Johannes 12, 23-33

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Lätare | 30. März 2003 | Johannes 12,23–33 | Erik Høegh-Andersen |

Das Weizenkorn ist ein anschauliches Bild, das uns im Evangelium dieses
Sonntags vorgestellt wird. Das Korn, das zugrunde geht und stirbt, wenn
es in die Erde gelegt wird, und das eben dadurch wieder zu neuem mannigfaltigem
Leben erwacht. Ja, wenn das Korn nicht stirbt, wird es nicht wieder zu
neuem Leben erweckt und bringt keine Frucht.

Das ist ein Bild, das zugleich natürlich ist und paradoxal – widersprüchlich.
Natürlich – weil Wachstumsprozesse sich tatsächlich so in der
Natur und in unserem Leben abspielen. Und paradoxal-widersprüchlich,
weil in diesem Bild deutlich wird, daß wir das Leben erst gewinnen,
wenn wir den Tod auf uns nehmen. Erst wenn wir imstande sind, uns selbst
aufzugeben und alles zu verlieren, erst dann können wir das Leben
erfahren und empfangen, das größer ist als wir, erst dann
können wir das herrliche Leben der Auferstehung empfangen.

Es geht hier um das Geheimnis des Christentums selbst, um das, was
Paulus ein Kreuz für das Denken nennt: Daß die Macht Gottes
in der Erniedrigung liegt, in unserer Schwachheit, daß wir seine
Herrlichkeit in der Kreuzigung Christi sehen. Oder um nun beim Bild vom
Weizenkorn zu bleiben, das auch Paulus aufnimmt in seiner Paradoxalität
und Widersprüchlichkeit: „Es wird gesät verweslich und
wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Unehre und wird
auferstehen in Herrlichkeit“ (1. Kor. 15,42-43).

Paulus denkt natürlich vor allem an Christus, daran daß er
das schwache Leben auf sich nahm, wie ein Weizenkorn zugrunde ging und
zu einem lebendigen, reichen und mannigfaltigen Leben in uns aufersteht.

Aber dann denkt er auch an das Weizenkorn als ein Geheimnis, das in
den Kern unseres Lebens weist: Daß wir stets etwas sterben lassen
müssen, damit das Leben zum Durchbruch kommen kann. Daß es
von Anfang bis zum Ende darum geht, daß das Leben mit dem Leben
bezahlt wird. Erst wenn wir es wagen, uns selbst und das Leben in der
Form, wie wir es kennen, hinzugeben, erst da finden wir das Leben wieder,
das Gott uns gibt, in einer tieferen Form. Wir können uns nicht
bloß an das alte leben halten, an die schönen Erinnerungen,
sondern etwas muß sterben, damit sich das Leben erneuern kann.

Das gilt in einer Freundschaft. Zwei Menschen begegnen sich. Es handelt
sich um alte Freunde. Sofort werden die alten Tage wieder lebendig, sie
erzählen Geschichten von damals, selbst der Humor von damals stellt
sich wieder ein. All das ist gut und schön. Aber wenn die beiden
nicht imstande sind, einander anders zu sehen als in den Bildern der
Vergangenheit, wenn sie nicht auch imstande sind, das Alte hinter sich
zu lassen und einander als die Menschen zu sehen, die sie nun geworden
sind und die sie im Begriff sind zu werden, dann wird die Freundschaft
nur einen begrenzten Wert haben. Dann wird alles so bleiben, wie es einmal
war, zudem in einer versteinerten Form. Dann werden sie sich von dem
fruchtbaren Lebensprozeß abgekoppelt haben, wo etwas sterben muß,
damit Neues entsteht.

Das gilt natürlich auch in einer Ehe. Sie kann man niemals nur
auf der Basis dessen leben, was einmal war, sie muß vielmehr, wie
alle zwischenmenschlichen Beziehungen, eine lebenslängliche Bewegung
sein, wo man alte Bilder verlassen muß, wo alte Strukturen sterben
müssen, damit es umfassender und reicher werden kann als zuvor.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt,
so bleibt’s allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht“.

Das ist ein Gesetz des Lebens, das wir stets erfahren können.
Ein Gesetz des Lebens, dem wir vielleicht nicht folgen wollen – weil
es in der Regel bequemer ist, einfach nur dort zu bleiben, wo man ist,
sich nur an das Alte, Geborgene, Sichere zu halten. Aber Leben heißt
in Bewegung sein, sich selbst dem hinzugeben, das uns fordert.

Deshalb geht es darum, stets aufzubrechen, etwas muß sterben,
damit Neues und Reicheres kommen kann.

So ist es, wenn man die Geborgenheit seiner Familie verläßt
und von zuhause wegzieht. So ist es, wenn man sich in Liebe an einen
anderen Menschen bindet, das ist zugleich herrlicher Verzicht und neues
Leben.

So ist es, wenn man sich als die natürlichste Sache sich selbst
gibt im Verhältnis zu seinen Kindern, in Fürsorge und Nähe.

Aber genauso natürlich und genauso schwer ist es, sie eines Tages
freizugeben und loszulassen, in dem Wissen, daß nun die beschützende
Fürsorge sterben muß, damit etwas Neues in ihnen werden kann.
Liebe, die festhalten will und nicht loslassen kann, die eine permanente
Umarmung sein will, wird zu Umklammerung und erstickt Leben. Aber die
Liebe sucht nicht das Ihre, sie weiß, daß das, was wir geben,
unsern Kindern oder andern, das kommt nicht in dem Sinne zurück
zu uns, aber es wirkt neues reiches Leben in ihnen, in dem Kindern, die
heranwachsen in einem Zusammenhang, der größer ist als wir.

Und eben das ist ja der Sinn. Das ist die Weisheit des Weizenkorns.
Wir haben unser Leben empfangen, um uns selbst voll hinzugeben, ja um
zugrunde zugehen mit dem, was wir geben, zu sehen, daß dort, wo
wir waren, wo das Korn gelegt wurde, dort ist – vielleicht – so etwas
wie ein blühendes Feld. Wir sind also das Weizenkorn Gottes, und
als solches sollen wir säen und uns säen lassen, ohne zu wissen,
was für ein Leben dabei entsteht. Die Ernte müssen wir mit
anderen Worten dem lieben Gott überlassen. Der Sinn ist gerade der,
daß wir uns selbst geben für das Leben, das größer
ist als wir.

Aber wagen wir das? Halten wir das aus, daß wir nicht sehen,
wozu es führt? Wir möchten ja so gerne, daß unser Leben
gelingt. Wir wollen gerne die Früchte sehen, genießen, was
die Anstrengungen gebracht haben, sehen, was daraus geworden ist. Lohnt
sich das alles? So fragen wir dann. Vielleicht erscheint es uns vergeblich,
wenn der Tod dennoch einmal auf uns wartet. Ja, vielleicht steht der
Tod da als eine Drohung gegen uns, so daß wir uns furchtsam an
das klammern, was wir haben. Nicht eine Sekunde wollen wir hergeben.
Wir klammern uns an das eine Leben, und das bleibt unfruchtbar wie das
Korn, das nicht in die Erde gelegt wird.

Dieser Angst entgehen wir wohl nicht. Die Angst, zu verlieren, um uns
dem unabwendbaren hinzugeben, dem Tod, der uns einmal erwartet. Auch
Jesus hatte diese Angst in sich. So wie wir es heute im Johannesevangelium
hören, in einigen Worten, die unmittelbar nach dem Einzug in Jerusalem
laut werden. Jesus weiß deshalb, daß er den gewissen Untergang
und Tod vor sich hat. Da heißt es: „Jetzt ist meine Seele
betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?“ Aber
er antwortet selbst auf sein Fragen, seine Verzweiflung: „Nein,
darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“ Er
weiß, daß er nur einen Weg gehen kann. Dennoch spürt
er die Angst, den Aufruhr in seiner Seele.

So werden wirt alle in unserem leben Angst oder Verzweiflung spüren.
Zugleich wissen wir in unserem Herzen, daß wir uns selbst loslassen
und hingeben müssen. Man kann nicht sagen, wann und wie. Aber es
gibt immer Prozesse im Leben, wo wir etwas sterben lassen und uns dem
hingeben müssen, das weiter reicht als das Vorhandene, als das Leben,
in dem wir gerade jetzt stehen.

Und der, der in den kleinen täglichen Dingen des lebens gelernt
hat, sich selbst loszulassen und das sterben zu lassen, was sterben muß,
der kann vielleicht auch loslassen, wenn es ernst wird, der kann dem
Tod mit der Hingabe und der Kraft eines Weizenkorns entgegengehen. Vielleicht?
Ein gewisser Zusammenhang ist da zwischen Leben und Tod. Wer auf dem
Wege nicht die kleinen Stücke Tod durchlebt, gerät leicht in
Panik bei den kleinsten Schrammen. Was man nicht offenen Auges sehen
will, holt einen meistens hinterrücks ein. Aber wer vom Tod im Leben
weiß, findet am Ende leichter das Leben im Tod.

Das leben im Tod – das ist wirklich der Kern des Evangeliums. Im Tod
selbst, wenn diese Welt vergeht, das haben wir es mit dem Leben zu tun,
und kann nichts mehr fallen und vergehen. Aus dieser Hoffnung können
wir von Tag zu Tag leben. Jeden Tag, den wir aufbrauchen, lernen wir
den Tod kennen, aber wir haben das Leben vor uns, auch am allerletzten
tage.

Woher wissen wir das? Vom Weizenkorn, ja, aber zugleich ist es eine
Behauptung, die paradoxal und widersprüchlich und unbegreiflich
alle unsere Natur überschreitet. Letztlich wissen wir es nur von
Jesus, von seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung. Jesus, der
mit aller göttlichen Liebe in sich in den Tod ging, um dort das
Leben für uns zu sein. Weil er sich hingab als das Weizenkorn, können
wir damit rechnen, das Leben auf dem Felde zu finden, das seines ist.
So daß das, was in Vergänglichkeit gesät wird, in Unvergänglichkeit
aufersteht, und das, was in Schwachheit gesät ist, in Herrlichkeit
und Kraft aufersteht, und daß das eine Korn, das zugrunde geht,
vielfältig Frucht bringt.

Aber die Ernte ist und bleibt die Sache Gottes. Unsere zugleich einfache
und schwere Aufgabe ist es, das Leben des Weizenkorns zu leben. In Liebe,
Hingabe, Verletzbarkeit.Wir sollen uns ganz hingehen, zugrunde gehen
dort wo wir sind. Und uns nicht sorgen, sondern wissen, daß wir
letzlich im Reich Gottes verwurzelt sind:

Kummer verdorrt
bergender Port
bleibt des Himmelreichs blühender Hort.

Dänisch:

Sorrig sklal dø,
saligheds frø
blomstre på Himmerigs dejlige ø.

(Aus dem Lied des dänischen Barockdichters Thomas Kingo: „Sorrig
og glæde de vandre til hobe“, dt: Kummer und Freude, zusammen
sie wandern, Dän. Gesangbuch Nr. 41, V.7).


Pfarrer Erik Høegh-Andersen
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