Johannes 10,11-16

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| Auf Spurensuche | Misericordias Domini | 04. Mai 2025 | Predigt zu Johannes 10,11-16| verfasst von Paul Wellauer |

| Psalmgebet im Wechsel | Psalm 23,1-6 | Die Bibel nach Martin Luther, 1984*
| Der gute Hirte |
I  Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
II Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
I  Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.
II Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
I  Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
II Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

I&II AMEN

| Lesung Predigttext | Johannes 10,11-16 | Der gute Hirt | Die Zürcher Bibel, 2007** |

11 Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt setzt sein Leben ein für die Schafe. 12 Der Lohnarbeiter, der nicht Hirt ist, dem die Schafe nicht gehören, der sieht den Wolf kommen und lässt die Schafe im Stich und flieht, und der Wolf reisst und versprengt sie. 13 Er ist eben ein Lohnarbeiter, und ihm liegt nichts an den Schafen. 14 Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, 15 wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne. Und ich setze mein Leben ein für die Schafe. 16 Und ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Pferch sind; auch die muss ich leiten, und sie werden auf meine Stimme hören. Und sie werden eine Herde werden mit einem Hirten.
Selig ist jeder Mensch, der Gottes Wort hört, in seinem Herzen bewahrt und danach lebt. Amen

 

| Predigt | Auf Spurensuche |

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern durch die Liebe und Gnade Gottes

  1. Der gute Hirte gibt alles – sogar sein Leben

Vor zwei Wochen haben wir wie jedes Jahr Karfreitag und Ostern gefeiert. Ein besorgtes Gemeindeglied hat sich bei mir gemeldet: «Der Tod von Jesus wird aus meiner Sicht zu leichtfertig gefeiert. Schon ein natürlicher Tod ist etwas schreckliches, wie viel mehr der furchtbare Foltertod Jesu am Kreuz!» Ich verstehe das Anliegen: Auch wenn wir in unserem Leben schon 30, 50 oder 70 Mal Ostern gefeiert haben: Wie Jesus ungerecht verurteilt, unmenschlich gefoltert und grausam getötet wurde, daran dürfen wir uns nicht einfach gewöhnen. Es soll in unserem christlichen Glauben immer etwas ausserordentliches bleiben, das uns wachrüttelt und hinterfragt. Unser Glaube hat etwas erschütterndes, lateinisch das «Mysterium tremendum», das Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöst. Ich konnte früher mit Kreuzweg-Darstellungen in und bei katholischen Kirchen wenig anfangen. Ich wollte lieber Jesus als den Auferstandenen bejubeln und mit ihm unsere Hoffnung auf Auferstehung feiern, statt ständig an seinen Leidensweg erinnert zu werden. Inzwischen betrachte ich die Bilder, Reliefs und Figuren der Kreuzwege mit immer grösserem Interesse: Ja, der gute Hirte, Jesus Christus, hat wirklich sein Leben für seine Schafe eingesetzt. Er hat seinen Mund nicht zu voll genommen, nicht zu viel versprochen, keine fakenews in die Welt gesetzt. Jesus hat Wort gehalten: «Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt setzt sein Leben ein für die Schafe.» (Vers 11)
Und doch bin ich dankbar und sehr damit einverstanden, dass die Kreuze in unseren evangelischen Kirchen leer sind, ohne die Darstellung des sterbenden Jesus Christus. «Jesus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!» jubeln und proklamieren wir am Ostermorgen. Der gute Hirte hat zwar sein Leben für die Schafe eingesetzt, doch ihm wurde ein neues Leben dafür geschenkt, ein bleibendes, unvergängliches. Daher ist und bleibt das Kreuz leer. Jesus wird auch kein zweites Mal gekreuzigt und keine und keiner von uns muss sich für die persönliche Erlösung töten lassen.
Und doch stellt die Haltung von Jesus uns Nachfolgern und Nachfolgerinnen die Frage: Wie steht es um unsere Leidensbereitschaft für unseren Glauben und unsere Werte? In vielen anderen Ländern werden unsere christlichen Geschwister wegen ihres Glaubens benachteiligt, ausgegrenzt und an Leib und Leben bedroht. Uns kostet es vergleichsweise wenig, zu unserem Glauben zu stehen. Doch tun wir es auch?
Rund um die Begräbnisfeierlichkeiten für Papst Franziskus habe ich u.a. ein Interview mit einem Schweizergardisten gelesen: Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er im Notfall sein Leben für die Bewahrung des Papstes einsetzen würde. Soweit müssen wir in unserer so sicheren und freiheitlichen Schweiz wohl kaum gehen, wenn wir verteidigen möchten, was uns lieb und heilig ist. Doch ich will euch die Frage mitgeben: Ich welchen Situationen warst oder wärst du bereit, für «die Schafe Gottes», für Gottes Familie und Botschaft, bis zum Äussersten zu gehen?

2. Falsche Hirten verführen statt zu führen
Jesus spricht auch von den «weniger guten» Hirten, von den Lohnarbeitern oder in anderen Übersetzungen Mietlingen und bezahlten Knechten. Sie haben nicht diese innige, persönliche Beziehung zu den Schafen. Letztlich ist ihnen ihr Leben und ihr Lohn wichtiger als das Leben ihrer Schafe. Es wäre nun ein leichtes, über verantwortungslose Politiker und Wirtschaftsführer zu schimpfen – die männliche Form ist in diesem Fall wohl die passende – doch das bringt uns nicht weiter. (Auch wenn mir spontan ganz viele Namen in den Sinn kämen!) Mit guten und weniger guten Hirten sind bei Jesus wohl zunächst Menschen gemeint, die für andere in einem geistlichen Zusammenhang Verantwortung tragen: Pfarrpersonen, Diakon/-innen, Jugendarbeiter/-innen, die Mitglieder der Kirchenvorsteherschaft, Hauskreis- und Teamleiter/-innen. Es tut gut und ist wichtig, immer wieder persönliche Standortbestimmungen zu machen und sich zu fragen: Führe ich die mir anvertrauten «Schafe», bzw. Menschen auf dem «richtigen Weg», zum «frischen Wasser» und zuletzt an den «Tisch im Haus des Herrn», wie dies im Psalm 23 so anschaulich beschrieben ist?Bin ich bei den Strauchelnden und tröste ich die Traurigen? Im Psalm 23 wird das dunkle Tal und die Bedrohung durch Feinde ungeschönt dargestellt: Das Hirtenleben ist definitiv kein Zuckerschlecken und kein Schönwetterjob. Allerdings gilt auch hier wie beim Tod am Kreuz: Es gibt Dinge, die nur der göttliche gute Hirte tun kann und tun muss. Die Türe zum «Haus des Herrn» öffnet uns der Sohn des Herrn, Jesus Christus. Und er deckt uns auch den Tisch und schenkt uns voll ein. Wir sind seine «Hilfshirten und -hirtinnen», die in seinen Fussstapfen und mit seinem unerreichbaren Vorbild unterwegs sind. Und doch dürfen wir mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Freude, mit derselben Berufung und Perspektive Hilfshirt/-innen sein wie unser «Oberhirte» Jesus Christus.
Im Kirchenjahr befinden wir uns ja in einer interessanten Zwischenzeit: Vor uns liegt Auffahrt und Pfingsten, hinter uns Karfreitag und Ostern. In dieser Zeit ist Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen erschienen, hat ihnen nochmals die Zusammenhänge von Gottes Heilsplan erläutert, bis «ihre Herzen brannten, als er ihnen die Schriften aufschloss». (Lukas 24,32) In einer Firma würde man sagen, Jesus hat sich um die Nachfolgeregelung gekümmert. In einer Familie wäre es eine besondere Form von Testament, dass er seinen Glaubenskindern weitergibt, da er ja wieder auferstanden ist und nochmals einige Wochen in ihrer Mitte lebt. Und hier geschieht auch das Wesentliche, dass er in unserem heutigen Predigttext so umschreibt: «Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne.» (Verse 14-15) Es geht Jesus nicht um Zukunftsstrategien und «to do-Listen», sondern um Gemeinschaft, Vertrauen, Nähe und einander kennen. Petrus, der Jesus vor der Kreuzigung drei Mal verraten hat, wird er danach nicht fragen: Welche Konzepte hast du, um meine Kirche in die Zukunft zu führen? Wie wirst du meine Glaubenskinder berufen, fördern und aussenden? Sondern er fragt ihn drei Mal: «Liebst du mich mehr, als diese mich lieben?», «Liebst du mich?» und «Hast du mich lieb?» Und als Petrus drei Mal bejaht, erhällt Petrus seinen ganz persönlichen dreifachen Hirtenauftrag: «Weide meine Lämmer!», «Hüte meine Schafe!» und «Weide meine Schafe!» (Johannes 21,15-19)
Wie lautet deine Antwort auf die Frage von Jesus «liebst du mich?» Und welchen ganz persönlichen Hirtenauftrag hat der auferstandene Jesus Christus dir anvertraut?

  1. Auf Spurensuche: Eine Herde und ein Hirte

Der letzte Vers (16) unseres Predigttextes klingt in meinen Ohren ebenso geheimnis- wie verheissungsvoll: «Und ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Pferch sind; auch die muss ich leiten, und sie werden auf meine Stimme hören. Und sie werden eine Herde werden mit einem Hirten.» Wer sind diese Schafe aus einem «anderen Pferch» und wann erleben wir, dass wir eine Herde unter dem Hirten Jesus Christus sein werden?
Die erste Frage ist wohl leichter zu beantworten: Jesus hat zwar mehrmals betont, dass er zu den «verlorenen Schafen Israels gesandt» ist (Matthäus 15,24; 10,5-6), doch in verschiedenen Situationen hatte seine frohe Botschaft auch Lebens verändernde Auswirkungen auf Menschen ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft oder er zieht diese als gutes Beispiel heran.(vgl. Die Syrophönizierin, Markus 7,26, Die Samaritanerin, Johannes 4, Der barmherzige Samariter Lukas 10). Sein Wirken beginnt zwar im Herzen der jüdischen Gemeinschaft und endet in Jerusalem, doch sein Auftrag lautet schon zu Lebzeiten: «Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.» (Matthäus 28,19-20) Und nach seiner Auferstehung, bevor er in den Himmel zurückkehrt, wiederholt er diesen Auftrag in anderen Worten: «Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde.» (Apostelgeschichte 1,8) Wir Christinnen und Christen sind aufgefordert und herausgefordert, die «Schafe aus den anderen Pferchen» in Jesu Namen mit seiner guten Botschaft zu erreichen, mit Worten und Taten der Nächstenliebe.
Die Frage nach der «einen Herde mit dem einen Hirten» ist eine weit schmerzlichere. Es war zwar eindrücklich zu sehen, wie viele geistliche und weltliche Würdenträger und -trägerinnen aus allen Ländern, Denominationen und sogar Religionen bei der Beerdigung von Papst Franziskus anwesend waren. Doch wir sind weit davon entfernt von der «einen Herde mit dem einen Hirten». Mich freut es sehr und schaue es als äusserst segensreich an, wenn wir übergemeindliche Gottesdienste und Anlässe gestalten und feiern können, sei es im Rahmen der evangelischen Allianz oder der Ökumene. Doch ebenso schmerzt es mich, wenn wir an allen übrigen Sonntagen im Raum Bischofszell-Hauptwil an mindestens sieben unterschiedlichen Orten auf je eigene Weise Gottesdienst feiern.
Dietrich Bonhoeffer hat vom «Leiden an der Kirche» gesprochen. Dieses Leiden an der Kirche hatte zur Zeit des Nazi-Regimes eine andere Ausprägung. Auch an der Aufspaltung in viele Konfessionen, Denominationen und Gruppierungen leiden wir als Kirche. Jesus betet in seinem «hohepriesterlichen Gebet» Johannes 17,20-21 «Doch nicht nur für diese hier bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben: dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns seien, und so die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.»
An diesem «Hirten-Gebet» von Jesus dürfen wir uns als Hilfshirt/-innen gerne ein Beispiel nehmen und mit unseren Gebeten, Begegnungen und Anlässen unseren Beitrag für die eine Herde leisten.

Jesus Christus, der gute Hirte, leite, begleite und begeistere uns dabei immer neu.

Amen

 

Liedvorschläge

ERG 15 Der Herr ist mein getreuer Hirt [Sigisbert Kraft | Johann Crüger]
ERG 18 Der Herr, mein Hirte, führet mich [Charlotte Sauer | Francis Rous]
ERG 57 Nun jauchzt dem Herren, alle Welt [avid Denicke | nach Cornelius Becker]
ERG 445 O Haupt voll Blut und Wunden [Paul Gerhardt | Hans Leo Hassler]
ERG 795 Sonne der Gerechtigkeit [Böhmische Brüder u.a.]
ERG 798 So jemand spricht
RW 47 Wo ich auch stehe [Albert Frey]
RW 48 Wunderbarer Hirt [Lothar Kosse]
Du selbst willst die Schafe weiden [© 1992 Bene Müller]

*) Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Übersetzung nach Martin Luther 1984 © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1985 / = ERG 113

**) Die Zürcher Bibel, Ausgabe 2007, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich

ERG = Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich 1998

RW = Rückenwind, Lieder für den Gottesdienst, Hrsg. Evang Landeskirche des Kantons Thurgau, Theologischer Verlag, Zürich 2017

 

Pfr. Paul Wellauer, Bischofszell, Schweiz

E-Mail: paul.wellauer@internetkirche.ch

Web: www.internetkirche.ch | www.internetkirche.ch/livestream | www.evang-tg.ch

Paul Wellauer, geb. 1967, Pfarrer und Mitglied im Kirchenrat der evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau, Schweiz. Seit 2009 in Bischofszell-Hauptwil, 1996-2009 in Zürich-Altstetten, davor 1993-1996 Seelsorger und Projektleiter in der Stiftung Sozialwerke Pfr. Ernst Sieber, Zürich