Joh 20,11-18

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„Halte mich nicht fest!“ – Eine Bildbetrachtung zu Felix Hoffmanns „Noli me tangere“ | Ostersonntag | 20. April 2025 | Joh 20,11-18 | Dörte Gebhard |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

 Liebe Gemeinde

Aus dem vorletzten Kapitel im Johannesevangelium hören wir, was uns hier im Chor der Schöftler Kirche als Glasgemälde von Felix Hoffmann immer vor Augen steht [Lesung mit verteilten Rollen]:

11 Maria blieb draußen vor dem Grab stehen und weinte.

Mit Tränen in den Augen beugte sie sich vor

und schaute in die Grabkammer hinein.

12 Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern dort sitzen,

wo der Leichnam von Jesus gelegen hatte.

Einer saß am Kopfende, der andere am Fußende.

13 Die Engel fragten Maria: »Frau, warum weinst du?«

Maria antwortete:

»Sie haben meinen Herrn weggenommen.

Und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben!«

14 Nach diesen Worten drehte sie sich um

und sah Jesus dastehen.

Sie wusste aber nicht, dass es Jesus war.

15 Jesus fragte sie:

»Frau, warum weinst du? Wen suchst du?«

Maria dachte: Er ist der Gärtner.

Darum sagte sie zu ihm:

»Herr, wenn du ihn weggebracht hast,

dann sage mir, wo du ihn hingelegt hast.

Ich will ihn zurückholen!«

16 Jesus sagte zu ihr: »Maria!«

Sie wandte sich ihm zu

und sagte auf Hebräisch: »Rabbuni!« –

Das heißt: »Lehrer«.

17 Jesus sagte zu ihr: »Halte mich nicht fest!

Ich bin noch nicht hinaufgegangen zum Vater.

Aber geh zu meinen Brüdern und Schwestern

und richte ihnen von mir aus:

›Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater,

zu meinem Gott und eurem Gott.‹«

18 Maria aus Magdala ging zu den Jüngern.

Sie verkündete ihnen: »Ich habe den Herrn gesehen!«

Und sie erzählte, was er zu ihr gesagt hatte.

Foto: Rudolf Gebhard

Liebe Gemeinde

Wir haben den Auferstandenen immer vor Augen.

Am Ewigkeitssonntag, wenn die Kerzen für unsere Verstorbenen brennen, leuchtet Christus über uns.

Zu Weihnachten, beim Krippenspiel, hält er seine segnende Hand über Kleine und Grosse.

Heute, am Ostertag, schauen wir einmal genau hin – mit grossen Hoffnungen.

Die beinahe unglaubliche Nachricht von der Auferstehung Jesu Christi steckt im Detail. In jedem Detail.

Wir heben heute unsere Augen auf – und spüren zugleich, wie es ist, wenn wir Abschied nehmen. Betreten wir unsere Kirche zu einer Abdankung, ist Christus nur ganz von weitem zu sehen, manchmal auch zu übersehen vor lauter Traurigkeit, die wir bei uns haben, die wir tragen müssen.

Dann kommen wir wie Maria von Magdala ans Grab Jesu.

Dann sehen wir nicht viel – mit Tränen in den Augen.

Dann hoffen wir nur wenig, weil das vergangene Leben grosse Lücken ins Herz gerissen hat.

Aber Maria ist nicht nur verzweifelt und einsam. Sie ist auch furchtlos und kühn.

Als sei alles, was sie zuletzt erlebt hat, noch nicht traurig und schlimm genug, steckt sie auch noch ihren Kopf ins dunkle Grab hinein:

Mit Tränen in den Augen beugte sie sich vor und schaute in die Grabkammer hinein.

Wir haben auf unserem Friedhof nicht solche Grabkammern, aber unseren Kopf können wir genauso ins Grab stecken, wenn wir trauern.

Das Herabbeugen geht wie von selbst, bei all den herabziehenden Gedanken.

Nicht selten ist jemand gefangen in den Erinnerungen an das zu Ende gegangene Leben, schaut nur auf die letzte Leidenszeit. Sieht nur noch schwarz.

Dagegen können auch die allerschönsten Engel nichts ausrichten.

Maria begegnet im sonst leeren Grab zwei Engeln:

12 Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern dort sitzen,

wo der Leichnam von Jesus gelegen hatte.

Lebt Maria noch? Oder ist sie innerlich wie tot? Sie staunt nicht einmal ein bisschen. Oder ist Maria Engel genauso gewöhnt wie wir?

Wenn ich nur einmal über den Schöftler Friedhof gehe, habe ich bestimmt mehr als hundert Engel gesehen, aber gegen tiefe Trauer richten sie nur wenig aus. Oder täusche ich mich?

Maria verzweifelt immer mehr, weil Jesus nun zweimal fort ist: Er ist fort als Lebender, weil er tot ist. Und nun ist auch noch der Tote fort.

Als ob man völlige Einsamkeit noch steigern könnte: Sie haben meinen Herrn weggenommen.

Auch ihren Ölkrug samt Dreibein zum Aufstellen hat sie vergebens hergebracht.

Sie ist allein und kann auch nichts mehr tun.

Habt Ihr diese beissende Leere je gespürt, wenn gar nichts mehr zu machen ist?

Für nichts und wieder nichts hat Maria Geld für gutes Öl ausgegeben. Das hätte sie sich sparen können. Der Krug ist noch auf dem Bild, aber abgestellt.

Übrigens in derjenigen Ecke des Bildes, in die wir zuletzt schauen.

Maria findet keinen Trost im dunklen Grab. Die gottgesandten Engel bringen ihr gar nichts: keine Aussichten, nicht mal eine Auskunft. Sie wartet die Antwort von ihnen auch gar nicht erst ab.

14 Nach diesen Worten drehte sie sich um …

Aber was soll auf einem Friedhof schon zu sehen sein? Ausser noch mehr Gräber?

Viel, viel mehr ist zu sehen! Geht nachher hinaus und schaut euch um, freut euch an der Blumenpracht:

Ein Friedhof ist seit Jesu Auferstehung ein Vorschein auf Gottes kommende Welt, auf den Paradiesgarten.

Der Auferstandene auf dem Glasgemälde hat den Friedhof schon hinter sich. Ihr seht die schwarze Grabeshöhle hinter ihm auf der Höhe seines Herzens.

Aber Christus kommt vor allem in einem herrlichen Garten auf uns zu.

Riesig hat Felix Hoffmann die leuchtenden Blüten gemalt. Die Knospen auch, sogar sehr prominent im Vordergrund. Wenn Maria die nicht sieht, wird sie drüber stolpern. Solche Riesenblüten gibt es hierzulande zu Ostern kaum, auch nicht, wenn der Ostertermin so spät liegt wie dieses Jahr.

Aber Felix Hoffmann hatte wohl Angst, jemand könnte die Hinweise auf das Paradies verpassen. Deshalb übertreibt er so! Ausserdem zeichnet er sorgfältig und fein mit Liebe zum Kleinen die Kräuter und Blumen in langen Reihen, die alles Irdische auf Marias Seite und die kommende Welt auf der Seite des Auferstandenen verbinden.

Vielleicht hat sich hier schon einmal jemand bei dem Gedanken erwischt, dass die Glasmalerei noch schöner wäre, wenn der Pfeiler in der Mitte sie nicht unterbrechen würde. Aber der Pfeiler gehört genau da hin! Er unterscheidet unsere und die kommende Welt.

Er gehört zum Bild.

Die Unterbrechung gehört zu unserem Leben.

Der Pfeiler hält Diesseits und Jenseits auseinander.

Aber schon heute kommt uns der Auferstandene entgegen, erfüllt von Licht.

Felix Hoffmann hat diesen Augenblick ins Bild gesetzt, als Jesus zu Maria sagt: Halte mich nicht fest!

Aber zugleich erzählt er die ganze Geschichte von Karfreitag bis heute früh, bis zu uns.

Karfreitag ist schon weit nach hinten gerückt, aber gehört noch aufs Bild, denn er ist noch unsere Realität.

Jesus hat den Tod hinter sich – Felix Hoffmann hat es genau genommen.

So weit hinter sich, dass wir die Augen fest zusammenkneifen müssen, um die drei Kreuze auf der blutgetränkten Erde überhaupt zu erkennen.

Wenn wir drei Kreuze machen, haben wir etwas hinter uns.

Aber dank Gott geht das Leben nicht nur einfach weiter, sondern beginnt neu.

Gott hat Jesus Christus von den Toten auferweckt.

Weil das Leben wieder anfängt, bekommt Maria sogleich einen neuen Auftrag:

Aber geh zu meinen Brüdern und Schwestern

und richte ihnen von mir aus: ›Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.‹

Alle hören von Maria:

Er ist auferstanden!

Er ist wahrhaftig auferstanden!

Sagt das einander jetzt weiter – euren Nachbarn in der Reihe, davor und dahinter und steht selbst auch auf, um es weiterzusagen:

Er ist auferstanden!

Er ist wahrhaftig auferstanden!

Christus hat den Tod hinter sich. Er kommt erhobenen Hauptes auf uns zu.

Geschlagen, aber aufgerichtet.

Gefoltert, aber gerade.

Getötet, aber lebendig.

Ist es Euch aufgefallen? Sein Kopf ist viel grösser als Sonne und Mond zusammen, die extra für diesen Grössenvergleich genau daneben gemalt sind. Christus überragt unsere irdischen Masse. Er überragt die Fensterscheibe bei weitem!

Womöglich denkt jetzt jemand, Felix Hoffmann war zu faul, auf die Leiter zu steigen und hat die Fensterhöhe nicht richtig gemessen: Das sei ferne! Er hat exakt Mass genommen, damit er zeigen kann, das Christus grösser ist, höher ist als unsere Vernunft, wie es bei Paulus heisst (Phil 4,7).

Der Auferstandene passt nicht in das Raster unserer Welt.

Maria ist nicht nur traurig und noch gefangen in ihrer Welt, sie ist auch vernünftig.

Maria dachte: Er ist der Gärtner.

Darum sagte sie zu ihm:

»Herr, wenn du ihn weggebracht hast,

dann sage mir, wo du ihn hingelegt hast.

Ich will ihn zurückholen!«

Wer sollte auch sonst in einem Garten anzutreffen sein?

Ein Gärtner natürlich.

Und wenn niemand anderes da ist, muss der Gärtner schuld sein, dass der Tote verschwunden ist. Denn das steht auch fest: Jemand muss schliesslich schuld sein! Gottes Sohn interessierte sich aber offenbar nie für Grabpflege. Er hatte früher mal gesagt: Lasst die Toten ihre Toten begraben (Mt 8,22).

16 Jesus sagte zu ihr: »Maria!« Sie wandte sich ihm zu und sagte auf Hebräisch: »Rabbuni!« – Das heißt: »Lehrer«.

Jesus erkennen und ihn erfassen wollen … sind eins.

Aber sie erreicht ihn – haarscharf – nicht.

Die Fingerspitzen Marias strecken sich zwar über die Grenze des Todes, den dunklen Pfeiler, aus. Aber sie erreichen Jesus nicht.

Wir sterblichen Menschen erreichen den Auferstandenen nicht.

Und wären wir auch von Erkenntnis und Glauben überflutet wie Maria in diesem besonderen Moment: Wir erreichen ihn von uns aus nicht.

Aber Christus erreicht Maria mit einem Wort und mit einem Blick – und nur darauf kommt es an! Nicht auf unser Ausstrecken, nicht auf unsere Versuche, zu Gott zu gelangen.

17 Jesus sagte zu ihr: »Halte mich nicht fest!

In älteren Übersetzungen liest man noch: Rühr mich nicht an! Aber das trifft es nicht. Der Auferstandene ist nicht wie eine schnippische Diva, die Angst hat um ihr feines, weisses Gewand; der Auferstandene ist unterwegs zu Gott.

Ich bin noch nicht hinaufgegangen zum Vater.

Er fehlt dann, aber er bleibt.

Maria hebt ihre Augen zu Jesus auf und wirft gleichzeitig uns einen aufmerksamen Blick zu.

Guckt mal, wie sie guckt!

Jetzt, erst jetzt kommt sie aus dem Staunen noch lange nicht heraus, aber sie wirft auch auf uns ein Auge. Ob wir es auch «mitkriegen».

Eine Randbemerkung: Felix Hoffmann war Lehrer. Er wusste, dass nicht immer alle alles mitbekommen. Dass man gucken muss, ob es alle erkennen …

Frühere Maler haben sich immer mit einer stark schielenden Maria geholfen, die gleichzeitig auf Jesus und zu den Betrachtenden schaut. Felix Hoffmann hat sich diesen Blick vielleicht bei seinen Schülern abgeguckt, die ein menschliches Auge von der Seite noch nicht richtig zeichnen konnten.

So malt man doch nicht!

Eigentlich unmöglich, wie das aussieht.

Aber die Auferstehung ist nach menschlichen Massstäben auch unmöglich und dennoch geschehen.

Die Konsequenzen für Maria aus Magdala und für uns hat Dietrich Bonhoeffer zusammengefasst, den die Nazis vor 80 Jahren, kurz nach Ostern (9. 4. 1945) ermordet haben, dessen Worte aber auch immer wieder auferweckt werden, so oft es die irdischen Umstände nötig machen.

Bonhoeffer schreibt in seiner Ethik über den Glauben an die Auferstehung:

«Den neuen Menschen und die neue Welt aber erwartet man allein von jenseits des Todes her, von der Macht, die den Tod überwunden hat.

Der auferstandene Christus trägt die neue Menschheit in sich, das letzte herrliche Ja Gottes zum neuen Menschen. Zwar lebt die Menschheit noch im Alten, aber sie ist schon über das Alte hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt des Todes, aber sie ist schon über den Tod hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt der Sünde, aber sie ist schon über die Sünde hinaus. Die Nacht ist noch nicht vorüber, aber es tagt schon.»[1]

Es ist sogar schon nach 10 Uhr. Wir haben Stärkung nötig und feiern miteinander Abendmahl.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne im Glauben an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Amen.


Dörte Gebhard, Pfarrerin

[1] Dietrich Bonhoeffer: Ethik. Zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge, München 101984, S. 84.