
Johannes 15,23b-28
„Mit noch geschlossenen Augen“ | Rogate | 25. Mai 2025 | Joh 15,23b-28 (dänische Perikopenordnung) | Jan Sievert Asmussen |
Dieser Sonntag zwei Wochen vor Pfingsten trägt seit Alters her den Namen „Rogate“, will heissen: „Ihr sollt beten“. Der Name stammt aus dem Evangelium des Johannes. Wir haben es soeben gehört: „Ihr sollt in meinem Namen beten“. Im Mittelalter würde dieser Gottesdienst in eine Prozession münden, einen Gang um das Dorf herum, in den Fluren mit grünem oder welkendem Korn, zu den dürstenden oder überfluteten Feldern: Betet im Namen Jesu für die kommende Ernte! Betet aus der Unsicherheit und Abhängigkeit von Faktoren, die nicht in unserer Gewalt liegen. Deshalb dreht sich dieser Sonntag Rogate um die grundlegende Frage: Was ist ein Gebet?
Psychologen behaupten, alle Kinder entwickeln im Alter von fünf bis sechs Jahren ein Gottesverhältnis. Zu dem Zeitpunkt haben sie nämlich entdeckt, dass die Freuden des Lebens nicht nur durch die Eltern kommen, sondern aus einer viel tieferen und größeren Quelle. Und entsprechend: Das schreckliche und beängstigende im Leben ist so gewaltig, dass die Arme der Eltern zu schwach sind, um es sicher auf Abstand zu halten. Nicht nur ich habe das Leben. Das Leben hat mich – auf Gedeih und Verderb. Und gerade dort beginnt das Gebet, welches die Kinder ganz leicht formulieren können. Viele Eltern überhören es und erkennen kaum, wie gut Kleinkinder beten können. Eine Amsel ist gegen das Fenster geflogen und wird in einem Milchkarton im Garten begraben – mit einem Gebet. Das Kind baut seinen eigenen Privatraum am Bettrand, wo Stofftiere wie Schutzengel das Kind gegen die nächtliche Dunkelheit schützen – wie ein Gebet. Die spontan zugängliche Sprache des Gebets wird jedoch meistens vom Kind vergessen und schwindet wie Muskel, die nicht gebraucht werden. Das Gebet wird zur intimen Privatsache. So diskret sind die Erwachsenen um das Kind, dass es denken muss, es sei das einzig religiöse Wesen der Familie. Die Sprache stirbt ab, wenn sie nicht gebraucht wird – und die meisten von uns müssen uns mit traditionellen, vorgegebenen Gebetsformeln begnügen: „Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name“. Das eigentliche Gebet im Vaterunser ist jedoch nicht die magische vorgegebene Formel, nicht die Wortfolge an sich. „Lasst uns alle beten“, heißt es mehrmals im diesen Gottesdienst – es ist ein Appell an das ursprüngliche und direkte Gebet. Lasst uns nicht bloß rezitieren, sondern wirklich beten. Lasst uns durch die altmodische, knarrende Sprache von Veit-Dietrich aus dem 16. Jahrhunderts erahnen, was Gebet wirklich ist. Darum beten wir an diesem Sonntag.
Der Maler Paul Klee zeichnete in 1919 ein Gesicht mit fest verschlossenen Augen, die gleichsam nach innen schauen. Was er macht, ist ganz anders als unser alltägliches Streben. Wir suchen Einsicht und schauen nach vorne, halten die Augen offen und blicken ins Weite, damit wir Erfolg haben. Aber dieser Mensch hat geschlossene Augen. Der Maler Paul Klee gab seiner Zeichnung den Titel „Versunkenheit“. Wir möchten ständig etwas sagen, uns beteiligen und am Ball bleiben, Worte formulieren und alles zwischen Himmel und Erde genau benennen. Doch der Mund dieses Menschen ist auch geschlossen. Paul Klee hat ihm keine Ohren gegeben, denn für solche hat er keinen Bedarf – nicht in diesem Augenblick. Ein internationaler Forschungsbericht besagt, dass ein Lehrer selber 80% der Fragen beantwortet, die er oder sie in den Klassenraum wirft. Für Stille ist keine Zeit. Wir streben danach, anderen Leuten klarzumachen, was sie denken sollen – am liebsten das gleiche wie wir selber. Die Zeichnung Paul Klees sagt uns stattdessen, dasswir denken sollen. Und diese Denkform, die nicht nach außen gerichtet ist, sondern nach innen in die Versunkenheit – sie ist, was unter Gebet zu verstehen ist.
Dabei melden sich gleich Fragen. Wie soll es gehen? Wie mache ich weiter? Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Fragen, die scheinbar ins Leere gehen. Wir sind wie junge Vögel, die am Nest-Rand hocken, unter ihnen der Abgrund. Sie schauen misstrauisch auf ihre Flügel: Können sie zu etwas nützlich sein? Ein berühmter alter Schauspieler (Fritz Kortner) erzählt in seiner Autobiographie, dass er jeden Morgen mit diesem Gefühl aufwacht. Er liegt mit geschlossenen Augen, noch in jener Todesnähe, welche der Schlaf ist. Eine unklare Angst, ein ungewisses Gefühl, von unbekannten Drohungen umstellt zu sein. Im Rückblick kann er rekonstruieren, worin diese Drohungen bestehen: Die Angst vor dem strengen Lehrer, die Angst vor der Bühne, die Angst davor, den Text zu vergessen, die Angst vor dem anschwellenden Nazismus (er war Jude), die Angst vor dem Leben im Exil, die Angst davor, nie wieder nach Europa und nie wieder zur Muttersprache zurückkehren zu können. Die Angst vor einen ungesunden Körper, vor dem Alter, vor dem Gehörverlust und den herausfallenden Zähnen. Die Angst vor ein Leben als Witwer – und am Ende die Angst vor dem Tod. All dies meldet sich, schreibt er, jeden Morgen im Grenzland zwischen Schlaf und Wachsein. Ein Zustand mit zwei Seiten: Zum einen dem Fluchtimpuls, zum anderen das Gebet. Was kommt noch? Dieser Tagesanfang – so sieht Versunkenheit aus.
Es macht nur Sinn, so zu liegen, weil jemand dieses Gebet erhört. Die Vögelchen am Nest-Rand beten zur Kraft ihrer Flügel – und sie werden fliegen. Jesus sagt den Jüngern in seiner Abschiedsrede: „Betet, und Ihr werdet empfangen, und eure Freude wird vollkommen werden“. In der Versunkenheit sind die geschlossenen Augen kein Versuch, die Verzweiflung zu vergessen. Im Gegenteil: Irgendwann, in einen Moment wird er die Augen öffnen. „Wenn Ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s Euch geben“, sagt Jesus. Wozu hat der Versunkene seine Augen, wenn nicht um zu sehen? Wozu haben die Vögel ihre Flügel, wenn nicht zum Fliegen? Es ist uns versprochen, dass keines unserer Gebete ungehört ist bei Gott.
Dort liegt er im Bett, der alte Schauspieler, bereit, die Augen zu öffnen und die Welt zu sehen, wie sie ist. Fritz Kortner schreibt: In ein Moment meines Erwachens erkenne ich die Gegenwart meiner Frau, erinnere ich mich an die gelungenen gestrigen Minuten auf der Bühne, höre ich die Geräusche im Haus um mich. Ich denke an meine wundervollen Kinder und mein Verbunden-sein mit meiner zappelnden, kriechenden, kreischenden und rasenden Enkelin, die mir so ähnlich ist. Die Freude, noch hier in der Welt zu sein – und genau in dem Moment – die Aussicht auf Frühstück. Amen.
Dem Prediger wird empfohlen, die Zeichnung Paul Klees „Versunkenheit“ (1919) zu vervielfältigen und in der Gemeinde zu verteilen.
Pastor Jan Sievert Asmussen
DK-3520 Farum
E-mail: jsas(at)km.dk