Johannes 18,33-38

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Judika | 06.04.2025 | Predigt zu Johannes 18,33-38 | verfasst von Dr. Hansjörg Biener |

Predigttext

33 Pilatus […] ließ Jesus rufen und fragte ihn:

»Bist du der König der Juden?«

34 Jesus antwortete: »Fragst du das von dir aus

oder haben andere dir das über mich gesagt?«

35 Pilatus erwiderte: »Bin ich etwa ein Jude?

Dein Volk und die führenden Priester

haben dich zu mir gebracht. Was hast du getan?«

36 Jesus antwortete:

»Das Reich, dessen König ich bin,

stammt nicht von dieser Welt.

Wenn mein Reich von dieser Welt wäre,

hätten meine Leute für mich gekämpft.

Dann wäre ich jetzt nicht

in den Händen der jüdischen Behörden.

Aber mein Reich stammt eben nicht von dieser Welt.«

37 Pilatus fragte weiter: »Also bist du doch ein König?«

Jesus antwortete: »Du sagst es: Ich bin ein König!

Das ist der Grund, warum ich geboren wurde

und in die Welt gekommen bin:

Ich soll als Zeuge für die Wahrheit eintreten.

Jeder, der selbst von der Wahrheit ergriffen ist,

hört auf das, was ich sage.«

38 Da fragte Pilatus ihn:

»Wahrheit – was ist das?« (Joh. 18,33-37 Basis-Bibel)

Zwei Männer unterhalten sich und am Ende wird’s philosophisch. Wenn die Umstände nicht so bitter wären, – man könnte es beim Spotten belassen. Aber es ist eben kein Gespräch im Wirtshaus nach einem, zwei, drei, vielen Glas Bier. Es ist ein Gespräch zwischen zwei Männern, die Teil des christlichen Glaubensbekenntnisses geworden sind. „Und an Jesus Christus […], unsern Herrn […], gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“.

Die Geschichte ist ein erster Grund, auf den Predigttext zu hören. Er führt uns zu den Anfängen des Christentums. Der Evangelist Johannes war allerdings kein Augenzeuge. Das ist nicht völlig unwichtig. Andererseits können wir durch das Johannes-Evangelium feststellen, was und wie Johannes geglaubt hat. Da ist er dann doch näher an der Urchristenheit als jemand aus dem 20. oder 21. Jahrhundert. Doch gibt es nicht nur historische Gründe, sich mit dem Predigttext zu beschäftigen. Ich sagte schon: Zwei Männer unterhalten sich, aber sie verstehen sich nicht, und das stellt sich dauerhaft zwischen sie. Weil sich das seit Jahrhunderten in religiösen Fragen wiederholt, ist es für uns wichtig, zu fragen, warum.

Einige Fernseh-Dokus haben einen besonderen Stil: Sie verbinden in Filmchen historisch Sicheres, historisch Wahrscheinliches und kreative Ergänzungen mit Experteninterviews. Leider kann ich Ihnen keine Filmchen bieten und keine Professoren oder gar Pilatus und Jesus interviewen. Aber ich kann mich ein bisschen an den Doku-Stil anlehnen. Wenn wir den Predigttext verstehen wollen, sind wir nicht ganz verloren. Wir haben wir historisch Sicheres in Gestalt von Dokumenten, wir haben historisch Wahrscheinliches und wir brauchen Ergänzungen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen selbst verantworte.

Die Wahrheit des Pilatus: herausfinden, ob Jesus gefährlich ist

Kommen wir zunächst zu Pilatus. Was ist das für einer? Wie denkt, wie „tickt“ er? Gleich zweimal fragt er Jesus: „Bist du der König der Juden?“ (Joh. 18,33.37) Das wirft die Frage auf, warum das für ihn so wichtig ist. Und ab sofort gehe ich in den Doku-Modus über. Mein Experte ist Josephus, ein jüdischer Geschichtsschreiber aus dem ersten Jahrhundert.

Moderation: Josephus, wir freuen uns, Sie als Experten da zu haben. Sie haben zwei große Werke über die Geschichte Israels geschrieben. „Jüdische Altertümer“ und „Der jüdische Krieg“. Sie können uns gewiss erklären, warum „König“ für Pontius Pilatus so ein Reizwort ist.

Josephus: Lassen Sie mich dazu zuerst aus unserer Heiligen Schrift zitieren: Gott, „der Herr [,] herrscht über uns, der Herr gibt uns Gesetze, der Herr ist unser König. Er ist es, der uns hilft.“ Jesaja 33,22.

M: Warum ist das wichtig?

J: Weil irdische Könige für uns Juden nicht die letzte Autorität sind, sondern Gott. Im Vorwort meiner Altertümer betone ich, dass denjenigen, die Gottes Willen befolgen und seine wohlgemeinten Gesetze nicht übertreten, alles zum Besten gedeiht. Auch in Widrigkeiten. Ich selbst bin mir ein Beispiel dafür. Darum ermahne ich alle, die meine Bücher lesen, ihren Sinn auf Gott zu richten. (Altertümer, 1. Buch, Vorwort) Israel hat lange ohne Könige bestanden und tatsächlich mit eigenen und fremden Königen schlechte Erfahrungen gemacht. Das können Sie alles in der Bibel nachlesen und in meinen Altertümern auch.

M: Immerhin hat Ihnen König Herodes kurz vor der Lebenszeit Jesu in Jerusalem den schönen Tempel hingestellt. Ich zitiere mal aus dem Gedächtnis: „Wer den Tempel des Herodes nicht gesehen hat, der hat seiner Lebtage keinen schönen Bau gesehen.“ (Babylonischer Talmud, Bawa batra 4 a)

J: Ja, ich erwähne den Bau in meinen Altertümern, – und auch, dass die Leute erst einmal nicht begeistert waren. Sie hatten Angst, dass Herodes nach dem Abriss des alten Tempels keine Mittel mehr für einen Neubau haben würde. (Altertümer, 15. Buch, 11. Kapitel)

M: Das kommt bekannt vor. Auch wir kennen Bauprojekte, die ohne Ende Geld gekostet und fast kein Ende gefunden haben [z. B. in Hamburg die Elbphilharmonie]. Mancher will eine Sehenswürdigkeit bauen und baut ein Millionengrab [z. B. in Hamburg der Elbtower]. Aber das ist eine andere Geschichte. Zurück zum Thema, warum Pilatus so sehr nach dem Königtum von Jesus fragt. König Herodes war vorerst der letzte König Israels. Andererseits ist die Zeit nach Herodes Tod den Römern in schlechter Erinnerung.

J: In der Tat. Die Zeit nach dem Tod von König Herodes war eine unruhige Zeit. Da waren zunächst seine Söhne. Jedenfalls die drei, die er am Leben gelassen hat. Alle drei wollten König werden. Der römische Oberkommandeur Varus hat sie erst mal nach Rom geschickt. Kaiser Augustus sollte das entscheiden.

M: Varus ist uns ein Begriff. Das war doch der Varus, der später in Germanien mit seinen Legionen untergegangen ist!

J: Das mag sein, das hat aber mit meiner Geschichte nichts zu tun. Also: Varus hat die Söhne des Herodes nach Rom geschickt. Kaiser Augustus sollte entscheiden, wer König wird. Gleichzeitig schickte auch die Führung des jüdischen Volkes Gesandte nach Rom. Ihr Anliegen: Man will keinen der Söhne des Herodes als Herrscher, sondern jemanden aus dem Priesteradel. Am Ende bekamen alle Herodes-Söhne etwas zum Regieren, aber keiner war König.

M: Und in der königslosen Zeit herrschte Chaos.

J: In der Tat. Die Lage ist geradezu explodiert. Zumal der stellvertretende römische Statthalter Sabinus in Jerusalem schwere Fehler im Umgang mit der Bevölkerung machte. Bei einem unserer Wallfahrtsfeste kam es dann zum Aufstand. Aber auch unabhängig davon: An vielen Orten sammelten sich mehr oder weniger kampferprobte Leute unter mehr oder weniger erfahrenen Führern.

M: Und hier spielt das Wort „König“ wieder eine Rolle.

J: So ist es. In den Altertümern schreibe ich: Wo immer sich eine Schar von Aufrührern zusammentat, wählten sie Könige, die dem Staate sehr verderblich wurden. Denn während sie den Römern nur unbedeutenden Schaden zufügten, wüteten sie gegen ihre Landsleute weit und breit mit Mord und Totschlag. (Altertümer, 17. Buch, 8. Kapitel) In meinen Altertümern nenne ich namentlich einen Judas in Sepphoris, einen Simon bei Jericho, einen Athronges im Raum Jerusalem. (Altertümer, 17. Buch, 7. Kapitel)

M: Ich sehe schon. Das ist quer durchs Land. Jericho liegt am Jordan fast am Toten Meer, Jerusalem im Zentrum des ganzen Landes, Sepphoris im Norden gleich bei Nazareth. Ein selbst ernannter König könnte also von überall herkommen. Auch aus Nazareth, wie Jesus!

J: Wenn Sie meinen! Sie kennen vielleicht das Sprichwort aus meinem Volk. „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen.“ (Joh. 1,46) Aber egal. Varus brauchte ein halbes Jahr, um die Unruhen mit seinen Legionen niederzuschlagen. Als Strafe und Abschreckung wurden schließlich 2000 Juden ans Kreuz geschlagen.

M: Das erinnert mich an Jesus, egal ob seine Kreuzigung aus römischer Sicht nun Strafe oder Abschreckung war. Kommen wir zuerst zu Pontius Pilatus. Er ist römischer Militärkommandant in Jerusalem. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass die Stadt ein gefährliches Pflaster ist.

J: Ja. In meinen Altertümern nenne ich zwei Beispiele, wie er mit dem Volkszorn zusammengestoßen ist. Nr. 1: Pilatus hatte römische Feldzeichen nach Jerusalem gebracht, obwohl doch Gottes Gesetz alle Bilder verbietet. Frühere Statthalter hatten das respektiert. Nr. 2: Pilatus wollte Geld aus dem Tempelschatz für eine Wasserleitung nach Jerusalem. In beiden Fällen wütende Proteste. In Fall 1 musste er den Rückzug antreten; in Fall 2 hat er den Aufruhr niederknüppeln lassen. (Altertümer, 18. Buch, 3. Kapitel) Pilatus kann also nicht einfach machen, was er will. Er muss immer auch mit der Macht der Straße rechnen.

M: Immerhin ist Pilatus ein Überlebenskünstler. Er hält sich zehn Jahre [26–36 n. Chr.] an der Macht. Mitten in die Amtszeit fällt „die Akte Jesus“. Den hat Pilatus tatsächlich als „König der Juden“ kreuzigen lassen, und das auch zu einer Festzeit. Mutig.

J: Da kann ich nicht viel zu sagen. Die Römer waren nicht zimperlich, wenn es um den Machterhalt ging. Wenn ich überhaupt etwas einschätzen kann, dann das: Die jüdische Religion oder innere Angelegenheiten im jüdischen Volk interessierten den Statthalter nur mäßig. Wenn, dann ging es für ihn darum, wie gefährlich Jesus ist und ob er was unternehmen muss. Wenn Jesus sich als „König“ bekennt, ist die Sache klar: Rebellion, also Kreuzigung. Lokalpolitisch sieht das anders aus: Wenn Jesus schon viele Anhänger hat, ist das mit der Kreuzigung nicht so einfach. Aber Sie sagen ja: Jesus wurde gekreuzigt.

Ich bedanke mich bei Josephus und kehre aus dem Stil der Fernseh-Dokus zurück: Pontius Pilatus – der Name klingt für uns mächtiger, als der Mann war. Pontius Pilatus kommandiert die römischen Truppen in Jerusalem, ist aber nur ein Machtfaktor von mehreren. Ein weiterer Machtfaktor ist der jüdische Priesteradel, der in unserem Predigttext auch erwähnt wird. Und ein dritter sind die Leute auf der Straße, gerade wenn Jerusalem voller Menschen ist, wie damals zu einer Festzeit. Pilatus muss also einerseits vor allem auf der Hut sein und andererseits bei allem vorsichtig vorgehen. Das erklärt auch ein bisschen, dass Jesus zwischen verschiedenen Obrigkeiten hin- und hergeschickt wurde. Das ist ja sprichwörtlich geworden. „Von Pontius zu Pilatus rennen“ ist eine Redewendung für ein nutzloses Hin und Her.

Die Wahrheit Jesu: Gott leben

Pilatus wägt seine Worte ab. Aber auch Jesus muss seine Worte sorgfältig wählen. „König“ – das Wort hängt ihm der jüdische Priesteradel an, um ihn zu beseitigen. Und doch berührt es für den Evangelisten Johannes etwas vom Selbstbewusstsein Jesu und trifft etwas Richtiges. Damit möchte ich mich dem zweiten Experten zuwenden, dem Evangelisten Johannes. Ab jetzt wieder Doku-Stil:

M: Johannes, ich frage Sie als Experten für das Leben Jesu: Warum hat Pontius Pilatus Jesus nicht verstanden?

J: Zuallererst war es wohl die Frage. Pilatus wollte nur wissen: Ist Jesus harmlos? Oder ist er ein Königsanwärter, den man beseitigen muss? Für mehr hat Pilatus sich nicht interessiert. Er hat darum übersehen, wer vor ihm steht.

M: Und wer stand vor ihm?

J: Ein Zeuge für „die Wahrheit Gottes“, also Gottes Da-Sein und Gottes Wesen. In meinem Evangelium schreibe ich: Jesus „war ganz erfüllt von Gottes Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1,14).

M: Klingt das nicht etwas übertrieben?

J: Sie können es nennen, wie Sie wollen. Für uns Christen ist das eine praktische, lebensnahe Botschaft. Viele Menschen fragen: Wo ist Gott? Wir antworten: Da ist Gott! In dem, was Jesus tut. In dem, was Jesus sagt. In dem, was er ist. Ich zitiere wieder aus meinem Evangelium, wo Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Es gibt keinen anderen Weg zum Vater als mich. Wenn ihr mich erkannt habt, dann werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen“ (Joh. 14,6-7), weil Ihr eben mich seht.

M: So viele Leute haben dann aber Jesus doch nicht erkannt und schon gar nicht Gott in ihm gesehen. Ich glaube, ich zitiere Ihr Vorwort richtig: „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh. 1,11) Aber Sie haben ihn aufgenommen!?

J: Ich kann das auch nicht „erklären“. Wenn jemand etwas über Gott versteht, dann sehen wir darin Gottes eigenes Wirken. „Der Geist der Wahrheit wird euch helfen, die ganze Wahrheit zu verstehen.“ (Joh. 16,13) Andererseits: Man muss schon etwas von Gott wissen wollen. Wer nichts von Gott wissen will, der hat seine Entscheidung schon getroffen und wird von Gott nichts verstehen.

M: Das klingt aber sehr nach einem Innen und Außen. Die einen haben Jesus verstanden, also Sie. Die anderen nicht. Sie haben die Verbindung zu Gott. Die anderen nicht.

J: Wir haben immer damit gekämpft, warum die Menschen das für uns Offenbare nicht angenommen haben. Beginnend bei den Mitjuden, wo es leider bitter wurde. Das sieht man auch an manchen Stellen in meinem Evangelium. Wenn ich gewusst hätte, was echte Judenfeinde daraus machen… Vielleicht hätte ich manches auch anders geschrieben. Andererseits: Auch für uns war es nicht leicht.

M: Tatsächlich ist das einigermaßen unverständlich. Wenn Gott mit Jesus war, warum hat er ihm nicht geholfen und warum auch nicht Ihnen?

J: Wir haben es als Prüfung auf unsere Wahrheit genommen, also, wie es mit uns und unserem Glauben wirklich steht. Sie finden in meinem Evangelium ein Gebet im Geist Jesu:

„Ich bitte dich nicht, sie aus dieser Welt wegzunehmen.

Aber ich bitte dich, sie vor dem Bösen zu bewahren.

Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie auch ich nicht zu ihr gehöre.

Mach sie durch die Wahrheit zu Menschen, die heilig sind.

Dein Wort ist die Wahrheit.“ (Joh. 17,15-17)

Gott zu suchen, ihn zu lieben und seinen Wegen nachzugehen, das ist für uns wahres Leben. Gott suchen, ihn lieben, ihm wahrhaftig nachfolgen, durch Gott etwas Besonderes werden, das können wir aber nur in diesem Leben üben.

Ich bedanke mich bei Johannes und kehre aus dem Stil der Fernseh-Dokus zurück. Sie haben sicher gespürt, was man im ganzen Johannes-Evangelium spüren kann. Hier geht es nicht um „Fakten, Fakten, Fakten“, egal ob nun wirkliche oder „alternative“, wie sie einem heute oft aufgetischt werden. Johannes geht es um die Begegnung mit Jesus, an der sich etwas entscheidet. Oder in seiner Sprache: In der Begegnung mit der „Wahrheit Gottes“ entscheidet sich auch „unsere Wahrheit“, wer wir „sind“. Und so ziehe ich das Thema abschließend in die Gegenwart.

Was ist die Wahrheit, um die es geht?

Ein Politiker und ein Prediger unterhalten sich – kann da etwas herauskommen? Pilatus sucht Fakten, nach denen er entscheiden kann; Jesus sucht Gott, an dem sich „alles“ entscheidet. Der eine muss politisch Stellung und Gesicht wahren. Der andere soll Gottes Gesicht sein. Am Ende haben sie sich nicht verstanden, weil sie verschieden denken und deshalb verschiedene „Wahrheiten“ leben.

Politiker und Prediger, die sich nicht verstehen, – so fern ist uns das nicht. Politiker und Bischöfe – zum Thema Migration und Menschlichkeit beispielsweise. Die einen fragen: Was sind meine Fakten? Was ist zu tun, um meinen Wählern und Wählerinnen zu gefallen? Die anderen sagen: Es geht doch um Menschen. Was ist zu tun, um Gott und dem Gewissen zu gefallen? Aber schon stockt mir die Rede. Hier fällt das Wort „Wahrheit“ vom Himmel auf die Kirchenleitungen. Wir alle wissen, dass Bischöfe und andere Kirchenleitungen bei manchen Themen Gott sicher nicht gefallen. Wer hohe Maßstäbe ansetzt, wird mit hohen Maßstäben gemessen, wenn die Wahrheit zum Beispiel über sexuellen Missbrauch ans Licht kommt.

Aber es gibt nicht nur offizielle Prediger, sondern auch Straßenprediger – Klimakleber, Tieraktivisten und andere, die im Namen einer höheren Wahrheit mit vollem Körpereinsatz Partei ergreifen. Kein Hin-und-her-Lavieren wegen des eigenen Machterhalts oder den Interessen von Parteifreunden, Lobbyvertretern und anderen Amigos, wie man in Bayern sagen würde. Andererseits: Gibt „höhere Wahrheit höheres Recht“? Auch hier fällt die Wahrheit vom Himmel. Sie erinnern sich vielleicht an den Aufschrei, als 2023 zwei Klima-Kleber einen Gerichtstermin verpassten, weil sie in den Urlaub nach Thailand geflogen waren. Bei der Google-Nachrecherche habe ich dann sogar gefunden, dass einer einige Monate später sich in Frankfurt auf die Startbahn klebte und anderen den Start in den Urlaub vermasselte. (Google Suche: „Bali Flieger“) Vielleicht erinnern Sie sich an den Aufschrei auch in seriösen Medien. Wer hohe Maßstäbe ansetzt, wird mit hohen Maßstäben gemessen, wenn „Wahrheit“ ans Licht kommt.

Es wird Zeit für den Schlussgedanken. Ein Politiker und ein Prediger haben sich unterhalten und sind aneinander gescheitert. Pilatus fragte nach Fakten und kam deshalb mit dem mutmaßlichen König Jesus nicht weiter. Man könnte es sich leicht machen. Rausfinden, wie es ist und aburteilen, wie Pilatus, das ist halt falsche Denk(weis)e. Aber umgekehrt können auch wir erleben, was Pilatus an Jesus erlebte. Manche Ansprüche sind so massiv, dass man sich instinktiv wehren will, wehren muss. Jesus „war ganz erfüllt von Gottes Gnade und Wahrheit“, für das Johannes-Evangelium war das klar. Für viele Menschen bis hinein in die Kirchen ist das nicht so klar. Nach meiner Überzeugung hat das viel mit den Wahrheiten über uns zu tun: Wer wir „insgesamt sind“. Also auch mit den dunklen Seiten, dem Opportunismus eines Pilatus und möglicherweise auch Doppelleben-Aspekten. Das könnten bittere Wahrheiten werden, den Menschen nicht begegnen wollen. An dieser Stelle möchte ich auf Johannes zurückkommen. Bei Jesus ging es für ihn um „Gottes Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1,14). Das Wort Gnade muss man also bei aller Verkündigung mitdenken. Gott geht es nicht um kalte Wahrheiten, die Menschen die Maske vom Gesicht reißt und ihr Doppelleben gnadenlos aufdeckt. Gottes warme Wahrheit über sich und über Dich will Ansichten und Lebensweisen nicht verurteilen, sondern verändern. Im sogenannten Hohepriesterlichen Gebet bittet Jesus alle, die ihm folgen: „Mach sie durch die Wahrheit zu Menschen, die heilig sind.“

Amen.

——

Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)

Literaturhinweise

Clementz, Heinrich (Hrsg.): Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Wiesbaden: Fourier, Nachdruck, o. J., Seiten über die angegebenen Bücher und Kapitel zu finden.

Schnelle, Udo: Das Evangelium nach Johannes (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament; Band 4), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 5. Auflage (umfassende Neubearbeitung) 2016, S. 349-355 Das erste Verhör vor Pilatus 18,28-38a.

Lichtenberger, Hermann: Messianische Erwartungen und messianische Gestalten in der Zeit des Zweiten Tempels, in: Stegemann, Ekkehard (Hrsg.): Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart: Kohlhammer, 1993, S. 9-20.

Mayer, Reinhold (Hrsg.): Der Babylonische Talmud, München: Goldmann, 4. (überarbeitete) Auflage, o. J., S. 174-175 Die Schönheit des Herodianischen Tempels.