! In diesem Geist habe ich später als Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes in Erlangen den Heiligen Abend immer zusammen mit den im Haus anwesenden Studierenden begangen, die in den beiden Studierendenheimen wohnten und eben über den 24. Dezember am Studienort geblieben waren. – Die zum Beispiel aus Ungarn gekommen waren, aus der Ukraine, aus Russland, aus Polen, aus Rumänien, aus Finnland. Die deutschen Studierenden waren ja meisthin über das Weihnachtsfest nach Hause gefahren!

Ich halte es für ganz wichtig, dass wir solche vielfältigen Möglichkeiten gerade zu Weihnachten zu verwirklichen versuchen! Können wir zu unserem Weihnachtsfest wenigstens eine Abgrenzung überwinden und durch solche Gemeinschaften ein wenig zu Frieden beitragen?

Wem verdanken wir eigentlich, dass wir solch einen realistischen Blick auf Kriege und Friedensversuche zu Weihnachten wagen? Der Evangelist Lukas war es! Er hatte eine Rede des Engels Gabriel an Maria, die zukünftige Mutter Jesu, überliefert. In ihr hatte Gabriel gesagt:

„Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,

dem sollst du den Namen Jesus geben.

Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden;

und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben […]“

(Lukas 1,31-32).

Damit war auf unseren Predigttext verwiesen worden:

„Um zu mehren die Herrschaft

und um den Frieden als endlos zu bewirken für den Thron Davids und für seine Königsmacht“

(V. 6aα).

Zum Weihnachtsfest 2024 sind wir also mitten in den Friedenshoffnungen heute –

für die Ukraine und für Russland,

für Israel, für das palästinensische Gaza und die anderen palästinensischen Gebiete,

für den Libanon, für Syrien,

für alle anderen Konflikte auf unserer Erde!

Unsere große Bitte zu Gott ist unser Schrei nach Frieden:

Mache doch alle vernünftig,

dass sie die Chancen für Frieden für sich sehen,

dass sie bereit werden zu Frieden auch für die „anderen“:

Gerade zu Frieden mit denjenigen, die sie für Feinde halten,

mit denen sie sich ihre eigene Welt nicht vorstellen können.

Ja: Gerade mit diesen „anderen“ zusammen wird Frieden möglich werden. Das ist die diesjährige Botschaft des Weihnachtsfestes für uns alle!

Wir Christen haben eine große Chance: Wir können über unsere Ideen und Interessen hinaussehen auf den, der für uns schon Frieden gestaltet hat und immer wieder gestalten wird:

auf diesen Jesus aus Nazareth,

der über unsere Begrenzungen hinausgekommen ist,

der deshalb für uns

„Wunder von Ratgeber ist,

Gott eines Helden ist,

Vater der Ewigkeit ist,

Fürst des Friedens ist!“

(V. 5b).

Da ist mir eine tiefe Erkenntnis wieder bewusst geworden, die ich während meines Studiums an der Universität Jena gelernt hatte – von meinem praktisch-theologischen Lehrer, von Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch: Dass die Gebetsbitte des „Agnus Dei“ in der Abendmahlsliturgie dreimal identisch gelautet hatte:

„Agnus Dei qui tollis peccata mundi miserere nobis!“

„[Christe], du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarme dich unser!“

Und dann brachte er uns bei, dass die zweite Wiederholung dieser Bitte im Hochmittelalter, wohl während der Kreuzzüge, geändert wurde in:

„Agnus Dei qui tollis peccata mundi dona nobis pacem!“

„[Christe], du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, gib uns [deinen] Frieden!“

Das war ein großer Eingriff in die festgefügte Liturgie. Aber die aktuellen Sorgen waren so schwerwiegend, dass er nötig wurde. Und so beten wir noch heute:

„Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt,

erbarme dich unser.

Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt,

erbarme dich unser.

Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt,

gib uns deinen Frieden!“[v]

Da haben wir doch das Gebet unseres Weihnachtsfests für das Jahr 2024! So wird für uns Weihnachten werden: Wenn wir begreifen, dass wir die Person haben, die Frieden schon mitbringt, die die Lösung unserer Probleme schon weiß. Gehen wir mit dieser Überzeugung aus unseren Weihnachtsfeiern nach Hause in unsere Weihnachtsstuben, in unsere Friedensstuben. Gehe jedes Ehepaar und jede Einzelperson hier im Bodelschwingh-Haus in Erlangen dann aus diesem Gottesdienst im Festsaal zurück in die Wohnung im Service-Wohnen. Gehe jede Einzelperson in ihr Zimmer im Pflegeheim oder lasse sich jede Einzelperson dorthin im Rollstuhl fahren. Und wenn wir dann die Tür öffnen und in unser Zimmer kommen, machen wir uns bewusst:

Das ist unsere Friedensstube,

in der der Fürst des Friedens geheimnisvoll zu Besuch ist und uns Heimat schenkt.

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Liedvorschläge:

EG 20 – „Das Volk, das noch im Finstern wandelt…“ – Aber als Adventslied eingeordnet.

EG 24 – „Vom Himmel hoch…“

EG 36 – „Fröhlich soll mein Herze springen…“

EG 41 – „Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket ihr Engel…“

EG 56 – „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen…“

[i]  Hier folge ich dem Vorschlag von «haggijlāh» im Jesaja-Buch der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS), bearbeitet von D. Winton Thomas.

[ii]  Hier folge ich dem Vorschlag von D. Winton Thomas, «kōl» einzutragen.

[iii]  Hier folge ich dem Vorschlag von D. Winton Thomas: «wajjiqqāre’» zu lesen.

[iv]  Die Aufteilung der Verse erfolgte wieder entsprechend der Zeichen der Masoreten, vgl. die Biblia Hebraica Stuttgartensia (Klein Zakef, Atnach und Silluq).

Für die Übersetzung wurden konsultiert:

Die Lutherbibel, revidiert 2017, Stuttgart 2016;

Die Bücher der Kündung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Stuttgart 1992;

Hans Werner Hoffmann: Alttestamentliche Texte der Predigtreihe I philologisch erschlossen, München 2024, S. 5-7.

Wer mit der Übersetzung der “The Bible. Revised Standard Version” vergleicht, wird entdecken, dass der Text für die Predigt dort die Verse 2-7 sind. Das ist deshalb so, weil auf die griechische Bibel, die Septuaginta, zurückgegriffen wurde (so auch in der russischen Übersetzung, der Synodal-Bibel). Die Übersetzung ins Griechische hatten den Vers 23 von Kapitel 8 als Vers 1 von Kapitel 9 wiedergegeben.

[v]  Beim Suchen im Internet hatte ich zwei Belege gefunden:

https://www.herder.de/gd/lexikon/agnus-dei/

und eine sehr komplizierte Adresse, die ich nur teilweise belegen kann:

https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&sca_esv=ff218175482d21ed&q=Dona+nobis+pacem+Geschichte

(jeweils zugegriffen schon am 1.9.2024).