Johannes 1,35-51

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Name, Gabe, Nutzen | 19. Sonntag nach Trinitatis/Erntedank | 22.09.2024 | Joh 1,35-51 (dänische Perikopenordnung) | Anders Kjærsig |

Bringt man keinen Nutzen, hat man keinen Namen, so heißt es in einem dänischen Sprichwort. Korrekter wäre es, wenn man die Reihenfolge umkehrte: Hat man keinen Namen, bringt man keinen Nutzen. Wenn man keinen Namen hat, ist da ja niemand, der einen ruft, und man kann nichts tun. Dann ist man ein Durchschnittsmensch, Teil einer Menge ohne selbständigen Wert.

Hat man keinen Namen, vermisst einen niemand. Wer sollte dann nach einem fragen?  Wir sehen das u.a. in Holbergs Schauspiel Jeppe på Bjerget (Jeppe auf dem Berg). Jeppe weiß etwas von Namen und dass einem etwas fehlt. Nicht zuletzt in der Szene, wo er zum Tod durch Erhängen verurteilt wird. Hier ruft er nach all den Tieren und Menschen, die etwas für sein Leben bedeutet haben. Wie ein zweiter Adam nennt er jeden einzelnen. Da sind die Söhne Hans Christoffer und Niels, die Tochter Martha und die Ehefrau Nille. Da sind der Schuster Jacob und der Hund Feierfax und die Katze Moens. Und dann ist da schließlich, nicht zu vergessen, Meister Erich, der berühmte Karbatsche.

Aber Jeppe hat auch erfahren, dass man den eigenen Namen vergisst. Das macht sich bemerkbar, als er sich plötzlich im Bett des Barons wiederfindet. Hier ist keiner mehr, der nach ihm ruft. Er kann kaum noch nach sich selbst rufen. Er ist anonym, nicht einmal Nille ruft nach ihm.

Das ist ein unheimliches Erlebnis. Man denke nur, man hat das Gefühl verloren, dass man am Leben ist als der, der man nun einmal ist. Das ist schlimmer als der Tod – was deutlich wird in Holbergs Komödie. Die Angst und die Leere, die Jeppe erlebt, als er im Bett des Barons erwacht, ist psychologisch und existenziell weit mehr schockierend als die Szene mit der Verurteilung, der Hinrichtung und dem Misthaufen zusammen.

Der Mensch wohnt in seinem Namen, der deshalb Gabe und Nutzen ist. Dieser Gedanke ist relevant für das Johannesevangelium. Hier werden verschiedene Menschen gerufen: Andreas, Simon Petrus, Philippus und Nathanael. Menschen, die im Prinzip alles mögliche anderes heißen könnten, es aber nicht tun. Jeder einzelne wird beim Namen genannt, wird aus der Menge herausgehoben und erhält im selben Augenblick eine Richtung angewiesen: Folge mir, heißt es. Oder richtiger:

Simon Petrus auch Kefas genannt – folge mir.

Philippus aus Betsaida folge mir.

Nathanael, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist – folge mir.

Erst Name, dann Richtung – ?

Nun kann man mit einem gewissen Recht fragen, ob darin eine spezielle theologische Pointe liegt, dass der Name genannt wird, ehe die Richtung angewiesen wird. Im Prinzip könnte Gott ja jedem Menschen irgendeine Richtung anweisen, ohne notwendigerweise den Namen des Betreffenden zu nennen. Er ist trotz allem Gott und kennt das Innere des Menschen besser als der Mensch sich selbst kennt und braucht deshalb nur zu befehlen.

Aber das tut er bekanntlich nicht. In der Person Jesu Christi – dem eigenen Namen Gottes – ruft er, ehe er befiehlt. Das gibt zu denken. Gott nennt uns beim Namen, ehe wir zu Nutzen sein sollen.  Oder Gott nennt uns beim Namen, einfach weil er uns braucht. Nicht weil wir ein Stück Arbeit verrichten sollen oder weil er uns auf die Probe stellen will. Er ruft einzig und allein, weil er uns liebt, weil er jeden einzelnen Menschen liebt – ganz gleich welchen Namens und welchen Nutzens.

Der dänische Dichter Michael Strunge beschreibt dieselbe grundlose Liebe auf folgende Weise in einem Gedicht aus seiner letzten Gedichtsammlung Væbnet med vinger (Bewaffnet mit Flügeln) mit einer verborgenen Beziehung zu seinem eigenen allzu kurzen Leben und zu dem Gott, der trotz Schmerz und Tod seinen Namen in seinen Armen hält:

Keine Zelle wird jemals

In irgendeiner Form

verloren gehen

aus dem Universum

ich will dich nie vergessen.

Ich liebe dich ganz bis hinein in die Knie der Sterne.

Lieben heißt auch lang zu lieben, das heißt, lieben bis an das Ende der Zeiten und in alle Ewigkeit. So stark ist nur die Liebe Gottes, nicht eine Zelle fällt zur Erde, ohne beim Namen genannt zu werden. Gott ruft, damit wir uns nicht ängstigen und einsam werden sollen und im Bett enden wie Jeppe, wo man kaum weiß, ob man lebendig oder tot ist. Er ruft uns, wenn keine anderen da sind, die rufen. Just in case, könnte man sagen. Selbst wenn Nille nicht mehr ruft, ruft Gott. Der Name, den wir in der Taufe bekamen, ist der Name, den er stets nennt, ganz gleich, ob man Peter heißt oder Paul.

Dieser Gedanke findet sich u.a. auch in einem anderen Gedicht aus der Hand Strunges mit dem Titel: „Gott weiß, wer wir sind“. Hier erlebt man die doppelte Position des modernen Menschen: Einerseits navigiert er in einer relativen und chaotischen Welt, die sich schneller verändert als die Zeit vergehen kann. Andererseits die Erfahrung der Nähe Gottes als eine Realität selbst in einer Welt, die unmittelbar weltlich erscheint und gottverlassen, eine Welt, die sinnlos erscheint und ohne Träume. Das Gedicht lautet so:

Gott weiß, wer wir sind

mit unseren Uhren

und unseren Küssen und steifen Blicken.

Wir bewegen und durch die Welt,

und alles löst sich auf.

Die Begierde will alles festhalten in Träumen,

und man sieht, dass es zerbirst

wie dünnes Glas und Knochen.

Bei Strunge ist Gott die ewige unvergängliche Instanz. Er weiß, wer wir sind – wir, die wir uns mit unserem dynamischen Tun und Lassen durch die Welt bewegen und den Bedingungen der Vergänglichkeit ausgesetzt sind. Hier, wo sich alles auflöst, drängt sich die Welt in einem solchen Maße auf, dass man sie nicht ohne Weiteres umfassen kann. Die Hauptperson des Gedichts spürt deshalb keine Versöhnung mit der Welt. Sie erscheint vielmehr fremd und ohne Zusammenhang. Nur Gott ist. Er ist der einzige, der derselbe bleibt mitten in all diesen Veränderungen.

Dies ist die Erfahrung, zu der Strunge gelangt. Trotz all der Dinge, die ihn umgeben, Uhren, Küsse und steife Blicke. Auch wenn die Illusion zerbirst wie dünnes Glas und Knochen, hält er dennoch fest an Gott, der weiß, wer er ist, und seinen Namen kennt.

Ich glaube nicht, dass zwischen dem, worüber Johannes spricht, und den Erfahrungen Strunges ein großer Abstand besteht. Gott ruft uns, damit wir nicht uns selbst überlassen sind. Er ruft uns und nennt uns beim Namen, auch wenn Schmerz und Tod nahe sind. Andreas, Simon Petrus, Philipp und Nathanael, Jeppe, Strunge, Peter und Paul, wo ihr auch seid. Gott liebt uns ja bis in die Knie der Sterne, und weiter kann man kaum gehen. Deshalb hören wir die Berufungsgeschichte. Sie erinnert uns an die Stimme Gottes, die Stimme, die wir im Gottesdienst festhalten, indem wir den Namen des Herren singen und preisen. Amen.

Pastor Anders Kjærsig

DK 5881 Skårup

Email: ankj(at)km.dk