Jesaja 9,1-6

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Christvesper | 24.12.2024 | Jes 9,1-6 | Höchste Zeit, um zu staunen | Thomas Schlag |

Liebe Gemeinde,

seit dem letzten Heiligen Abend ist wieder ein ganzes Jahr vergangen, in dem wir den dunklen Realitäten ins Auge schauen mussten. Viel war die Rede von «Faktenlage», von Zahlen und Daten und Befunden und Aussichten, die belegen, wie es angeblich um uns steht: wirtschaftlich, klimatechnisch, militärisch, aber auch privat, gesundheitlich, ganz persönlich.

Und ja, sie haben einen nicht selten fast gefangen genommen, diese Befunde und Realitäten – von Krieg und Gewalt und Krise war, jedenfalls meiner Erinnerung nach, kaum je so intensiv die Rede wie im vergangenen Jahr. Der furchtbare Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt kurz vor dem 4. Advent ist die aktuellste, dramatische Bestätigung dieses gewaltvollen Jahres.

Immer wieder neue Hiobsbotschaften – von «alternativen Fakten» ganz zu schweigen. Und so ist es mehr durchaus verständlich, wenn sich manche spätestens übers letzte Jahr hinweg mehr oder weniger abgewendet haben von den Entwicklungen. Wenn nicht wenige Menschen ganz und gar auf Nachrichten verzichten und aktuelle Informationen zur Lage der Nation nicht einmal mehr hören wollen oder können.

Stattdessen packt man sich dann in die eigene Gemütlichkeit ein: «Hygge»[1] heisst der Trend: Ein Wohlfühlprogramm aus dem kühleren Norden Europas, genauer aus Dänemark. Am liebsten hat man es kerzenwarm und wohlig kuschelig und freut sich am lichtvollen Kaminzauber. Und Teil dieses Programms ist es durchaus auch, sich mithilfe passender kalorienhaltiger und hochprozentischer «Genuss-Botschaften» wenigstens für eine bestimmte Zeit in eine bessere Welt hineinzuimaginieren.

Und nun also der diesjährige Heilige Abend. Ist das sozusagen das ultimative kirchliche «Hygge»-Ereignis, in das man sich nun ebenfalls einkuscheln soll und kann, weil eben die umgebende Welt nur noch Schrecken bereithält?

Ja, so könnte man es verstehen. Und die Bilder und die ganze Geschichte legen es irgendwie auch nahe: Das süsse Kind, das helle, warme Licht, an der Krippe eine Atmosphäre der Geborgenheit, Glanz in den Augen, helle Engelsbotschaft – all dies inmitten der Nacht und gegen die Nacht und erst recht gegen die tiefschwarzen Realitäten der Faktenlage.

Scheint also jetzt endlich oder wenigstens für einen Moment die andere Welt auf, die uns leben und hoffen lässt? Ist das nun die echte «Alternative für das Durchstehen»[2] der realen und laut ausgerufenen Krisen?

Neu ist dieser Wunsch nach einer hellen, ganz anderen Zukunft ja nicht. Die alttestamentlichen Worte, die dem heutigen Heiligen Abend Glanz und Hoffnung verleihen wollen, haben dies schon vor Urzeiten zur Sprache gebracht:

Der Prophet Jesaja schreibt hoffnungsvoll und staunend zugleich:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.

Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. 

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.

In dieser Vision des Propheten scheint eine ganze Gegenwelt auf: Aus dem Dunkel soll Licht werden. Das drückende Joch, also das Zuggeschirr auf dem Rücken des Arbeitstieres, das schwer auf dessen Schultern liegt, wird zerbrochen. Und alles Kriegsgetümmel kommt an sein Ende.

Etwas Neues wird kommen – noch konkreter verkündet: Ein neuer Herrscher kommt schon jetzt: Ein Herrscher von ganz eigener Art: ein wunderbarer Ratgeber, ein Heldengott, ein Starker, ein Friedensfürst.[3] Kurz gesagt: ein Kind.

Diese Ankündigung, diese Gegenwart des Kindes, dürfen wir uns ganz plastisch vorstellen: Ein Kollege formuliert es so – in einer Auslegung des bekannten Weihnachtsliedes von Paul Gerhardt «Ich steh’ an Deiner Krippen hier»:[4]«Das ganze Lied ist erfüllt vom Staunen über das, was zuerst die Hirten und die Weisen in der kleinen Stadt Bethlehem erlebt haben.»

Einer der Verse des Liedes lautet: «Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen». Dazu schreibt der Kollege das Folgende:

«Der Blick verweilt hier auf dem Kind in der Krippe, auf dem einzigartigen Ereignis, das in diesem kleinen Menschlein sichtbar wird – geboren vor aller Zeit und doch auch geboren in dieser Nacht, die Kraft des Schöpfers selbst, und nun doch ganz da in diesem einen irdischen Leben. Wie könnte man sich daran satt sehen?! Und so lädt uns Paul Gerhardt ein, stehen zu bleiben, anzubeten, still vor diesem Bild zu verweilen.»

Und so bilanziert er in seiner Auslegung: «Jeder und jede von uns soll direkt mit dabei sein. Alles, was sich zwischen uns und das Kind in der Krippe stellen könnte, fällt fort. Der zeitliche Abstand von vielen hundert Jahren, der räumliche Abstand zu dem Geschehen im fernen, gegenwärtig wieder so spannungsgeladenen Bethlehem – sie werden einfach übersprungen. Und es beginnt ein andächtiges Nachdenken, eine Zwiesprache mit dem Kind, ein Meditieren darüber, was sich hier ereignet und was Jesu Geburt über die Zeiten hinweg sagen will – und zwar nicht nur allgemein für die Menschheit, sondern für mich persönlich, für mich in meinem ganz eigenen Leben.» So weit also die Auslegung dieses Krippenliedes.

Ist das nun die neue Realität, eröffnet dies an diesem Heiligen Abend den Blick auf eine Anders-Welt. Eine Welt, die nach ganz anderen, nämlich friedlichen Spielregeln abläuft? In denen das erste Prinzip nicht Angst, sondern Hoffnung ist, in der es nicht um vergeltende Massnahmen, sondern um eine Eskalation des Guten geht?

Ja, der Heilige Abend und diese Geburtsszene ist der erste Moment einer Anders-Welt: einer Welt, die sich hell in die Dunkelheit hinein ausbreitet, die zeigt, was anders und besser und richtiger und realistischer sein könnte.

So funktioniert die Weihnachtsgeschichte – übrigens wie viele biblischen Geschichten – «seit Menschengedenken». Es ist ja ganz wahr: «Schilderungen, die uns in Staunen versetzen und Elemente enthalten, auf die wir auch heute Bezug nehmen können, überdauern im kollektiven Gedächtnis am besten.»[5]

Das Staunen weitet den Blick, macht uns an diesem heiligen Abend offen für das Unerwartbare. Das Staunen lässt uns vielleicht barmherziger auf die Dinge schauen. Wer an diesem geheimnisvollen Abend wie ein Kind staunen kann, der traut sich etwas, was über die sichtbare Realität hinausgeht. Der kann sich auch nicht sattsehen an dem, was hier so überraschend heute und zu allen Zeiten des Lebens wieder neu auf uns zukommt – was Himmel und Erde geheimnisvoll verbindet.

Und dieses Staunen ist eben nicht einfach nur ein weltferner Traum, sondern es kommt daher mit einer verschärften Wahrnehmung der Verhältnisse, auch und gerade dort, wo diese ungerecht und menschenunwürdig sind. Mit offenem Mund heißt eben auch, dass man nicht schweigt angesichts dieser Verhältnisse. dass man dort seine Stimme erhebt, wo das Dunkel eben wieder grösser zu werden droht als das Licht.

Wenn also nun die gewaltvollen und schrecklichen Seiten dieses Jahres wieder so mächtig in den Blick und ins Bewusstsein kommen, dann heisst Staunen auch, der weiteren Gewalt und ja, auch dem Bösen, zu widerstehen, sich aktiv einzusetzen, gerade nicht zu einer Eskalation der Gewalt beizutragen. Frieden muss möglich werden.

Und das beginnt bei uns selbst: Staunen ist eine Haltung, die uns mindestens für einen wichtigen Moment weg weist von unserem andauernden Blick auf uns selbst. Weg vom Spiegel der eigenen Eitelkeit, in den hinein wir am Ende nur noch über uns selbst staunen bzw. besser gesagt: uns nur noch selbst anstarren.

Nicht an uns selbst sollen wir uns sattsehen, sondern den Blick darauf richten, wo sich Gott uns in mitmenschlicher Gestalt zuwendet. Fast schon weisheitlich ist es, wenn der tschechische katholische Theologe Tomáš Halík zum Geheimnis von Weihnachten schreibt: Hier und heute ereignet sich die «Verbindung des Menschlichen und des Göttlichen.»[6] Und weil wir als Menschen selbst ganz offene Wesen sind, können wir uns in diesem Moment in aller Offenheit diesem göttlichen Ereignis zuwenden – uns selbst in das Staunen hineinfinden.[7]

Ob sich dieses Geheimnisvolle wirklich ereignet? Natürlich bleibt es unverfügbar – natürlich können wir Menschen schon gar nicht ganz alleine die Verhältnisse ändern. Und zu denken gibt der Satz: «Manche kommen aus dem Staunen nie hinaus, manche nie hinein.»[8]

Gerade deshalb ist das Staunen über diesen geheimnisvollen Moment eine höchst aktive Möglichkeit, selbst etwas mehr Licht in die dunklen Verhältnisse zu bringen, nicht im Sinn des süsslichen, satten nordischen Wohlfühl-Hygges, sondern als realitätsnahe, lichtvolle Schärfung aller unserer Sinne und Gedanken, die sich nicht sattsehen können am neuen Moment.

Es ist jetzt im wahrsten Sinn des Wortes höchste Zeit, um zu staunen.

Und dann wird uns hoffentlich etwas Wesentliches geschenkt: Die Einsicht, dass wir heute nicht zornig auf das zurückblicken müssen, was alles wieder nicht gelungen und nicht erledigt ist. Die Weisheit, dass es auch nicht darauf ankommt, gehetzt auf die Zukunft zu blicken, auf all das, was ansteht, was geplant und organisiert werden muss.

Sondern das Staunen nimmt sich Zeit für diesen Moment, diesen Abend, diese Begegnungen und Augenblicke – für das, was jetzt verkündigt wird und in Bilder der Anders-Welt gekleidet ist: Bilder des wunderbaren Ratgebers, des Friedensfürsten, des Kindes. 

Wenn wir bereit sind, über diese Botschaft des Kindes in der Krippe zu staunen, ändert sich auch unsere eigene Zeitwahrnehmung. Wir können den neuen, ganz anderen Moment unmittelbar in unserem gegenwärtigen Leben entdecken. Eine Kollegin hat es gerade in diesen Tagen auf facebook mit wunderbar sommerlich-sonnigen Bildern aus Südafrika prägnant so formuliert: «The best present is being present in the moment» («Das schönste Präsent ist es, im Moment selbst präsent zu sein.»[9]

Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist heute am Heiligen Abend wahr. Denn nicht mehr, aber auch nicht weniger ist an diesem Abend für uns heute verkündigt: Dass wir in diesem Moment offen und staunend präsent sind – und unseren Blick dorthin richten, wo sich Neues ereignet und präsent wird. Dorthin, wo diese Hoffnung auf das neue, Frieden stiftende Kind gegen die dunklen Realitäten wirklich und ganz real wird. Heute an diesem Abend und weit über diesen Abend hinaus.

Amen.

[1] Hygge wird wie folgt verstanden: es ist «ein Kernbestandteil der dänischen Tradition und Lebensweise. Im Wesentlichen bedeutet es eine gemütliche, herzliche Atmosphäre, in der man das Gute des Lebens zusammen mit lieben Leuten genießt. Das warme Licht der Kerzen ist Hygge. Freunde und Familie gehören auch zur Hygge. Und nicht zu vergessen, Essen und Trinken: das heißt für uns am liebsten mehrere Stunden am Tisch zu sitzen und uns gemeinsam mit den größeren und kleineren Dingen des Lebens auseinanderzusetzen. … Die Hochsaison der Hygge liegt in der dunkleren Jahreszeit, ganz besonders um Weihnachten. Die dänischen Winter sind bekanntermaßen lang und dunkel – also wehren wir uns gegen die Dunkelheit mit unserer besten Waffe: Hygge! Inklusive vieler Kerzen natürlich.» (https://www.visitdenmark.de/daenemark/erlebnisse/lifestyle-kultur/hygge)

[2] Am 20.12.2024, an dem ich diese Predigt schreibe, fliegt schon wieder eine krude Nachricht durch die mediale Welt: Elon Musk teilt angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl auf «X» mit: «Only the AfD can save Germany».

[3] So die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007.

[4] Dieses und die folgenden Zitate Johannes Lähnemann, Liedpredigt Liedpredigt „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37) zum Christfest II. 26.12.2024 (https://www.theologie.uzh.ch/apps/gpi/liedpredigt-ich-steh-an-deiner-krippen-hier-eg-37/)

[5] Moises Mayordomo, Storytelling mit Stern: Was die Weihnachtsgeschichte zeitlos macht (19.12.2024), in: https://www.unibas.ch/de/Aktuell/News/Uni-Research/Was-die-Weihnachtsgeschichte-zeitlos-macht-.html

[6] Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Freiburg/Basel/Wien 2022, 32.

[7] Vgl. a.a.O., 31f.

[8] Raimund Schöll (*1963), Soziologe, Coach, Autor und Aphoristiker.

[9] Anita Cloete, facebook-Eintrag am 19.12.2024.